Chronik von Julia Weber und Mirja Lanz | Schweizer Alpen-Club SAC
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Chronik von Julia Weber und Mirja Lanz 4. Mai 2019

Eröffnungsevent

Salon Alpin

«Vergesst die Alpen, wir haben jetzt Tunnel. Die Alpen - ein Stachel in der mobilen Gesellschaft?»

Salon Alpin moderiert von Jürg Steiner. Seine Gäste waren: Carla Jaggi, Bergführerin; Jon Pult, Präsident Alpen-Initiative, Benedikt Loderer, Stadtwanderer

Chronik zum Salon Alpin von Julia Weber

die BERGE von drei Seiten

Während draussen der Regen in Fäden fällt und ein Himmel beinahe den Boden berührt, hängt drinnen ein grosses Bild an der Wand, auf dem Bild lässt ein Bartgeier im Flug seinen Kopf in rotes Alpenlicht hängen.
Weiss auf den Bergen.
Stein vor Stein vor Stein vor Gesang aus langbartigen Gesichtern.
In den Bildern liegt die Stille die Stille die Stille der Steine.

Und  Männer, die an dicken, braunen, nach Schweiss riechenden Seilen hängen. In den Bildern der Sturz vom Matterhorn, die verkrampften Finger um Handgelenke, die verkrampften Gesichter der Bergsteiger.

Vor dem Bild sitzt die Bergführerin auf einem schwarzen Stuhl mit silbernen Beinen und spricht in Steinstücken. Ruhig und logisch.
Es verlassen sie gerade so viele Worte in Pflaumengrösse, wie sie Worte braucht, um das zu sagen, was sie sagen will, was zu sagen ist. Die Bergführerin bewegt ihre Finger nicht, sie macht bloss mit einem Fuss in einem schwarzen Schuh mit dicker Plastiksohle einen Takt.

Bergführerin: Ich verliere im Flachland schnell die Orientierung. Ich kann mich nicht gut festhalten.
Ich muss in den Bergen sein und ich will hinter jeden Berg schauen, auch wenn dahinter nur das Wallis ist.

Die Bergführerin ist verwurzelt.
Neben ihr, von einem einzelnen Lämpchen seitlich beleuchtet, sitzt der Politiker und verwirft seine Hände im schmalen Licht. Seine Frisur ist ein brauner Helm. Auf seiner grossflächigen Stirn liegt ein Glanz, darin spiegelt sich das Publikum. Eines seiner Beine liegt über das andere geworfen wie ein Schal über die Stuhllehne. Jemand reisst eine Packung Dö
rrfrüchte auf.
Der Politiker spricht nicht in die Berge hinein, nicht über die Spitzen der Berge, nicht an die Felswände, aus denen die Dohlen fliegen, er spricht zu seinem Volk. Und er spricht nicht zum ersten Mal und auch hat er das, was er sagt schon viele Male gesagt und wird dies auch noch viele weitere Male tun. Die Worte kommen sehr gerade aus seinem Mund, aber auch sind sie ein bisschen bleich.
Die Worte werden aus dem Politiker gedruckt und verteilen sich im Raum.

Politiker: Ja, ich will die Autos vor den Bergen retten, nein, ich will die Berge vor den Autos retten.
650 000 Lastwagen im Jahr sollen es sein. 926 00 sind es. Das sind zu viele Autos für die Berge.
Und im Ausland ist es noch viel schlimmer, die lieben ihre Berge nicht, die tun nichts für ihre Berge, teilweise, die lassen die Berge nicht Berge sein.

Der Publizist, der wiederum neben dem Politiker sitzt und dessen Brille eine Publizisten Brille ist, der ein bisschen aussieht wie der Cousin zweiten Grades von Peter Bichsel, der verdreht die Augen hinter der Publizisten Brille, der spitzt den Mund, der bewegt seine knorrigen Finger, die schon viel in viele Richtungen gewiesen haben, sie bewegen sich wie Äste im Wind.

