Chronik von Mirja Lanz | Schweizer Alpen-Club SAC
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Chronik von Mirja Lanz 6. Juli 2019

Pfad Juf im Averstal. Geführt von Gian Rupf. Sein Gast, Jurczok1001, Spoken beats.

Eindrücke vom Unterwegs-sein.

Chronik von Mirja Lanz

Pfad Juf - Fuorcla de la Valletta - Uf den Flüe - Stallerberg - Juf, 6. Juli 2019


Die ersten treffen am Vorabend in Juf ein. Sie kommen von Bivio über den Berg, auf der alten Versorgungsroute aus der Zeit, bevor eine Strasse durch die Roflaschlucht führte.

Die Nacht ist klar und doch mild. Am Südhimmel leuchtet Jupiter, das Fenster steht offen und der Dorfbrunnen ploddert in die Träume der Schlafenden.

Um halb sechs erreichen die ersten Sonnenstrahlen die Osthänge des Avers. Während das Morgenlicht langsam, gemächlich die Weiden hinuntergleitet bis zum Rhein in der Talsohle, kommt der Fremdenverkehr auf Touren. Fahrt um Fahrt fädelt sich ins Nadelöhr der Schlucht.

Um zehn bündeln sich fünfundzwanzig Wege in Juf, dem höchstgelegenen Dorf in Europa, das  ganzjährig bewohnt wird. Alles klar?
Normalerwiis schtan ich z'oberscht uf dä Lischtä.
Alles klar, die Zürcher sind da. Aber heut sind alle Picknickbeutel gleich und nur dort geht's um die Kartoffelwurst.

Wir begeben uns auf eine gemeinsame Umlaufbahn. Wir bilden eine Gruppe und brechen auf. Zuerst wandern die Schrittfolgen lose durcheinander, dann einigen sie sich auf einen Pfad. Ein einzelnes Element schert aus und nimmt eine exzentrische Bahn. Der Radius ist unbekannt und auch, ob sich die Kurve wieder mit der des Kollektivs kreuzt.

Die zwei Wortführer - Gian der Spielmann und der Poet - sind ähnlich und anders, wie das weisse Tipi und die weisse Jurte, die in der grünen Wiese am Rhein zusammen zelten. Der Poet stellt sich irgendwie wieso vor, staht irgendwo zwüsched Wägrand und Wägrand, also im Wäg, redt wie im Schlaf, äläi am Schtüür und macht ois irgendwie wieso froh.

Die einen lieben die Berge, ihre Struktur, die entweder abwärts führt oder aufwärts. Alle Wendepunkte sind markant. Andere lieben die Ebene, ihre Weite, die alle Richtungen öffnet und auffächert. Das Ziel kann überall sein. Haben Menschen eine innere Topografie, in der die Sehnsucht nach einer bestimmten Landschaft wohnt?

Man sagt, der Glaube versetzt Berge, nicht Ebenen.
Ist die innere Topografie des Glaubens demnach ein Berg?

Als der Weg vom Tal abhebt, werfen wir Ballast ab: die Sprechblasen und die gewichtigen Handys. Münchhausen macht ein Selfie, wie er sein Smartphone in den Stoffbeutel wirft. Die letzten Gedanken schwatzen sich am Schweigen vorbei. Dann macht Gian der Spielmann den Sack zu. Übrig bleibt der Stift, der über das Blatt huscht und Geräusche fischt:

Das Schweigen wird beschworen im Gehen vom dumpfen Rhythmus der Schritte der Gruppe. Vom Schaben der Stoffe, vom Knarren der Leder, vom stetigen Kullern der bimmelnden Schellen der weidendenden Herden. Die Stille zittert im Gras, rüttelt im Stillstand des jagenden Falken, rast im Herzschlag der Maus in seinem Revier.

Alles steigt. Die Sonne, der Tag, die Wärme, der Weg, der Mensch, der Puls. Im inneren Gelände grasen die Gedanken ihre Lieblingsthemen ab. Die Stimme räuspert sich los, der Atem schnäuzt sich frei. Auf Zehenspitzen tappt signalrot ein Telefongespräch durch die Sendepause.

Dann liegt die Wiege des Tals unter uns. Wir stehen auf ihrem Rand, dem Pass. Fuorcla de la Valletta, Forcellina, Septimer, Julier: Um uns eine Landschaft von Pässen, über welche die Täler miteinander kommunizieren. Auf dem Schweizer Pass blickt der Poet ins Blutbild der Nation. Die Werte von Volk und Bevölkerung weichen voneinander ab. Der Pass ist ein verbindlicher Scheideweg.

