125 Jahre SAC — 125 Jahre Mensch und Berg
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Jahre SAC-125 Jahre Mensch und Berg
Georges Grosjean, Kirchlindach
Schriftliche Fassung der frei gehaltenen Festansprache anlässlich des Zentralfestes in St. Gallen am 30. Oktober 1988 Mensch und Berg:
Auf Skitour am Bös Fulen Wenn wir das Thema der heutigen Festansprache formuliert haben ( 125 Jahre SAC - 125 Jahre Mensch und Berg>, dann meinen wir nicht, dass der Mensch erst vor 125 Jahren angefangen habe, sich mit den Bergen auseinanderzusetzen. Wir meinen aber, dass mit der Gründung des SAC diese Auseinandersetzung gewissermassen institutionalisiert worden ist. Es gab nun eine Organisation, welche sich dieser Auseinandersetzung systematisch annahm, sie förderte und deren Ergebnisse für die Zeitgenossen und die Nachwelt festhielt. Es ist aber nicht die Absicht, die Ereignisge-schichte des schweizerischen Bergsteigens in diesen 125 Jahren nachzuzeichnen. Wir wollen vielmehr die Motive, die Beweggründe des Bergsteigens ausleuchten.
Die Motive des Bergsteigens Die Beweggründe des Bergsteigens lagen zu allen Zeiten auf verschiedenen Ebenen, die sich in ihrer Lage und Bedeutung gegeneinander verschoben, aber an bestimmten Schnittlinien durchdrangen. An diesen Schnittlinien ist der Ort des SAC.
Wenn wir nun diese Motivebenen einzeln herauslösen und abtasten wollen, so sei von dem Grundsatz ausgegangen, dass jedes Zeitalter mit seinen eigenen Massstäben gemessen werden soll. Es gilt zwar heute in den Medien und bisweilen auch in der Geschichtswissenschaft als besonders scharfsinnig, die Vergangenheit an heutigen Modellvorstellungen und Kenntnissen zu messen und sich dann urteilend und verurteilend auf den gläsernen Richterstuhl der Vergangenheitsbewältigung zu setzen. Doch dieser Richterstuhl wird vor der Nachwelt brüchig sein.
Die Motive des Bergsteigens lassen sich in zwei Hauptgruppen teilen: Bergsteigen als Mittel zum Zweck und Bergsteigen als Selbstzweck.
Bergsteigen als Mittel zum Zweck Bergsteigen als Mittel zum Zweck ist wohl fast so alt wie die Menschheit selbst. Schon der Mensch der Altsteinzeit mochte von seiner Höhle hoch über den Gletschern in Verfolgung seines Jagdwildes Felswände emporgeklettert sein. Im Mittelalter wurden vergletscherte Pässe auch zur Winterszeit von Saumkolonnen und Pilgerzügen begangen, und Gemsjäger und Strahler hatten eine bedeutende Bergerfahrung und auch eine gewisse Bergausrüstung, lange bevor Wissenschafter und Alpinisten sie als Führer und Träger in Dienst nahmen.
Als der SAC gegründet wurde, wäre zweckfreies Bergsteigen in der Schweiz nicht verstanden, als Müssiggang abqualifiziert worden. So fand man denn in einem Jahrhundert, in welchem der Wille zur Erkenntnis der Welt mächtig aufbrach, die Berechtigung des Bergsteigens neben der Malerei in der topographischen und wissenschaftlichen Erforschung der Alpen. Dabei spielten zweckfreie Motive, wie Schönheitserlebnis und Tatendrang, selbstverständlich auch mit.
Man hat vom SAC gesagt, er sei in seinen frühen Jahrzehnten elitär gewesen. Das bedarf des nähern Zusehens.
