10 Jahre Erfahrung mit dem Lawinen-Airbag.
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10 Jahre Erfahrung mit dem Lawinen-Airbag. Eine Zwischenbilanz

Seit über zehn Jahren ist der Lawinen-Airbag im Handel - Zeit für eine Zwischenbilanz zur Frage: Bringt der Lawinen-Airbag überhaupt einen zusätzlichen Gewinn an Sicherheit? Auf Grund von Versuchsergebnissen, der Statistik von Unfalldaten und theoretischen Überlegungen ist der Schluss zu ziehen, dass diese Frage positiv beantwortet werden kann.

Der Lawinen-Airbag oder Lawinenballon ist als «ABS-System» (avalanche airbag system) im Handel. Dieses System besteht aus einem Tourenrucksack, in dessen Seitentaschen zwei Ballons mit je 75 I Volumen integriert sind. Gerät man in eine Lawine, so zieht man an einem Auslösegriff, der mittels einer kleinen Sprengladung eine Druckluftpatrone öffnet. Die Ballons werden dann innerhalb von 1 bis 2 Sekunden mit dem aus der Patrone ausströmenden Gas sowie mit Umgebungsluft gefüllt, die auf Grund des sog. Venturi-Effekts durch ein Ventilsystem mitgerissen wird. Es existiert auch eine ältere Variante des Systems mit einem einzelnen Ballon von 150 I Volumen. Hier erfolgt die Auslösung der Druckluftpatrone mechanisch über eine Reissleine.

Eine Erklärung für die Wirksamkeit des ABS-Systems erhält man, indem man die fliessende Lawine als strömendes granuläres Medium interpretiert, das aus unterschiedlich grossen diskreten Partikeln besteht, in diesem Fall aus Schneeblöcken,brocken und -krümeln. Unter Schwer-krafteinfluss strömende granulare Medien neigen dazu, sich derart zu entmischen, dass grössere Partikel eher an der Oberfläche, kleinere eher in den unteren Schichten der Granulatströmung zu finden sind. Diesen Sortierungseffekt nennt man «inverse Segregation».

Der Effekt der inversen Segregation ist weit verbreitet. So kann man ihn z.B. an den Ablagerungen von Bergrutschen und Murgängen beobachten, wo man die grössten Gesteinsbrocken an der Oberfläche findet.

Der Lawinenballon macht den Skifahrer, der an sich schon ein relativ grosses Partikel innerhalb des Lawi-nengranulats ist, zu einem noch grösseren Brocken, der besser vom Sortierungseffekt profitieren kann, wie es in Fig. 2 schematisch skizziert ist.

In Computersimulationen wurde der Effekt der inversen Segregation an einer aus verschieden grossen Kugeln bestehenden Modellströmung untersucht. Eine Beschreibung dieser numerischen Arbeiten findet sich in Kern et al. (1999) und Vulliet et al. (2000). Es zeigte sich, dass der Effekt der inversen Segregation neben dem Grössenverhältnis von grossen und kleinen Partikeln empfindlich von den Materialeigenschaften der einzelnen Partikel abhängt, aus denen die Granulatströmung besteht. Ein Ergebnis zeigt beispielsweise, dass eine Verringerung der Oberflächenrauigkeit der Kugeln das Segregationsverhalten in der Strömung begünstigt.

Obwohl das Computermodell eine starke Abstraktion des realen Schnee-lawinen-Skifahrer-Systems ist, vermag es den grundlegenden Mechanismus, der der Wirksamkeit des Lawinen-Air-bags zu Grunde liegt, wiederzugeben.

Zwischen Februar 1991 und Februar 2000 sind weltweit 26 Lawinenunfälle dokumentiert worden, an denen 40 mit dem ABS-System ausgerüstete Personen beteiligt waren. Von diesen 40 Personen waren 32 mit aufgeblähten Ballons in der Lawine. 6 Personen haben die Reissleine nicht gezogen und so den Auslösemechanismus nicht in Gang gesetzt, bei 2 Personen waren wahrscheinlich technische Probleme für das Nichtaufblähen der Ballons verantwortlich.

Von den 32 Personen mit aufgeblähten Ballons waren 16 Personen nicht verschüttet, 11 Personen teilverschüttet und 5 Personen ganz verschüttet. Bei 4 der 5 ganz verschütteten Personen waren die Ballons an der Oberfläche der Lawine sichtbar geblieben. Dadurch war eine schnelle Ortung und Bergung durch nicht mitgerissene Kameraden möglich. Diese 4 Personen haben die Ganzverschüttung überlebt.

Bei einem Lawinenunfall im Februar 2000 im Südtirol wurden 5 Personen von einer Lawine mitgerissen und verschüttet, wobei eine Person mit dem ABS-System ausgerüstet war und mit aufgeblähten Ballons ganz verschüttet wurde. Diese 5 Personen hatten sich im Aufstieg ungefähr in der Mitte eines Hanges befunden, als eine Lawine zuoberst am Hang anriss und die aufsteigende Gruppe zum flachen, leicht muldenförmigen Hangfuss mitriss. Alle Personen wurden dort zwischen 170 cm und 300 cm tief verschüttet und konnten mit Hilfe von LVS-Geräten geortet werden. 4 Personen konnten nur noch tot geborgen werden, eine Person überlebte die Verschüttung.

Unter den 4 Lawinentoten befand sich auch die mit ABS ausgerüstete Person. Wahrscheinlich war sie im flachen Bereich des Hangfusses, bedingt durch die Ankerwirkung des Körpers und der Ski, an der Lawinenoberfläche liegen geblieben. Der nach-fliessende Schnee aus dem oberen Hangbereich hatte die Person trotz aufgeblähten Ballons 170 cm tief verschüttet. Das zeigt ein Problem des Lawinenballons, das bereits in den Versuchen von 1995 erkannt und in verschiedenen Publikationen des SLF erwähnt wurde: Der Lawinenballon funktioniert nur so lange, als die betreffende Person mit der fliessenden Lawine mitgerissen wird. Bleibt man irgendwo hängen, nützen die Ballons nicht mehr viel. Eine Verbesserung der Überlebenschance von ganz verschütteten Personen mit aufgeblähten Ballons könnte erreicht werden, wenn sich die Ballons dank eines eingebauten Mechanismus nach etwa 03 Minuten schnell und vollständig entleeren würden.

Von allen bewährten technischen Hilfsmitteln bietet der Lawinen-Air-bag derzeit die grössten Möglichkeiten, einen Lawinenunfall zu überleben. Trotz dieser positiven Entwicklung darf aber ein Lawinenunfall schon wegen des hohen Verletzungs-risikos niemals bewusst in Kauf genommen werden.

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