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Chronik von Barbara Geiser 22. Juni 2019

Pfad Suone Nessjeri Belalp. Geführt von Gian Rupf. Sein Gast, Michael Fehr, Schriftsteller und Musiker

Bewegte Eindrücke von der Belalp

Chronik zum Pfad von Barbara Geiser

Belalp – Suone Nessjeri – Nessel – Belalp, 22. Juni 2019

Um sieben Uhr früh in Zürich in den Zug gestiegen, kurz vor zehn von der Seilbahn fast geräuschlos auf die Belalp getragen, 2094 Meter über Meer, Gemeinde Naters, Kanton Wallis. Anstrengungsloser Weltenwechsel urban-alpin.
Belalp ist Alp im Sommer. Die Kühe tragen Glocken und manche auch Hörner. Belalp ist möbliert mit Schneekanonen und Skiliften und Intersport und Chalets, natürlich Chalets. Verspricht Fun im Winter.

Die Schar findet sich leicht. Ein grosser Mann1 mit Bart trägt einen Grammophontrichter und einen Hut. Seine Hosen werden von Stars and Stripes hochgehalten. Er wird die ungebundene Seilschaft durch die Landschaft führen, die äussere und die innere.
Erste Schritte, kaum in den Rhythmus gefunden, schon schälen sich Worte aus dem Morgenmurmeln. Aus dem Trichter trifft Roland Heer die Ohren im Halbrund. Text nicht Gipfel, le Gipfel c’est moi, der grosse Mann weist auf Welten höchstes Pünkt und gibt die Richtung vor: Dort, auf diese zwei weissen Flecken zu, dorthin soll es gehen.
Nebelschwaden verschlingen Talgrund und Hänge, Wolken haben sich über Gipfel gestülpt. Einer erzählt, dass er schon embrüf üf em Grisighoru war. Zeigt. Dort. Am Horizont weiss vor grau.
 

Die Chalets auf der Belalp heissen Heidi, Peter, Büschli, im obru Staful und AirZone. Heimat grüsst, die Mutigeren die weite Welt. Die Kühe werden mit Powerdraht von den Gärtlein ferngehalten, die Hörner, die Pflütter, die langen, rauen Zungen.
Am Horizont drei Geissen, vor uns in der Wiese ein Fels. Daneben noch ein Mann2 mit Worten. Knarrend erzählt er vom Hirten. Von einem, der nur wollte, wenn es ihm drum war, einem, der in Sauerampfer, Moder und grünschwarzen Dreck hineinschloff, schlummerte, wann es ihm passte, und doch ein guter Hirt war. Der Mann kriecht auf den Stein, windet sich um die Worte; die grossen, feinen Hände erzählen Wüstes von den Leuten im Dorf, während ein Aebi-Transporterli durch die Sätze knattert und der Nebel im Hinten unbeirrt Zeitlupenbilder zeichnet, da und dort Scherenschnitte am Schneehang freigibt.
Dann fällt der Blick auf Brillenbügel im nassen Gras, wendet sich ab, sucht das Weite, sucht die Suone am Hang, der entlanggewandert werden soll, bleibt hängen an einem riesenhaften Besen. Einem Hexenbesen, um dem Fun zu entfliehen, der Ordnung – oder der Unordnung –, dem bröckelnden Berg, der Zukunft? Um dorthin zu fliegen, wo die Berge noch so sind, wie wir sie uns erträumen?


Die Schar schreitet voran über Gras, steht bald wieder, hört weitere Worte: Ödön von Horvath, Der sichere Stand. Mann am Berg, Wagemut Übermut Hochmut Fall. Ein scharfer Stein schmunzelnd das Seil durchbiss … Der Bergstationklotz der Gondelbahn wirft ein Echo zurück.


Der Mann mit Hut und Bart führt in eine grosse Röhre, die mitten auf der Wiese liegt, sehet, sehet fern, ein Tunnel, doch ein paar Meter lang nur. Rundgebogene, zentnerschwere Wellstahlplatten, lueget, lueget nume, von Menschen zu welchem Zweck auch immer hierhergebracht – ein Ausflug ins Gebirge? –, lueget vo Bärgen und Tal, hierher auf die Belalp, 2094 Meter über Meer, Gemeinde Naters, Kanton Wallis. Sicher nicht zu Fuss, das sicher nicht.


Widerstand gegen das rutschige, gewellte Metall unter den Füssen, schnell hinaus auf die Wiese, in die Natur. Schritte über Weiden, an Alpenfrühlingskrokussen vorbei, die dort stehen, wo der Schnee gerade noch Ahnung ist. Kurzer Abstieg über Kuhtrittwiesen und an Chalets zu mieten vorbei, die Stühle daneben stehen Kopf. Zum Kirchlein ein ummauerter Hof, Jesus am Kreuz mittendrin, zwei Kühe davor.


Im Angesicht Jesu hört die Schar, wie Franz Hohler die Alpen aus Holland in die Schweiz holt. Der Glaube machte ihn möglich, den Tausch gegen das flache Land, gegen Tulpen natürlich, einzig der Glaube. Und dann, vor der Kirche auf der Alp, auf zweitausendundeinpaar Metern über Meer, sammelt ganz unvermittelt der grosse Mann die Handys der ganzen Seilschaft ein. Bittet um Stille, legt sie ans Herz. Und führt die Schar nun gänzlich unverbunden schweigend lauschend über die Weiden in die Weite. Dem Berg zu, der Suone Nessjeri, die wie mit dem Lineal gezogen den Hang durchschneidet.