Zum ersten ist es gewiss so, dass Bergsteigen teuer war, insbesondere wegen der hohen Führerkosten, und sich folglich nicht als Volkssport eignete wie zum Beispiel Turnen. Aber der SAC war trotzdem nicht elitär. Elitär ist ein Verein erst dann, wenn er elitär sein will, nicht aber dann, wenn er aus äusseren Gründen zunächst nur einen kleineren Kreis von Mitgliedern erfassen kann. Der britische Alpine-Club wollte elitär sein und verlangte als Bedingung zum Beitritt einen anspruchsvollen alpinen Befähigungsausweis.
Der SAC hat das Problem in der Gründungsversammlung eingehend diskutiert und beschlossen, dass der Verein nicht ein enger Verein von Bergsteigern sein solle, sondern jedem Bergfreund offen, der mit den Bestrebungen der Gesellschaft sympathisiere. Diese offene und weitherzige Haltung war ja gerade der Grund für das starke Wachstum der Mitgliederzahlen. Es bedurfte dazu nicht eines grundsätzlichen Kurswechsels. Auch die heutigen Zentralstatuten bezeichnen den SAC als eine Vereinigung von Freunden der Alpenwelt.
Anderseits ist aber der SAC, trotz seiner heute grossen Mitgliederzahl und trotz der Klagen über überfüllte Clubhütten, kein Mas- Photo Heinz ZumbCmi senverein: Er veranstaltet keine Massenan-lässe - etwa
Gesellschaftliche Ausweitung Zum zweiten muss erwähnt werden, dass es bereits sehr früh Ansätze gab, das Bergsteigen breiteren Kreisen zugänglich zu machen. So hat etwa Paul Montandon, einer der Pioniere des führerlosen Bergsteigens, in seinen 17 sorgfältig geführten Bänden von Fahrten-büchern unmissverständliche, ja ergreifende Zeugnisse hinterlassen, zum Beispiel jene Schilderung der ersten kühnen Jugendfahrt auf den Eiger am 17./18. August 1878, mit Anmarsch zu Fuss von Interlaken an - mit drei Kameraden, von denen der älteste 23, der jüngste 16 Jahre zählte, Montandon noch nicht 20. Wenn auch Paul Montandon und sein Bruder Charles später gut gestellt waren, so sind sie doch zeitlebens ihrer mehr als bescheidenen Herkunft eingedenk geblieben.
Es muss aber auch angedeutet werden, dass das führerlose Bergsteigen zwar sozial war für die, welche es praktizierten, nicht aber für die Bergbevölkerung, die auf den Zusatz-verdienst als Bergführer sehr angewiesen war. Denn die Zeit der grossen Entfaltung des Bergsteigens war die Zeit des weltwirtschaft-lich bedingten Zusammenbruchs der Berglandwirtschaft und der Massenauswanderung der Bergbevölkerung nach Übersee, wo viele Auswanderer zugrunde gingen.
Grösse und Grenzen des wissenschaftlichen Milizsystems Das angeblich elitäre Grossbürgertum hatte also - dies zum dritten - auch seine positiven Seiten, in diesem Fall auch in sozialer Hinsicht. Es hat als tragende Schicht des jungen Bundesstaates und der Kantone aus eigener Initiative und aus eigenen Mitteln eine Vielzahl von Aufgaben erfüllt, die wir seither dem Staat Überbunden haben, darunter auch weitgehend die Erforschung und Erschliessung der Alpen. Man halte sich vor Augen, dass damals die Gehälter der Hochschulprofessoren, samt dem Kollegiengeld der Studenten, sehr bescheiden waren und dass es keine For-schungs- und Dienstreisekredite gab, oft nicht einmal Mittel zur Beschaffung der nötigsten Geräte und Apparate. Was die Professoren etwa in Geologie, Geographie, Klima- und Gletscherkunde, Botanik oder Zoologie über die Alpen vom Katheder dozierten, mussten sie sich auf ihren ausgedehnten, oft auch beschwerlichen Alpenreisen durch Beobachtung aneignen oder den Berichten ihrer Kollegen entnehmen. Der SAC gab ihnen dazu die Infrastruktur seiner Clubhütten, die Publikations-plattform des Jahrbuchs und die Kompetenz, den Behörden mit Anregungen entgegenzutreten.
