Zwischen Risiko, Freude und Ansprüchen | Schweizer Alpen-Club SAC
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Zwischen Risiko, Freude und Ansprüchen Die herausfordernde Rolle der Tourenleitenden

Tourenleitende investieren viel Zeit, übernehmen viel Verantwortung und machen alles ehrenamtlich. Wir werfen einen Blick darauf, warum es für einige trotzdem etwas vom Schönsten ist. Aber auch darauf, dass immer öfter die nötigen Voraussetzungen für diese Funktion fehlen. 

Früher funktionierte es so: Der Tourenchef sagte einem Sektionsmitglied: «Du kennst das Breithorn gut. Biete doch mal eine Tour dahin an.» Man kannte sich innerhalb der Sektion, wusste, wer die Seilhandhabung beherrschte, wer über solide Lawinenkenntnisse verfügte, wer welches Gebiet gut kannte, und voilà, so fand sich der eine oder die andere an der Spitze einer Gruppe wieder. «Man ist in die Rolle des Tourenleiters reingerutscht», sagt Bruno Hasler, ehemaliger Bereichsleiter Ausbildung und Sicherheit beim SAC-Zentralverband und zuständig für die Bergnotfallstatistik. 

Ein Reglement für mehr Qualität

Die Leiterausbildung gab es zwar schon, sie war aber nicht obligatorisch, sodass es jede Sektion anders handhabte. Der Zentralvorstand und Hasler wollten dies ändern und die Aus- und Weiterbildung von Tourenleitenden als zwingende Voraussetzung für das Leiten von Sektionstouren in einem Reglement festhalten. Das Ziel war, damit einen Qualitäts- und Sicherheitsstandard zu gewährleisten. Das Reglement wurde an der AV 2006 verabschiedet und nach einer Übergangsfrist von vier Jahren 2010 definitiv eingeführt. 

Die Beliebtheit des Kurses ist unumstritten – seit Jahren nehmen die Teilnehmerzahlen zu, und die Kurse sind immer relativ schnell ausgebucht. So ist die Anzahl von 450 Teilnehmenden im Jahr 2004 auf 620 im Jahr 2022 stetig gestiegen.  

Tourenleitende investieren viel 

Was motiviert einen Tourenleiter, viel Verantwortung auf sich zu nehmen und viel Freizeit zu investieren, ohne dafür entlöhnt zu werden? Thomas Jaggy hat 2017 die Ausbildung zum Tourenleiter bei der Sektion Bern gemacht. In die Berge geht der 40-Jährige schon seit Kindheitstagen. Er konnte immer viel vom Wissen und von der Erfahrung anderer profitieren. Seine Motivation zum Tourenleiten beschreibt er so: «So kann ich meine Begeisterung für den Bergsport mit anderen teilen und etwas weitergeben.» 

Dass es so erfahrene Alpinisten sind, die sich zum Tourenleiter ausbilden lassen wollen, ist allerdings nicht selbstverständlich. Denn es gibt immer mehr Teilnehmende, die die Minimalanforderungen nicht erfüllen und sich mit der Haltung anmelden, dass sie im Tourenleiterkurs erst ausgebildet werden. Das stellt auch Christian Andermatt, Fachleiter Ausbildung Winter beim Zentralverband, in seinen Ausbildungskursen fest. «Einige haben nicht verstanden, dass sie schon viel Wissen und Können mitbringen müssen.»  

Eine bestandene Tourenleiterausbildung bedeutet nicht automatisch, dass man jede beliebige Tour anbieten darf. Das entscheidet der Tourenchef oder die Tourenchefin. Wichtige Kriterien sind gute Sozialkompetenz und eine realistische Selbsteinschätzung. «Lieber jemand, der einfache Wanderungen anbietet und das gut macht, als jemand, der sich selbst überschätzt», sagt etwa Monika Balmer, Tourenchefin der Sektion Interlaken. «Denn der beste Bergsteiger ist nicht automatisch der beste Tourenleiter.»

