«Angeseilt gibt es fast nie tödliche Unfälle» | Schweizer Alpen-Club SAC
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«Angeseilt gibt es fast nie tödliche Unfälle» Bergnotfallstatistik 2022

Ein schneearmer Winter hat im Frühling zu prekären Verhältnissen für Skihochtouren geführt. Weil auf Skitouren oder beim Freeriden über Gletscher oft nicht angeseilt wird, enden Spaltenstürze immer wieder auch tödlich.

Noch nie hat es in den Schweizer Bergen so viele Gletscherspaltenstürze gegeben wie 2022. Insgesamt verunfallten 70 Personen bei einem Spaltensturz, 6 Personen sind dabei gestorben. Seit über zehn Jahren hat es in diesem Zusammenhang nicht mehr so viele tödliche Unfälle gegeben. Bruno Hasler, Bergführer, langjähriger Fachleiter Ausbildung beim SAC und jetzt zuständig für die Bergnotfallstatistik, erklärt, was dahintersteckt.

«Die Alpen»: Bruno Hasler, Gletscher werden im Sommer und im Winter begangen. Sind mehr Unfälle in der Sommer- oder in der Wintersaison passiert?

Bruno Hasler: Es gab 2022 mehr Gletscherspaltenunfälle im Sommer. Das hat mich eigentlich überrascht, lässt sich aber einfach erklären: Im Hochsommer sind viel mehr Bergsteigerinnen und Bergsteiger auf Gletschern unterwegs. Zudem gibt es im Sommer weniger Schnee, und zu Fuss ist die punktuelle Belastung auf den Schneebrücken grösser. Bei der Schwere der Unfälle sieht es aber anders aus: Fünf von sechs Menschen sind 2022 bei Spaltenstürzen in der Wintersaison gestorben.

Warum sind in der Wintersaison so viele Personen bei einem Spaltensturz gestorben?

Der letzte Winter war sehr schneearm. Anfang Winter sind die Verhältnisse immer heikel, weil nur wenig und schlecht verfestigter Schnee die Gletscherspalten überdeckt. Dieser Schnee bildet meist noch nicht tragfähige Schneebrücken. Von dieser Problematik sind Freerider besonders betroffen, weil sie bereits im Hochwinter unterwegs sind. Im Frühling sind die Gletscher in der Regel am besten eingeschneit, und der Schnee ist gut verfestigt. Doch im letzten Frühling war das nicht der Fall, weil es schlicht zu wenig Schnee gab, um die Gletscher mit tragfähigen Brücken zu überdecken. Vor allem in Gebieten, die vorwiegend von Süden her Schnee erhalten, zum Beispiel im Oberengadin und in den südlichen Walliser Alpen, lag sehr wenig Schnee. In den südlichen Walliser Alpen haben sich dann auch die meisten tödlichen Unfälle ereignet.

Haben die Unfälle noch weitere Gemeinsamkeiten?

Ja, es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten. Vier der sechs tödlich Verunfallten stammten aus dem Ausland. Das könnte bedeuten, dass sie über die prekären Bedingungen in den Schweizer Alpen zu wenig gut informiert waren. Ein anderer Punkt ist, dass die meisten Opfer dieser tödlichen Unfälle nicht angeseilt waren. Es gibt fast nie Tote bei Spaltenstürzen, wenn die Beteiligten angeseilt sind und sich korrekt verhalten, Verletzungen gibt es hingegen schon. Aber auch hier gibt es Ausnahmen: Bei der Abfahrt auf einer Skihochtour kann es passieren, dass eine ganze Seilschaft in einer Gletscherspalte verschwindet. Und letzten Frühling verunglückte eine Zweierseilschaft, weil die Seilpartner für die Pause auf dem Gletscher zusammengekommen waren. Die Seilschaft stürzte in eine 25 Meter tiefe Gletscherspalte. Eine Person starb bei diesem Unfall, die zweite verletzte sich schwer.

Warum sind die Skitourengeher beim Anseilen weniger diszipliniert als die Bergsteiger im Sommer?