Das wissenschaftliche Milizsystem ist neben dem politischen und dem militärischen Milizsystem immer noch eine Erscheinung, um welche man die Schweiz beneidet. Immer noch werden Tausende von Arbeitsstunden in den wissenschaftlichen Gesellschaften und auch im SAC ehrenamtlich geleistet.
Es ist freilich nicht zu verkennen, dass das Milizsystem auf allen Gebieten an seine Grenzen stösst. Der Ruf nach stärkerer Professionalisierung ist unüberhörbar. Man hat das Bild des modernen Hochgebirgsforschers vor Augen, der im Atelier Luft- und Satellitenbilder auswertet, mit Antennen das Weltall ausmisst oder der mit dem Helikopter auf einem Gletscher oder Gipfel landet, zahlreiche Messinstrumente auslädt und installiert und dann wieder in sein Forschungszentrum zurück-fliegt, wo der Computer bereits die von den Messstationen übermittelten Daten auswertet...
Das ist spektakuläre Forschung für die Medien. Daneben gibt es den wissenschaftlichen Alltag, wo nicht überall diese Mittel zur Verfügung stehen, am wenigsten dort, wo es am nötigsten wäre. Immer noch muss Feldforschung in schwierigen Verhältnissen ehrenamtlich geleistet werden, immer noch ist dies auch eine schöne Aufgabe, immer noch ist Nachfrage nach alpinbegeisterten und alpin-tüchtigen jungen Wissenschaftern.
Würde sich der SAC aus der Wissenschaft zurückziehen, würde er ein grosses Erbe verleugnen und viel von seinem Charakter und seiner Daseinsberechtigung verlieren. Noch gibt es Lücken, wo der SAC, auch über seine anerkennenswerte publizistische Handreichung hinaus, tätig und anregend eingreifen könnte. Im Sinne der Ausweitung des Auftrags haben die Zentralstatuten seit 1955 auch Studien und Forschungen im Ausland ins Auge gefasst. Es ist dies nicht populär geworden. Es will mir scheinen, dass wir hier gegenüber der Gründergeneration etwas selbstgenügsam geworden sind. Etwa bei den sich heute weltweit abzeichnenden Klimaveränderungen gehen uns die Hochgebirge Amerikas Im Aufstieg zur Dufourspitze oder Zentralasiens wissenschaftlich ebensosehr etwas an wie unsere eigenen Alpen. Die fernen Gebirge dürfen nicht nur Ziele erlebnisreicher alpinistischer Ferienreisen sein: Sie sind vielleicht auch Träger beunruhigender Informationen.
Leistungswille und Kräftemessen Das zweckfreie Bergsteigen hat zwei Wurzeln: einerseits die aktive, leistungsbetonte Annahme einer Herausforderung, anderseits die betrachtende, künstlerische oder psychologische Auseinandersetzung mit dem Berg. Beide sind nicht unbedingt Gegensätze. Sie können sehr wohl in ein und demselben Menschen vereinigt sein.
Der Leistungswille ist - gerade im Gebirge, wo das Überleben schwieriger ist - vielen Menschen eingegeben, und er mochte schon lange vor dem ( offiziellen ) Beginn des Alpinismus bei Alphirten, Gemsjägern und Strahlern Triebfeder zum Besteigen von Gipfeln und Pässen gewesen sein, wobei auch eine Komponente des Kräftemessens dabei war. Wettkampf war auch beim Steinstossen, Steinwerfen, Ringen und Schwingen ein Wesenszug der Bergbewohner. Wettlauf nach den Wasserscheiden konnte ein Rechtsmittel sein zur Festlegung strittiger Grenzen. Auch eine gewisse Bereitschaft, Risiken einzugehen, gehörte dazu. Einer der Grossen des klassischen Bergsteigens, Andreas Fischer, setzte seinem Buch über die Bergfahrten in den Alpen und im Kaukasus als Motto die Verse voraus: ( ,Klug oder töricht? ' Fragt nicht lang, Kann nur die Antwort geben: ,Ein bisschen Trotz und Tatendrang Gehören auch zum Leben. ' ) Der das schrieb, stammte aus ärmlichen Bergbauernverhältnissen. Er wurde 1865, zwei Jahre nach der Gründung des SAC, in Zaun bei Meiringen geboren. Sein Vater starb als Bergführer im Kaukasus. Andreas wurde auch Bergführer. Dann arbeitete er sich mit eisernem Willen zum Primär-, Sekundär- und Gymnasiallehrer empor, schrieb eine vielbeachtete Doktordissertation über Goethe und Napoleon und erlitt selbst den Bergtod nach einer Sturmnacht am Aletschhorn im Jahre 1912. Bedeutende Bergsteiger, wie Paul Montandon, haben auch Kühnheit gefordert, aber jedes unnötige Eingehen von Risiken abgelehnt. Auch heute ist es die Maxime des SAC, dass Sicherheit in allem die Priorität hat.
