© Susann Reinhard
«Man muss sich wohlfühlen, wo man kämpft» Interview mit Schwinglegende Christian Stucki
2023 beendete Christian Stucki seine beeindruckende Karriere als Schwinger. Wir haben mit dem 39-jährigen Seeländer über die Faszination der Bergkranzfeste, seine Liebe zu Berghütten und das Risiko im Sport gesprochen.
Es regnet in Strömen. Im Lysser Quartier leuchten einzelne Fenster, so dunkel ist der Himmel an jenem Frühlingsvormittag. Hinter der Balkonscheibe eines Einfamilienhauses steht ein Mann und winkt, es ist Christian Stucki. Kurz danach erscheint er auf der Terrasse und weist den Weg zu seinem gemütlichen «Schwinger-Häuschen» im Garten. Der Raum ist geziert mit vielen Kränzen, Glocken und Danksagungen. In der Mitte steht ein langer Holztisch.
Christian Stucki, nach 31 aktiven Jahren besuchen Sie die Schwingfeste heuer erstmals als Zuschauer. Was macht das mit Ihnen?
Die Entscheidung aufzuhören ist mir nicht leichtgefallen. Das Schwingen hat einen grossen Teil meines Lebens eingenommen. Natürlich kommt etwas Wehmut auf, wenn ich meine Kollegen im Sägemehl kämpfen sehe. Aber alles hat seine Zeit. Ich geniesse das Zusammensein mit meiner Familie und meine Freizeit, in der ich nun Vergessenes und Liegengebliebenes nachholen kann.
Stimmt es, dass Sie per Zufall zum Schwingen kamen?
Ja. Bis 14 war ich Stürmer bei den Junioren des FC Diessbach. Dann hatte ich Schuhgrösse 51 und fand keine passenden Fussballschuhe mehr. So kam ich zum Hornussen und wenig später zum Schwingen.
Ihr Kollege und Schwingerkönig Joel Wicki hat einmal gesagt, dass ihm die Bergkranzfeste besonders liegen. Was ist anders, wenn man in den Bergen kämpft?
Der grosse Unterschied ist die Atmosphäre. Die Bergkulisse wirkt unterschwellig, man nimmt sie nicht bewusst wahr. Aber von Gipfeln und Hängen umgeben zu sein, hat einen Einfluss auf die Leistung und kann Kräfte freisetzen. Man muss sich wohlfühlen, wo man kämpft. Joel konnte tatsächlich viele Bergfeste für sich entscheiden. Ich auch. Aber mir lagen nicht alle Bergfeste.
Aber Sie haben zwölf Kranzfestsiege in den Bergen errungen.
Das stimmt. Aber die Platzverhältnisse waren oft sehr eng, weil sich viele Zuschauer auf relativ kleinem Raum aufhalten. Das ist einerseits ein schönes Gefühl, weil die Stimmung motiviert. Andererseits kann es mental einzwängend wirken. Mein Lieblingsbergfest war jenes am Schwarzsee, ich gewann es fünfmal. Die Platzverhältnisse dort sind auf mich zugeschnitten, und das Publikum war sowieso immer grossartig.
Gehen Sie privat in die Berge?
Als Junge habe ich die Ferien oft bei meiner Grossmutter in Understock im Berner Oberland verbracht. Sie ist jetzt 95 Jahre alt und lebt immer noch dort. Natürlich besuchen wir sie heute noch. Wir machen gern Wanderungen mit der Familie. Sie sind nicht anspruchsvoll, aber immer ein Erlebnis mit den Kindern.
Möchten Sie nicht mal einen Gipfel erklimmen? Sie lieben doch die Herausforderung.
Auf eine richtige Tour mit einem Bergführer hätte ich schon mal Lust. Aber zu einem neuen Hobby wird das Bergsteigen wohl nicht. Ich bin nicht der Typ, der die Dinge halbherzig angeht. Bergsteigen ist mir zu gefährlich. Ich habe es nicht im Blut.
Was halten Sie von Extrembergsteigern?
Mich faszinieren ihre Leistungen. Auch bewundere ich die grossen Errungenschaften am Berg generell. Aber wenn ich Bilder von Extrembergsteigern sehe, wird mir angst und bange. Die Athleten gehen ein grosses Risiko ein und stehen doch – Entschuldigung – mit einem Bein immer in der Holzkiste. Auch Spitzensportler auf dem Rasen oder im Sägemehl überschätzen sich gern und machen Fehler. Aber sie können sich die Fehler leisten, Extrembergsteiger nicht.
Würden Sie Ihren Söhnen diese Art von Bergsteigen verbieten?
So weit sind sie noch nicht. Xavier, der ältere, ist elf und ein leidenschaftlicher Fussballer beim FC Lyss. Ich sehe mir seine Spiele immer an. Der jüngere, Elia, ist acht und hat gerade mit dem Schwingen angefangen. Es war sein eigener Wunsch, wir haben ihn nicht dazu gedrängt.
