© Roberto Buzzini
Ein Tal voller Nostalgie und Träume Valle Onsernone: erstes Bergsteigerdorf des Tessins
Zwei Täler, zehn Dörfer, 700 Einwohnerinnen und Einwohner, 100 Quadratkilometer Land, zumeist mit Wäldern bestanden: Das ist das Valle Onsernone, das sich 2016 zu einer Gemeinde zusammengeschlossen hat und erstes Bergsteigerdorf im Tessin ist.
Eli Mordasini will sich mit uns in Solduno treffen und erspart uns so die 20 Kilometer Serpentinenstrasse zwischen Cavigliano und Spruga, dem letzten Dorf des Onsernonetals, bevor es wegen der bizarren, durch Weiderechte festgelegten Grenzen plötzlich zu italienischem Territorium wird.
Der Möbelschreiner, Älpler und Pilzkenner Eli ist in Spruga aufgewachsen und mit den rund 100 «Cappelloni» genannten Aussteigern, die das Dorf in den 1970er-Jahren wiederbesiedelt haben, an seinen Geburtsort zurückgekehrt. Um in einem der abgelegensten Winkel der Schweiz eine Gemeinschaft aufzubauen, die mit der Natur im Einklang lebt.
Hier haben sie Häuser restauriert, Gärten angelegt, Handwerks- und Lebensmittelbetriebe aufgebaut und knapp zwei Dutzend Kinder aufgezogen. Der letzte Aufschwung in einem inzwischen wieder recht ruhigen Dorf: rund 40 Menschen leben heute noch hier. Die sich nach und nach leerenden Häuser werden umgehend von einer neuen Klientel aufgekauft: Menschen, die aus den Städten flüchten und sie als Ferienhäuser nutzen oder – dem Homeoffice sei Dank – zum Arbeiten.
Harmonie einer anderen Zeit
«Benvenuti in Onsernone.» Das erste Schild wirkt noch ein wenig verblasst, das zweite überzeugt dann doch. Sobald sich eine der seltenen Möglichkeiten bietet, schauen wir von der Strasse auf. Die prachtvoll erhaltenen Dörfer des Onsernonetals schmiegen sich malerisch an den Südhang, hoch über dem Fluss Isorno, der sich tief in das Tal eingekerbt hat.
Sie wirken wie Perlen, eingefasst vom weiten Grün der Wälder, in denen sich zur richtigen Jahreszeit Pilze und Kastanien finden lassen. Mit ihren engen Treppenwegen, ihren gepflasterten Gassen, ihren Balkons, ihren verzierten Fassaden, ihren in den Himmel ragenden Glockentürmen bewahren sie die Harmonie einer anderen Zeit.
Die Bergwände im Klettergebiet Paleria und am Pizzo della Croce wecken die Faszination der Kletterer unmittelbar nach dem Eintritt in das Tal. Sie bieten Routen unterschiedlicher Länge und Schweregrade von Plaisir bis Extrem auf äusserst kompaktem Gneis, bei denen die Reibungskletterei im Vordergrund steht. Glauco Cugini, der hier sozusagen alle Routen eröffnet hat, wollte Max Frisch eine der schönsten Routen von Paleria widmen.
Die Unwetterkatastrophe 1978 im Tessin war die Inspiration für «Der Mensch erscheint im Holozän», den berühmtesten Roman von Max Frisch aus den Jahren seines Aufenthalts in Berzona. Darin kämpft Herr Geiser mit der durch das Wasser verursachten Erosion als Metapher für die Erosion des eigenen Lebens.
Polenta mit Schnecken sowie Kutteln
Wir parken auf dem letzten freien Parkplatz am Rande von Loco. In einem Tal mit nahezu senkrechten Wänden ist die Autostrasse das einzige regelmässig flache Element. Das Postauto ist eine gute Anreisealternative, mit dem Ticino Ticket für Touristinnen und Touristen kostenlos. Am «Caffè della Posta» erwartet uns Thomas Lucas, der im Jahr 2000 mit seiner Frau aus Belgien eingewandert ist.
Im Onsernonetal sind ihre Kinder zur Welt gekommen, und er hat die Ärmel hochgekrempelt: als Koch in der Schulkantine, als Schulbusfahrer, Bierbrauer, Werbetreibender für die Farina Bona, eine einheimische Delikatesse, die inzwischen ein Slow Food Presidio ist. Heute betreibt er ein Restaurant mit lokaler Küche und zwei äusserst traditionellen Hauptgerichten: Polenta mit Schnecken sowie Kutteln.
Loco ist Standort einer historischen Mühle, in der Polentagriess gemahlen wird, während die Farina Bona aus geröstetem Mais in der Mühle von Vergeletto hergestellt wird. Dort findet sich im Parterre eine traditionelle Anlage für Vorführungen und im Keller eine moderne Maschine. «Mais bon ...», meint Thomas mit einer Handbewegung, die ungefähr Folgendes besagt: «Traditionen zu pflegen, ist gut und schön, aber irgendwann muss man auch effizient arbeiten, um wirtschaftlich zu überleben.»