Und sie schweigen alle, lauschen dem Muhen, den Klängen der Glocken, dem hellen Rauschen des Bachs, seinem Donnern tief unten in der Schlucht. Lauschen dem Gluckern der Wasserflasche im Rucksack, dem Knurren des Magens, dem Ribschen der Hightechwanderhose. Hören sich denken. Der Wanderschuh behält sein Knarzen für sich.


Dann spricht der Mann mit den langen beweglichen Händen, der mehr hört als sieht als viele. Seine Sprache bringt Stadt vor den Klang der Glocken, während die Augen wandern zu den Zacken am Horizont. Spricht auch der Mann mit Bart; lässt den Norweger Erling Kagge von seiner Suche nach der Stille reden, während rundum der Nebel Alpenbilder frisst. Dann wird es wieder still. Und die Stille schafft ein Wir. Wir füllen die Stille mit uns und uns mit ihr, während wir weglos den Hang hinauf der Suone zustreben. Der Puls drückt ans Trommelfell, der Tinnitus kommt und geht, längst Teil der Stille.


Mit wachen Sinnen, die Blicke zum Boden auf die mit Wassertropfen gefüllten Frauenmäntel und die Soldanellen, lenken wir unsere Schritte um sie und um Enziane und Stiefmütterchen herum.


An der Suone reiht sich die Schar auf, holt Atem, bricht die Stille, während das Wasser im menschengemachten Bett seinen Lauf nimmt und dahinzieht, wie wenn es um sein Ziel wüsste. Vom Fuss des Grisighorns leitet die Nessjeri Wasser zu den Weiden und Wiesen von Birgisch und Mund. Geplant und gebaut vor Jahrhunderten. Ohne Theodolite, Helikopter, Sprengstoff und Betonmischmaschinen. Ohne Dreilagengoretexregenjacken, ohne Blasenpflaster. 1477 erstmals urkundlich erwähnt, mit Sorgfalt instand gehalten Jahr für Jahr. Der Tourismus erst erweiterte den Unterhaltspfad zum Wanderweg.


Von einem Schneefeld ruft Nietzsches wandernder Zarathustra durch den Grammophontrichter sich selbst Mut zu: Und wenn dir nunmehr alle Leitern fehlen, so musst du verstehen, noch auf deinen eigenen Kopf zu steigen … Die Schar folgt ihm nicht, bleibt am Boden, sucht Tritte über den Schnee, verlässt sich auf den grossen Mann mit dem Trichter und den Lauf der Suone. Der Blick verengt sich auf den schmalen Pfad, traut sich nur kurz aus der Bahn, vom Gluckern und Schimmern angezogen nach rechts zum Wasser, dem noch immer Schnee zuläuft, nach links zu Alpenrosen, Schwefelanemonen, Seidelbast, Birkhuhnkot auch. Die Suone ist da wie die Berge, wie wenn sie schon immer da gewesen wäre, und bringt Kraft in die Weiden der tieferliegenden Hänge, wässert verlässlich die Wurzeln der Safrankrokusse, des Reichtums von Mund. Das Wasser hypnotisiert den Geist; der Körper übernimmt die Führung, bis er Nahrung braucht. Kurz vor dem nahen Wendepunkt bekommt er Brot aus Zürich, Härdopfelwurst aus Churwalden, Gruyère aus dem Emmental und Dörrfrüchte aus dem Baselbiet. Alpentransit wie seit Hunderten von Jahren. Eine Herde Mountainbiker sucht sich Wege durch die rastende Seilschaft. Wem gehören die Berge? Wem das Wasser?


In der Kapelle Maria zum Schnee reist die Schar mit Robert Walser ans Ende der Welt. Und dann zeichnen weitere Worte in den Köpfen ein Berghaus, in dem sich Schauriges abspielt, während draussen die Bäume und Berge stehen wie immer und alles still, gfürchig still ist. Unerwartet fällt ein paar Schritte weiter der Berg lotrecht ab. Und der Blick prallt erbarmungslos auf den graugestopften Talboden: Häuser Häuser Geleise Strassen Häuser Häuser Industrie. Menschengemacht. Mit Betonmischmaschinen. Doch wer die Augen aufhebt zu den Bergen, erblickt in der Ferne den Gletscher, das Wahrzeichen von UNESCOswissalpsjungfraualetsch. Noch.


Nach den Blicken auf den Alltag und die Vergänglichkeit wendet sich der Weg. Auf dem Rückweg driften die Gespräche weg aus den Bergen, ins Flachland. Das in der Stille klein gewordene Ich wird wieder gross. Der Rückweg ist auch ein Rückzug und kürzer als der Hinweg.


Noch einmal findet die Schar sich ein im ummauerten Hof des Kirchleins auf der Belalp, zweitausendundeinpaar Meter über Meer, Gemeinde Naters, Kanton Wallis. In einem Halbrund hinter dem Kreuz begegnet sie ein weiteres Mal einem Besen. Dem Besen, der Wasser bringt, Wasser, Wässer, Fluten. Ohnmächtig der Zauberlehrling ohne das Wort, den Satz, der die Welt wieder zurechtrücken könnte. Den Lauf der Dinge aufhalten. Die Fliessrichtung umdrehen. Er ruft, und ruft vergeblich. Im Muhen der Kühe antwortet nur die Stille.


Dann spricht der Mann mit den langen feinen Händen; erzählt von der Kraft der Fantasie zum Schluss, katapultiert uns zum Mond und weiter bis zum Wendepunkt. Aus dem Halbrund wird ein Kreis. Und ein letztes Mal wird es ruhig, erklingt die Stille in der nun verbundenen Seilschaft, suchen Augen Blicke. Bis das Zauberwort erklingt, die Schar sich vereinzelt und heimstrebt ins Tal.

1 Gian Rupf, Schauspieler

Michael Fehr, Schriftsteller, Musiker

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