Wie macht er sich?
Er steht am Anfang. Als «kleiner Stucki» wird er es etwas schwieriger haben als die anderen, dessen sind wir uns bewusst. Die Leute erwarten womöglich ausserordentliche Leistungen. Aber uns geht es in erste Linie darum, dass ihm dieser Sport Freude macht. Ob mehr daraus wird, werden wir sehen.
Sie haben alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Sogar der sogenannte Schwinger-Grand-Slam ist Ihnen gelungen. Trotzdem wurde Ihnen zuweilen Trainingsfaulheit vorgeworfen. Was ist da dran?
Manchmal bin ich etwas bequem, das stimmt. Aber wäre ich wirklich trainingsfaul, hätte ich nicht so viele Siege errungen. Ich würde mich eher als etwas chaotisch bezeichnen. Andere Profis gehen die Saison- oder Karriereplanung akribisch an, ich habe vieles aus dem Bauch heraus entschieden. Immerhin, muss man sagen, hat das am Ende nicht schlecht geklappt.
Was bedeutet Ihnen die Schweiz?
Die Freiheiten und der Wohlstand in unserem Land sind ein Geschenk. Ich geniesse das sehr. Gleichzeitig ist es meiner Frau Cecile und mir wichtig, dass wir den Werten und den Gegebenheiten Sorge tragen. Das geben wir auch unseren Kindern weiter. Es ist nicht selbstverständlich, dass es uns so gut geht.
Luxus ist auch in Bergunterkünften immer mal ein Thema. Was halten Sie von modernen SAC-Hütten?
Nicht sehr viel.
Wie meinen Sie das?
Für mich muss eine Berghütte nicht die Ansprüche eines Hotels haben. Die heutige Gesellschaft neigt dazu, immer alles auf einen Standard zu hieven, der alle Menschen anspricht und glücklich machen soll. Das sehe ich nicht ein, weil die Rechnung am Ende nicht aufgeht. In Lebensbereichen, die keinen Luxus verlangen, sollten wir ihn auch nicht initiieren. Das führt am Ende zu Verweichlichung. In einem Massenschlag zu übernachten zum Beispiel, kann ein Erlebnis sein. Und sich am Brunnen zu waschen statt zu duschen ebenso. Das Urige des Berghüttenlebens sollte nicht verloren gehen.
Übernachten Sie oft in Berghütten?
Nicht regelmässig. Aber natürlich habe ich viele Erinnerungen. Und einmal im Jahr verbringe ich mit Freunden ein Wochenende in einer Hütte auf der Rosenlaui im Berner Oberland. Diese Zusammenkunft ist immer erholsam und lustig. Es gibt viel zu tun um die Hütte, wir holzen, machen Feuer und stinken am Schluss wie geräucherte Salami … Ich mag die Berghüttenkultur sehr. Daheim schaue ich mir auch immer die Hüttengeschichten auf SRF an. Dann nehme ich mir vor, öfters eine SAC-Hütte zu besuchen.
Im Alpinismus spielt der Zusammenhalt untereinander eine wichtige Rolle. Wie ist das im Schwingen?
Schwingt man im gleichen Verein, steht man sich bei Anlässen besonders nahe. Man unterstützt sich vor und nach den Kämpfen. Das Solidarische gehört generell zum Schwingsport. Man respektiert und schätzt sich gegenseitig. Vielleicht ist der Sport auch deshalb nicht komplett dem Kommerz verfallen. Werbung ist ja im und ums Sägemehl verboten, und weder an der Kleidung noch auf Bannern erlaubt. Wir sind darauf bedacht, die alten Werte zu pflegen. Da sehe ich durchaus eine Verbindung zum Alpinismus. Es geht nicht überall bedingungslos darum, etwas zu erwirtschaften, sondern auch um jene Dinge, die uns gross gemacht haben. Und die wir lieben.
Haben Ihre Eltern Ihre Wettkämpfe besucht?
Mein Vater hat nur einen einzigen Kampf verpasst in meiner Karriere. Zu wissen, dass er da war, hat mir viel bedeutet, selbst wenn ich beim Kämpfen manchmal ein mulmiges Gefühl hatte. Er war in seinen jungen Jahren auch Schwinger und kennt sich gut aus. Aber mit den gewonnenen Kränzen und Siegen hat sich meine Nervosität dann gelegt (lacht).
Haben Sie heute noch Sehnsüchte und Träume?
Die hat doch jeder Mensch. Ich hätte zum Beispiel gern mal im Mittelalter gelebt. Als Ritter.
Für immer?
Für einen Tag. Das müsste reichen.
Sie wären vielleicht ein guter Gladiator geworden.
Hm. Ich weiss nicht. Das war doch hart in diesen Arenen, wo sie gekämpft haben bis in den Tod und am Ende auf den Kaiser angewiesen waren, ob der seinen Daumen in die Höhe reckte. Nein, ich bin definitiv kein Mensch, der gern Risiken eingeht.