Zweierführung als Erfolg

Um die Qualität der Tourenleitenden hochzuhalten, setzt die Sektion Monte Rosa seit vielen Jahren auf das «Göttisystem»: Neue Tourenleitende werden mindestens eine Saison lang mit erfahrenen Tourenleitenden und Bergführern auf möglichst viele Touren als Co-Leiter oder Seilführerin mitgeschickt. «Mit dem gewonnenen Vertrauen bleiben sie den Sektionen länger als Tourenleitende erhalten», ist Philippe Chanton, Tourenchef bei Monte Rosa, überzeugt.

Ein Punkt, mit dem viele Sektionen kämpfen, denn obwohl die Ausbildungskurse beliebt sind, hören viele Tourenleitende nach einigen Jahren wieder auf zu leiten oder fangen gar nicht erst damit an. Das «Göttisystem» findet Hasler äusserst sinnvoll. Auch das System der «Adjoints», der Hilfsleitenden, sei gut. Dabei muss ein Tourenleiter immer noch einen Hilfsleiter mitnehmen. So können schwierige Entscheidungen mit einer zweiten Person besprochen werden, was sehr wertvoll ist. 

Eigenverantwortung und Fremdverschulden

Einer der Gründe, warum manche Sektionen Mühe haben, Tourenleitende zu verpflichten, ist auch in der gesellschaftlichen Entwicklung zu suchen; weg von der Eigenverantwortung hin zum Fremdverschulden. «Die Haltung von vielen ist: Ich will alles machen, aber wenn etwas passiert, soll jemand anders schuld sein», sagt Hasler. Versicherungen und Angehörige klagen schneller als früher. Wenn sich diese Situation noch weiter zuspitze, werde es immer schwieriger, Tourenleitende zu finden, befürchtet er.

Ins gleiche Horn bläst auch Chanton: «Wir haben viele gute Leute bei uns, die sich wegen der rechtlichen Folgen eines Unfalls nicht als Tourenleitende engagieren lassen wollen.» Er sieht allerdings einen Unterschied zwischen den städtischen und den ländlichen Sektionen. Gerade in kleineren Sektionen seien die meisten Sektionsmitglieder in der JO aufgewachsen. «Die verstehen, was es bedeutet, ‹z Bärg zgah›.» Da stelle sich die Schuldfrage nicht so schnell. 

Damit eine Sektionstour für alle zu einem tollen Erlebnis wird, ist es wichtig, dass die Tourenleitenden die Fähigkeiten und die Erfahrung der Teilnehmenden einschätzen können. Aber auch, dass die Teilnehmenden wissen, was sie von den Tourenleitenden erwarten dürfen. Tourenchefin Balmer weiss, dass dies nicht immer der Fall ist. Vor allem neue Mitglieder hätten manchmal grosse Ansprüche und würden von einem Tourenleiter dasselbe erwarten wie von einer Bergführerin, nur gratis. «Wir sind keine billige Bergsportschule», macht Balmer klar. Wer schwierigere Touren machen will, soll einen Bergführer bezahlen.» 

Der schönste Lohn: die strahlenden Augen der Teilnehmenden

Es gibt Tourenleitende, für die ist das Tourenwesen ein grosser Bestandteil des Lebens. Eine davon ist Barbara Zenklusen. Sie hat über 20 Jahre Touren für den SAC Rätia geleitet. «Es war für mich etwas vom Schönsten. Viele tolle Freundschaften sind entstanden, die weit über das Tourenwesen hinaus bestehen.» Ihre Funktion als Tourenleiterin hat die 64-Jährige kürzlich abgegeben. Das hänge vor allem damit zusammen, dass sie weniger körperliche Reserven habe und sich weniger zutraue. «Als ich merkte, dass ich für diejenigen, die hinter mir herkamen, nicht mehr die Verantwortung tragen konnte, da war der Zeitpunkt da aufzuhören.»

Diese Verantwortung nimmt auch Thomas Jaggy sehr ernst. Er bietet 20 bis 30 Tourentage pro Jahr an, obwohl in seiner Sektion nur drei «verlangt» werden. «Ich will fit bleiben in dieser Rolle und sicher sein in dem, was ich tue», erklärt er sein riesiges Engagement. «Und ausserdem gibt es nichts Schöneres als die strahlenden Augen der Teilnehmenden nach einer Tour.»

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