Allgemein haben sich die Schweizer von den durch nationales Prestigedenken aufgepeitschten verlustreichen Kämpfen um Erstbesteigungen, wie seinerzeit um das Matterhorn und später um die Eigernordwand, ferngehalten. Anzumerken ist auch, dass das Motiv des leistungsbetonten Bergsteigens in den Zentralstatuten des SAC lange Zeit überhaupt nicht in Erscheinung tritt. Es ist nur von Gebirgswanderungen die Rede. Wenn auch die intensive Aktivität der englischen Alpinisten in den Schweizer Alpen das auslösende Moment zur Gründung des SAC gewesen ist und wenn auch gelegentlich vaterländische Töne anklingen, so wird man doch dem SAC kaum den Vorwurf machen können, er sei in seinen frühen Jahrzehnten jenem nationalistischen Chauvinismus erlegen, welcher die Weltpolitik bis zum Zweiten Weltkrieg so unheilvoll beeinflusst hat.
Schneestrukturen am Wetterhorn Erst in den heutigen Zentralstatuten in der Fassung von 1970 ist die Förderung des Bergsteigens im Zweckartikel aufgeführt und bezieht sich hier vorwiegend auf die bergsteigerische Ausbildung, wie sie heute für jede Aktivität im Hochgebirge erforderlich ist. Aber auch im leistungsbetonten Bergsteigen haben sich Veränderungen ergeben. Die totale Erschliessung der Schweizer Alpen einerseits und das immer höher geschraubte technische Können der Bergsteiger anderseits führten dazu, dass, wer heute noch alpinistisches Neuland und Abenteuer sucht, entweder in ferne Kontinente oder in die senkrechten und überhängenden Felswände des eigenen Landes verwiesen wird. Unter diesem Aspekt sind die neuen und spezialisierten Formen des Bergsteigens eine logische Folge der Entwicklung und sind damit gewissermassen ( legitim ). Wie die Wissenschaft, verlagert sich auch das Bergsteigen mehr und mehr von der Makro-und Mesostruktur in die MikroStruktur - eine Entwicklung, deren Folgen noch kaum abzuschätzen sind.
Auf eines freilich sei hingewiesen: Da das Bergsteigen in fernen Kontinenten teuer ist, wie einst das Bergsteigen in der Schweiz, und da das Sportklettern nicht nur Training erfordert, sondern auch eine von Natur aus grosse physische und psychische Eignung, welche nur wenigen gegeben ist, so erscheint gewissermassen von der andern Seite her wieder Sonnenaufgang beim Aufstieg zum Bishorn die Gefahr des Elitären. Zwar braucht man im Sport wie in allen Lebensbereichen Eliten, aber in einem gewissen, besondern Sinne liegt im Sport allgemein heute ein Problem in der Luft. Bei der ausserordentlichen Bedeutung, welche der Freizeit in der heutigen Gesellschaft zukommt, besteht die Tendenz zur selbstgenügsamen, ichbezogenen Abkopp-lung von der öffentlichen Verantwortung. Ernst Strupler, der Begründer und langjährige Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft an der Universität Bern, hat vor wenigen Wochen in seiner Abschiedsvorlesung, die zugleich Verabschiedung eines Jahrgangs frisch diplomierter Sportlehrerinnen und Sportlehrer war, mit eindringlichen Worten auf diese Problematik aufmerksam gemacht.