Publizist: Die Schweiz ist die Berge.
Alles was unter 1000 Meter liegt wird nicht wahrgenommen.
Die Freiheit, die kam am Ende des Sommers mit den Ziegen und Kühen von den Alpen herunter und hat sich im Flachland ausgebreitet.
Die Armee ist das grösste binnenländische Tourismusunternehmen.

Moderator: Guten Abend liebe Damen und Herren, wir sind hier zusammengekommen um über die Schweizer Alpen zu sprechen. Hinter uns das Bild von Ferdinand Hodler, die Bergsteiger, die vom Matterhorn fallen. Bei mir sitzen die drei Experten ihrer Gebiete. Es wird um den Berg gehen, wie gesagt.

Der Moderator hat einen Glanz auf dem Kopf und verteilt die Sprachanteile elegant. Er legt den Finger in Richtung der Bergführerin und er sagt das Wort Bergführerin, als wäre es keine Berufsbezeichnung, vielmehr ein anderes Wort für Vision.

Moderator: Warum wollen die Menschen in die Berge gehen?

Bergführerin: Sie wollen mit mir in die Berge gehen, weil sie die Sprache der Berge nicht verstehen.

Moderator: Was passiert mit den Menschen da oben?

Bergführerin: Menschen, die sich darauf einlassen, die verändern sich. Man hat weniger Kontrolle über sich. Eine Maske fällt ab in den Bergen. Man wird so wie man ist. Und das ist manchmal unangenehm, aber manchmal auch sehr schön.

Der im Lichtstreifen sitzende Politiker vergisst sich kurz und dann fällt er sich wieder ein. Der im Lichtstreifen sitzende Politiker fährt sich durch seine neutralen Haare, die Bergführerin, die lächelt zum Publizisten, dieser  spitzt den Mund. Im Publikum isst jemand getrocknete Früchte, jemand denkt an die nachfolgende Wurst ohne Sägemehl und jemand ist eingeschlafen.

Politiker: Es ist meine Aufgabe Land und Politik, Berg und Tal zusammen zu bringen.
Das ist meine Aufgabe als Bürger und meine Aufgabe als Politiker.

Publizist: Wir sind alles Aglomeriten.
Wir sind die Kolonialisten der Berge.
Von den Bergen kommt nichts.

Politiker: Doch, der Strom zum Beispiel.

Die Bergführerin, die schweigt und in ein Licht lächelt. Sie wippt mit dem Fuss und schaut den Worten zu, die die Herren verlassen, Wort um Wort um. Wort um Wort.
Hinten auf dem Bild stürzen die Bergsteiger.
Sie krallen sich in den Fels,
Sie tragen die Seile schwer auf den Schultern.
Die Berge haben sie grau gemacht.

Bergführerin: Das ist eine materielle Sicht, die sie haben, ihr Blick. Vielleicht tragen die Menschen in den Bergen die gleichen Kleider, wie die Menschen im Flachland, aber sie tragen nicht die gleichen Wesen. In den Bergen ist man anders. Es ist ein anderes Ich.
Der Berg hat das letzte Wort.

Publizist: Alle wollen in den Bergen Heidi treffen, aber die Heidi und den Peter und den Grossvater, die gibt es in den Alpen nicht. Es gibt die Geissen vielleicht und es gibt die Hipster, die auch in den Zürcher Cafes des Kreis vier und fünf sitzen.

Bergführerin: Wir reden in den Bergen oft über den Tod, weil er zu unseren Leben gehört.
Ich glaube im Kreis fünf in Zürich tut man das nicht.

Ein Politiker, der seine Rede wiederholt, der für die Berge spricht und sie retten will, der von aussen an die Felswand schreit.
Ein Publizist, der aufgegeben hat, der die Berge vergessen will, der vielleicht nicht glaubt, dass es die Berge gibt.
Die Bergführerin, die in den Bergen lebt und aus ihnen herausspricht.
Das Publikum, das sich in der Stirn des Politikers spiegelt und das vor sich drei Welten sitzen sieht.
Ein Moderator, der die Sprachanteile sehr gut und sehr wohlwollend und vorsichtig verteilt, der die Welten nicht ineinander, aber aneinanderfügt.

