Heisse Fährte | Schweizer Alpen-Club SAC
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Heisse Fährte Wandern auf den Spuren der Schmuggler

Im Valle di Muggio, dem südlichsten Tal der Schweiz, stösst man auf ungewöhnliches Kulturerbe und viel Ursprünglichkeit. Unzählige Pfade verlieren sich irgendwo im Nirgendwo. Ganz im Kontrast dazu steht das dichte Wegnetz auf dem Grenzkamm.

Wir pirschen durch das Unterholz, hüpfen über Steine, waten durch den Bach. Es ist spannend, den Weg zu suchen. Eine steinerne Bogenbrücke ist völlig verwachsen. Und dann stehen wir plötzlich vor einem Zaun, vor Stacheldraht und verbogenen Eisenstangen, mitten im Bachgraben im Nirgendwo. Ein Loch lässt uns durchschlüpfen nach Italien. Wie werden sich die Schmuggler gefühlt haben?

Um dieses dereinst wohl sehr einträgliche Geschäft zu unterbinden, haben die Grenzsoldaten keine Mühe gescheut, den Stacheldrahtverschlag auch durch den dichtesten Wald, durch die unbedeutendste Talfalte, durch den engsten Graben zu legen, wie im Val della Crotta zwischen dem Tessiner Muggiotal und der lombardischen Comerseeregion. Kleine Glöckchen seien am Zaun angebracht gewesen, um den Schmugglern das Durchkommen zu erschweren und die Zollpatrouille zu warnen, erfahren wir später von Giancarlo, der hier in der Gegend wohnt.

Irgendwo bei Crotta, wo die Strasse aufhört und wir uns in den «Dschungel» aufmachen, soll versteckt im Wald noch die Caserma Rossa stehen. Dort seinen Zolldienst verrichten zu müssen, galt als Höchststrafe. Ein halbes Jahr wurden die Männer dort hingeschickt, es soll ein kaltes Loch sein. Oberhalb des Grenzzauns stossen wir auf einen Pfad, kaum sichtbar unter dem vielen Laub. Ob er zur Kaserne führt? Wir folgen einer abzweigenden Trampelspur bergwärts und gelangen zum Doss di Mort. Das silbrig glitzernde Kreuz erinnert an die Pestopfer von 1630, die in dieser abgelegenen Gebirgsrunzel entsorgt wurden.

Schneegrotten und Vogelfangtürme

Erst auf der Alpe Grosso taucht ein markierter Wanderweg auf. Vielleicht wundert man sich über das kreisrunde Gebäude neben den Stallungen. Wer hineinschaut, sieht, dass es zu drei Vierteln in den Untergrund gebaut ist und aus kunstvollen Trockenmauern ohne Mörtel besteht. In diese Schneekeller, sogenannte Nevère, schaufelten die Bergbauern einst den Frühjahrsschnee.

Gepresst und verdichtet diente der Schnee bis in den Herbst zum Kühlen der Milch. Eine geniale Lösung für Karstgebirge, in denen kühlendes Quellwasser fehlt. Vom Monte Generoso bis zum Monte Bisbino stehen über den Grenzkamm verstreut unzählige solche Schneegrotten. So wie auch die Roccoli, die Vogelfangtürme. Nirgends in der Schweiz findet sich so viel ungewöhnliches Kulturerbe wie im südlichsten Grenzland.

Hinzu kommt die Linea Cadorna, eine Verteidigungslinie, die General Cadorna zu Beginn des Ersten Weltkriegs bauen liess. Italien hatte sich für kurze Zeit neutral erklärt, verbündete sich dann aber 1915 mit den Alliierten gegen Deutschland und Österreich-Ungarn. Die Sorge um einen möglichen Einmarsch feindlicher Truppen über den Grenzkamm war so gross, dass man bis 1918 ein gigantisches Festungssystem längs der Schweizer Grenze errichtete: 72 Kilometer Schützengräben, 88 Artilleriestellungen, davon 11 unterirdisch, 296 Kilometer Fahrstrassen, 398 Fuss- und Maultierpfade und jede Menge Truppenunterkünfte, Materialdepots und Lazarette. Deshalb ist das Wegnetz auf dem Kamm so gut ausgebaut.