Es ist eine Unsitte. Die Skibergsteiger steigen am Morgen am Seil auf, wenn der Schnee hart ist und es noch weniger gefährlich ist. Am Nachmittag, wenn der Schnee aufgeweicht ist, fährt jeder für sich in einer neuen Spur runter, weil man beim Skifahren Spass haben will. Bei Hochtouren hingegen gehen die Alpinistinnen und Alpinisten auf Gletschern auch im Abstieg fast immer angeseilt, weil sie das Seil nicht stark behindert. Zudem benutzen sie für den Auf- und den Abstieg die gleiche Spur.

Aber Skifahren am Seil ist schwierig.

Wenn man es richtig macht, macht es auch Spass. In der Regel fährt der schlechteste Skifahrer voraus, die anderen folgen und binden die Stöcke auf, damit sie die Hände frei haben, um das Seil halten zu können. Wenn alle gut Ski fahren können, kann man es mit Kurzschwingen probieren, ansonsten sind grosse Schwünge wie beim «Spurfahren» einfacher. Harmoniert es nicht richtig, kann man die Reihenfolge der Skifahrer ändern. Und: Man muss nicht die ganze Abfahrt angeseilt bleiben, sondern nur in den Spaltenzonen der Gletscher, auf frisch verschneiten Gletschern und im Nebel. Bei grossen Gruppen mit unterschiedlich guten Skifahrern können alternativ auch nur die besten drei Fahrerinnen angeseilt fahren, und die anderen folgen unangeseilt in der Spur. Aber gleich sicher ist das nicht: Man kann auch als 50. Person in der gleichen Spur in eine Gletscherspalte stürzen. Als Grundsatz gilt: Wer nicht angeseilt fährt, sollte immer einen Anseilgurt und eine Selbstsicherungsschlinge tragen, die oben am Rucksack befestigt ist.

Wie sieht es bei Snowboardern aus? Können sie auch angeseilt abfahren?

Ja, aber den Spaltensturz eines Seilpartners können sie unter Umständen nicht halten. Es stellt sich deshalb die Frage, ob es sinnvoll ist, mit dem Snowboard spaltenreiche Gletscher zu befahren.

Was können Skitourengeher in den Hochalpen noch tun, um sicherer unterwegs zu sein?

Vermehrt am Seil abfahren. Wegen des höheren Risikos, beim Abfahren zu stürzen, steigt zwar das Verletzungsrisiko, aber die Mortalitätsrate sinkt. Zudem muss man den Gletscher lesen können. Das heisst, man muss im Gelände erkennen, wo es Spalten haben könnte, und wissen, wo man fahren kann und wo Anseilen sinnvoll ist. Dafür gibt es beim SAC oder bei Bergsportschulen Fortbildungskurse. Und natürlich muss man sich gut über die Bedingungen informieren und zum Beispiel schneearme Gletscher meiden. Gute Hinweise findet man auf den Websites der SAC-Hütten und auf Plattformen wie gipfelbuch.ch oder camptocamp.org. Auch der SAC hat letzten Frühling auf seiner Website auf die Situation hingewiesen.

Autor / Autorin

Anita Bachmann

Empfehlungen für Gletschertouren

• Zu Fuss oder mit Schneeschuhen wird auf verschneiten Gletschern angeseilt
• Das Seil muss immer gestreckt sein
• Spalten möglichst im rechten Winkel überqueren
• Pausen in spaltenarmen Gelände machen
• Mit Ski oder Snowboard wird im Aufstieg und in der Abfahrt angeseilt:
o in spaltenreichen Zonen
o bei schlechter Sicht
o bei Neuschnee oder durchweichter Schneedecke
o bei Schlecht eingeschneitem Gletscher
• Wenn die Spaltensturzgefahr als gering beurteilt wird und mit Ski oder Snowboard nicht angeseilt wird, werden folgende Vorsichtsmassnahmen empfohlen:
o Anseilgurt tragen und Selbstsicherungsschlinge oben am Rucksack befestigen
o Entlastungsabstände von ca. fünf Metern zwischen den Personen lassen
o Bei Pausen nicht zu dicht zusammenstehen und Ski anbehalten
o Nicht beide Ski gleichzeitig ausziehen

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