Wir gehen auf vielen Füssen, nur durch winzige Schritte getrennt, in der furchigen Gesteinshaut des Bergrückens über die Flüe. Der Wind fährt durch die Lücken, die wir und unsere Gliedmaßen offen lassen. Für einen Augenblick fädelt sich der Pfad über den Horizont in die Avner Strasse weit unten im Tal ein. Ihre Bahnen sind gleich gross. Quatsch, sagt die Strasse.

Immer irgendwo im Gegenlicht geht der Poet. Das lange Haar flattert unter dem Hut im Wind. Das Wort lockt. Seine Anhängerschaft, ein Rattenschwanz, folgt ihm auf den Fersen in den Windungen des Wegs. Zuerst auf den Berg, dann über den Berg und schliesslich in den Berg, unbekümmert wie die Kinder von Hameln.

In der Finsternis der Höhle stürzen die Augen ins Leere. Der Geruchsinn tastet blind nach dem massigen Leib des Bergs. Er riecht mineralisch, metallisch und ein bisschen nach Schweiss. Oder wir. Langsam heben sich auch die Emissionen unserer Vorgänger aus dem Relief des Bodens: Plastik und Pet.

Klänge schweben in der Dunkelheit. Ein Ganzton wird sehnsüchtig von einer Terz erwartet. Seine Augen jedoch sind so schwer, dass er sie nicht sehen kann. Ihre Silhouetten bleiben im schattigen Lied gefangen. Ostinato. Dann platzt die Beatbox auf. Ein Stimmpanzer rumpelt über das Geröll. Fauchend beendet er den Höhlenzauber.

Die Blumen am Wegrand sammeln nun umso mehr Farben, Licht und Blicke. Im Vorübergehen pflücken Botanistinnen und Amateure ihre Namen und Eigenschaften aus der Wiese und teilen sie im Kollektiv. Vielleicht sitzt irgendwo das einzelne Element im Gras und betrachtet einen Käfer, der sein Gesicht hingebungsvoll in ein Kleeblatt reibt.

Mit der Schwerkraft fallen die Schritte talwärts. Der Gang hüpft und wippt und setzt das innere Mobiliar frei. Die Stimmen verflechten sich in Berufsverbänden, tragen Schulhäuser zu Tage und Kinder und die Hobbies der Kinder, Klaviere, Gitarren, ja ganze Pausenplätze gelangen über den Stallerberg nach Juf, wie früher die Lebensmittel.

Während im Schmelzbach das Wasser geradewegs ins Tal stürzt, faltet sich der Pfad genüsslich in den Hang und führt den Geist der Menschen, der durch ihre Münder sprudelt, Kehre um Kehre sich selbst vor.

Noch einmal sammeln wir uns in einem gewaltigen Heustock in Juf, um schweigend ins stille Auge des Tages zu blicken. Wir sitzen reihum wie die Wimpern, jede für sich und doch zusammen. Kurz blitzt das einzelne Element im Scheunentor auf. Dann wird es auf seiner Tangente vom Postauto fortgerissen. Gian der Spielmann ruft das Wasser:

Walle Walle auf der Strecke
Rofla-Juf im Avers wecke
Schauer nässe Glieder geh auf
Häuser Dächer Strassen nieder.

Die Front kommt plötzlich. Donner rollen. Wasservorhänge fallen, ein kilometerdicker Stoff. Regen hämmert auf den Asphalt, die Scheibenwischer wedeln. Die Strasse tanzt in weissen Wasserschössen entfesselt über dem Grund. Einen Augenblick lang ist das Tal fort.


Kursiv im Abschnitt:
04            Aufgeschnappt: anonym
06            Echo auf: Performance von Jurczok 1001, Irgendwo
08            Echo auf: Franz Hohler, Wie die Berge in die Schweiz kamen, zitiert von   Gian Rupf
12            Echo auf: Performance von Jurczok 1001, Scheinbevölkerung
13            Franz Kafka, Ausflug ins Gebirge, zitiert von Gian Rupf
14            Echo auf: Performance von Jurczok 1001, Irgendwo
16            Echo auf: Performance von Jurczok 1001 und Gian Rupf, Wohär sötti d’ Liebi näh
21            Echo auf: Johann Wolfgang von Goethe, Der Zauberlehrling, zitiert von    Gian Rupf

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