Erfinderischer Hüttenwart

Einige der Unterkünfte dort oben waren Militär- und Zollgebäude. So auch das Rifugio Prabello am Sasso Gordona, jenem Spitz, der wie ein Zuckerhut aus dem Grenzkamm ragt und uns auf den endlich lichten Höhen die Richtung vorgibt. Gianni Abate, der sympathische Hüttenwart, ringt mit dem Wasser. Im Karst geht es nur mit Zisterne, doch die hat gerade ein Leck, und er behilft sich so lange mit kompostierbarem Einweggeschirr.

Schneekeller war einmal. Dafür ist Gianni auf anderer Ebene erfinderisch: In der Stube hat er einen Kamin mit Wassertasche gebaut, der zugleich die Heizungskörper aktiviert. Nur 25 Meter sei die Schweiz entfernt, sagt er und deutet zum Waldrand, wo sich ein schmaler Pfad entlangfädelt. Dieser diente den Zöllnern für ihre Patrouillen. Längst lohnt sich Schmuggeln nicht mehr, und die Wege gehören den Wanderern. Giancarlo zum Beispiel, der jede freie Minute Pfade aufspürt. Warum solle er zum Wandern wegfahren, wo das Beste doch vor seiner Haustür liege, meint der Pensionär aus Bruzella. Er zeigt uns einen anderen Schmugglerpfad über die Monti Corno und erzählt, dass so manches Glöckchen vom Grenzzaun nun am Hals von Geissen bimmle.

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Sasso Gordono

Eckdaten

T3, 8–9 h, 900 Hm

Route

Bruzella (594 m)–Cròta (656 m)–Alpe Grosso (1042 m)–Alpe di Urio (1144 m)–Agriturismo Roccolo San Bernardo–Monte San Bernardo (1351 m)–Colma di Binate (1133 m)–Sasso Gordona (1410 m)–Rifugio Prabello CAI (1200 m)–Monti Corno (1120 m)–Cròta (656 m)–Bruzella (594 m)

Anreise

Mit dem Zug via Lugano nach Capolago-Riva S. Vitale und weiter mit der Zahnradbahn auf den Monte Generoso. Oder mit dem Zug via Lugano nach Mendrisio und weiter mit dem Postauto nach Bruzella.

Beste Jahreszeit

Im Frühling, ca. Ende Mai, blühen am Monte Generoso und am Sasso Gordona wilde Pfingstrosen und Narzissen.

Karten

LK 1 : 25 000, Blätter 1353 Lugano, 1373 Mendrisio, 1374 Como
LK 1 : 50 000, Blätter 286 Malcantone, 296 Chiasso, 297 Como

Literatur

Iris Kürschner, Bernd Jung, Gratwandern Südschweiz, Bergverlag Rother, 1. Auflage, Frühling 2024

Übernachtung

Ostello Scudellate, 091 684 11 36, www.ostello-scudellate.ch
Rifugio Prabello, +39 031 547 68 62, www.prabello.it
Agriturismo Roccolo San Bernardo, +39 339 315 05 61, www.roccolosanbernardo.it
Ul Furmighin, Sagno, 091 682 01 75, ul-furmighin.ch

Lebendiges Museum

Dank einem 1980 formierten Verein wurde das ganze Muggiotal zum lebendigen Ecomuseum. Das Museo etnografico della Valle di Muggio sah keinen Zweck darin, historische Gegenstände in einem Gebäude zu konservieren. Stattdessen bezog man das Kulturgut der Landschaft mit ein. Repräsentative Bauten und Produktionsstätten wurden restauriert, etwa die Mühle von Bruzella, die seit 1996 wieder den roten Tessiner Mais mahlt. Die Casa Cantoni, ein prächtiger Palazzo in Cabbio, richtete man als Informationszentrum her. Besucher können sich dort ein Bild von den Schätzen verschaffen, die es im Valle di Muggio zu entdecken gibt, wie den Graa (Dörrhäuser für Kastanien), den Nevère und den Roccoli. Jeden Nachmittag von 14 bis 17 Uhr geöffnet, ausser montags, 091 690 20 38, www.mevm.ch.
Die alte Mühle von Bruzella kann von April bis Oktober, jeden Donnerstag und am 1. und 3. Sonntag im Monat von 14 bis 16 Uhr besichtigt werden.

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