 

Tavolata

Dominik Flammer inszeniert mit Lebensmittelveredler Patrick Marxer vier für den SAC kreierte Würste

Chronik zur Tavolata von Mirja Lanz

Einkehren

Nach dem Salon Alpin setzte sich Crystallization zu Tisch.
Von dieser Tavolata erzähle ich, aber meine Stimme war eine unter vielen.
Ich habe die Stimmen gesammelt, auf Stimmzetteln, weiss wie Salz.
Sie sind kursiv in diesen Bericht eingestreut,
um die Stimmung zu umzingeln und umzüngeln.

 

Aufbruch

Es war kein Aufglucksen, kein Quell, nicht der Beginn. Es war ein Sturzbach, ein Schmelzbach. Ein Bann war gebrochen oder ein Schlusswort gesprochen oder der Hunger ausgebrochen, wer weiss. Türen, Trichter, Tore gaben nach und taten, was sie konnten: Ausgang und Eingang sein, oder Übergang.


Unterer Boden

Drei Adler, glühend, schartenschlau, zogen ihre Kreise am Rand des Unteren Bodens, über dem Bildersaal. Sie spähten ins Angebot, in den Apéro, zum Zigerkäse, zum filetierten Fisch. Der Seesaibling wäre einfache Beute gewesen. So serviert es die Natur normalerweisen nicht, nicht? Da hatten die Menschen schon die Hand im Spiel.
 

Herde

Ich sah's von weitem, Käse kauend. Das Rudel graste noch zwischen Bietschhorn und Breithorn, Lyskamm und Galenstock - ein schön zusammengewürfeltes Gebirge. Sattel, Lücke, Gipfel, Pass, die Herde der Wörter gehört dir nicht, aber sie folgt deiner Zunge, wenn du sie rufst. Ich rufe sie jetzt. Talwärts. Kein Stein, nur ein Buchstabe löst sich. Aus Herde wird Herd.
 

Einkehr

Hier hat sich also die Stille gesammelt. Hier ist die Ruhe eingekehrt vor dem Sturm. Kissenwolken schweben über einer Tafellandschaft, Regen fetzt an die Scheiben. Drinnen ist das Wetter museal. Aber geht es nach der Witterung, hat die Prognose mehr Biss. Was mir auffällt: wie der Geschmacksforscher wandert. Er steckt in irgendeinem Chrachen bis zum Gaumen im Goût und ist gleichzeitig unterwegs in Bern, am Helvetiaplatz.
 

Einstimmen

Oben im Wortgeröll branden die Gespräche. Unten treffen frisch die ersten Stimmen ein, angereichert von der Diskussion. Leicht im Austausch setzen wir uns zu uns und schmecken dem Moment nach, was war, was ist. Ich war mehr im Altaigebirge unterwegs als in den Alpen. Ich freue mich auf die Fortsetzung - die Würste! Drinnen steigt, draussen fällt die Temperatur. Der Regen kristallisiert.
 

Wurst

Sie sind kleiner als die grossen, eigensinniger als die einfachen. Sie sind zu viert. Süss bis rot-würzig, echt und farbig, Ausdrücke ihrer Herkunft: Original Braunvieh mit Dörrbirnen, Zürioberland. Original Grauvieh mit Buchweizen und Blut, Vitznau. Simmentaler Edelweiss mit Mark, Simmental. Und Evolèner Rind, Domleschg. Nicht sie, wir bilden eine Einerkolonne auf dem Weg zum Trog, auf einem der Trampelpfade, die sich wie Höhenlinien im abschüssigen Hang des Hungers staffeln. Die Därme sind voll, die Mägen leer.
 