Aus diesem Mehl stellt Thomas «La Bonella» her, einen Aufstrich, der der berühmten Haselnusscreme ähnelt, genauso gut schmeckt, aber aus besseren Zutaten zubereitet wird. Das Café mit Gaststube ist nüchtern und gepflegt.
Die Lampenschirm-Strohhüte und die an der Wand angebrachte Roggenähre erinnern an eine historische Besonderheit: Hier wurde der Roggen unterhalb der Reben angebaut und vor der Reife geerntet, um das Stroh für die bis nach Paris vertriebenen Hüte zu gewinnen. Jahrhundertelang war das Tal für dieses Handwerk bekannt. Heute halten es noch die vier Frauen von der Associazione Pagliarte am Leben.
Bergsteigerdorf: ein wichtiges Label
«Hier findet man Ruhe, Kühle, Schönheit und guten Schlaf. Was fehlt, ist eine ganzheitliche Vision.» Thomas bedauert, dass der Parco Nazionale del Locarnese 2018 in einer Volksabstimmung von der lokalen Bevölkerung abgelehnt wurde; er ist der Meinung, dass dieses Projekt einem Tal mit einer schwächelnden Wirtschaft und einer prächtigen Natur die nötige Publizität verschafft hätte.
Umso mehr freut es ihn, dass Onsernone in diesem Jahr das Label «Bergsteigerdorf» erhalten hat, das Orte auszeichnet, in denen man «Anregung ohne Hektik, Bewegung aus eigener Kraft, Belebtheit ohne Lärm und Nähe ohne Respektlosigkeit» finden kann.
Im Valle Vergeletto befindet sich mit dem Granitsteinbruch, dem Forstbetrieb, der vierplätzigen Seilbahn zur Alp Salèi, den drei Berghütten (Arena, Ribia und Salèi), von denen zwei keinen Hüttenwart haben, und den zwei Alpen, auf denen Käse hergestellt wird, ein Gutteil der Wirtschaftsbetriebe des Tals.
Wir gehen zur Talsohle. Der Wildbach Ribo begleitet uns und führt uns mit seinen kristallklaren Wasserbecken in Versuchung. Wir kommen am ehemaligen Albergo delle Nevi vorbei. Einst war der Bau berühmt, das Albergo ging dann in den Fünfzigerjahren aber zu. Für die Elektrifizierung des Tals wurde in den Dreissigerjahren das Kleinkraftwerk später ausgebaut, und es ist heute eine wichtige Einkommensquelle für die Gemeinde.
Viele Regeln ärgern den Senn
Sobald die Strasse nicht länger asphaltiert ist, lassen wir das Auto stehen und steigen zu Fuss vom Tannenwald zu den Weiden auf, wo wir uns mit Matteo Ambrosini treffen, einem jungen Senn aus dem Maggiatal, der die Alpe di Porcarésc mit rund 30 Kühen und immer weniger Geissen betreibt: «Die Wölfe machen es sehr schwierig, Geissen zu übersömmern. Sie werden jeden Abend ins Gehege gesperrt, was nicht ihrer Natur entspricht, da Geissen nachts weiden. Auch die Milchmengen leiden unter diesem Zustand.»
Matteo ist der Ansicht, dass der Nationalpark in einem Umfeld, in dem allzu viele Regeln von Schreibtischtätern festgelegt werden und viele das Handtuch werfen, nur zusätzliche Komplikationen bedeutet hätte. Ans Aufgeben denkt er keineswegs. «Ich wüsste nicht, was ich anderes tun sollte.» Anderes, als göttlichen Käse herzustellen.
«Von hier bis zum Monte Rosa ist das ganze Gebiet bewaldet, es ist ein eigentliches Naturschutzgebiet», sagt uns Eli, auch um klarzustellen, dass der Wolf nicht mehr loszuwerden ist. Andererseits sind Wölfe, genau wie Adler oder Luchse, ein Anzeichen dafür, dass sich die Natur ihre Räume zurückerobert. Für die Bewohnerinnen und Bewohner des Onsernonetals geht es darum, Lebensqualität, Wirtschaft und Ökologie ins Gleichgewicht zu bringen.
Die «Bergsteigerdorf»-Initiative ist ein Schritt in die richtige Richtung, ebenso die für 2025 geplanten Wanderwege: eine alpine Route auf die Gipfel und ein Weg, der die malerischen Dörfer des Tals verbindet, um das grosse Wegnetz aufzuwerten, dass von Intragna (338 m ü. M.) als Ausgangsort der historischen Via delle Vose bis auf den Pizzo di Madèi (2551 m ü. M.) reicht und durch die lokalen Waldgebiete führt. Mit dem Projekt Wildvalley.ch wurden dank der Restaurierung von drei Hostels und dem Angebot von privaten Wohnungen und Rustici attraktive Unterkunftsmöglichkeiten geschaffen. Das Tal will sich öffnen und dabei authentisch bleiben.