Besteck

Ich entschuldige mich jetzt. Essen und schreiben sind einnehmende Vorgänge, die das Besteck nicht teilen. Aber eine table d'hôtes und ausgesprochen weiterführende Gespräche, volle Gläser, volle Teller und zwei Storyteller, geben zu reden. Die Alp liegt nicht im Bergkäse. Der Bergkäse kommt aus dem Tal. Die Wurst hat erst seit hundert Jahren richtig Schwein. Und den Senf geben wir selber dazu, damit er tönt, aber nicht den Geschmack übertönt.
 

Kartoffelsalat mit Rüebli

Auf der Ohrenweide blühen Anekdoten, das Akkordeon und die Kanzellen. Es spielt eine Musik, die Butterblumen bringt. Ein langer Tisch und dann, wie eine Lawinenverbauung, diese Brille auf dem weissen Bart des Harmonikaspielers. So bekannt und doch so unbekannt ist die Welt voller, macht Freude. Authentische Geschichten, verbunden mit bergbegeisterten Menschen, das ist inspirierend. Der gesellige Kreis hat den Dreh raus. Kräfte tanken mit guten Leuten und Kartoffelsalat mit Rüebli: eine Entdeckung. Speziell die Würste. Und das als 99% Vegetarierin. Frech, frisch präsentiert, provokative Aussagen gehört. Nein, die Berge sind mir nicht Wurscht. Die Auseinandersetzung mit der Alpenwelt unkonventionell ausklingen lassen. Lohnenswert. Das vergesse ich nie mehr.
 

Fülle-Leere

Ich spür's aus nächster Nähe: Der Mund ist eine Öffnung, ein Trichter, ein Tor. Der Gaumen hat eine Spannweite, die vibriert. Das Gaumensegel bläht sich und rundet sich Natur pur um alle, die an diesem Tag da sind und um alle, die nicht da sind: Die Hauptstadt und die Alphütte. Die Plattform und der Heustock. Der Wirt und der Landwirt. Die Alpinistin und die Älplerin. Die Wurst und das Rind. Las Alps und die Alpen, gli Alpi, les Alpes. Die Teller werden leerer, die Mägen voller. Und über allem wölbt sich der Geschmack, und im Geschmack das Fleisch, und im Fleisch das Rind, und im Rind der Klee, und im Klee der Berg, und im Berg die Schwerkraft, die Lehne, der Stuhl. Leere - Fülle - Völle - Leere.
 

Der letzte Tisch

Erst zögerlich, dann deutlich, kam Wind auf über der Tafellandschaft. Die Luft wurde kühler, die Gespräche lichter, die Stühle leerer. Die Tür ging, der Abschied klopfte auf die Schultern. Die Tische wurden wieder bescheidener, hölzern und alltäglich. Was bleibt? Der letzte Tisch. Ein Tisch bleibt immer und treibt in die Nacht hinaus. In dieser Nacht fiel Schnee.
 

Lauf

Das letzte Gespräch sprang von Stein zu Stein. Lacher wallten auf. Die Stimmen hüpften von Satz zu Satz, von Stichwort zu Stichwort. Ich folgte unbemerkt, unsichtbar im Bannwald der Sprache, versteckt im Gestrüpp der Schrift. Es ging flussaufwärts, ich folgte den Stimmen, den schwarzen Spuren im nassen Schnee. Der Lauf des Abends wurde schmaler.
 

Auftakt
Das Rinnen, das Erinnern wurde klarer, verzweigte sich. Die Zeit alterte, die Kehlen raunten von der Dunkelheit, die Nacht wurde schwärzer. Etwas ging in mir vor. Es lag vor mir, ich sah's kommen: Gleich werden wir die Textgrenze überschritten haben und ins Weiss, in den Schneefall und die Stille hinausgetreten sein. Leermond springt zu Neumond. Auftakt.

 

Im Spiel waren:

Dominik Flammer und Patrick Marxer
für den Käse, den Fisch, die Würste und das Storytelling
Moreno Greco, für den Kartoffelsalat
Hans Hassler, Akkordeon, für die Musik
Mirja Lanz, für den Text
alle Teilnehmenden, 
für die Stimmen und
die Stimmung

 

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