Erlebnis und Werte Dem Leistungsmässigen des Bergsteigens steht das Erlebnishafte gegenüber. Es ist zunächst ästhetischer Art und nicht an ein bestimmtes Bildungsniveau gebunden, wenn auch Denker und Künstler ihm Ausdruck gegeben haben. Aber auch schon einem Gemsjäger mochte, wenn er vor der Heimkehr noch auf einem Felsvorsprung rastete, wenn die tiefen blauen Schatten sich vom Tal her über das Gletschermeer legten und die Felswände und Gipfel im Purpurlicht des Abends verglühten, die gewaltige Schönheit des Hochgebirges aufgegangen sein.
Die psychologische Seite des Bergerlebnisses hat Jean-Jacques Rousseau etwa so formuliert:
In der grossen Zeit des Naturempfindens vom 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die Berge zum Sinnbild des Erhabenen, des Reinen, des Heiligen schlechthin, aber auch zum Symbol und Hort der Freiheit. Die Alpen gehörten zum festen Bestand der schweizerischen Heimat- und Vaterlandsliebe - heute würde man gespreizter und verschämter sagen, sie seien ein Teil unserer Identität.
Seither hat man diese Werte über Bord geworfen, weil mit ihnen im Nationalsozialismus perverser Missbrauch getrieben worden ist. Auch an der Schweiz ist die Welle radikaler nicht spurlos vorübergegangen. In den Zentralstatuten des SAC ist 1970 im Zweckartikel die ( Liebe zur Heimat ) gestorben. Aber es wird ja etwas an sich Gutes und Schönes nicht schlecht, wenn man damit Missbrauch treiben kann. Der Missbrauch ist schlecht, nicht die Sache selbst. Man kann schliesslich mit allem Missbrauch treiben, und wenn wir deswegen alle Werte über Bord werfen wollten, würden wir allein und nackt in einer leeren Welt stehen. Das tun wir freilich teilweise bereits. Gewiss: Klettern kann man nicht nur in den Alpen, sondern ebensogut im Kaukasus, in den Anden oder in einer Turnhalle - und das hat an sich seinen Wert, wie man auch in einer Turnhalle am Reck turnen oder trampolinspringen kann.
Die Alpen und der schweizerische Staatsgedanke Wenn wir aber auch von allem Romanti-schen und Gefühlsmässigen absehen, so ist der schweizerische Staatsgedanke rein rational eng mit den Alpen verbunden. In einem geopolitischen Tour d' horizon, den wir uns jetzt freilich versagen müssen, würde man bemerken, dass der Stil der Staatenbildung sich in den letzten 300 Jahren merklich verändert hat. Früher fasste man Gebirge, Flusssysteme, Seen und kleinere Meere als geographische Einheiten auf. So schuf Athen seinen Seebund um die Ägäis, Rom sein Mittelmeerreich, Schweden im 17. Jahrhundert sein Ostsee-reich, und über den Alpen entstanden die typischen Sattelstaaten, welche rittlings über dem Kamm beide Seiten abdeckten: So Savoyen über den Westalpen, die Eidgenossenschaft über den Zentralalpen und Österreich über den Ostalpen. Seither hat man fast alle diese Gebilde zerschlagen zugunsten eines nationalen Prinzips, das sich einseitig auf der Sprachgemeinschaft aufbaut. Bergketten, Flüsse und Seen sind zu Trennlinien und Trennzonen geworden. 1860 wurde die Grenze zwischen Frankreich und Italien auf den Westalpen-kamm gelegt, 1919 diejenige zwischen Italien und Österreich auf die Wasserscheiden der Ostalpen.
Man nennt das ( natürliche Grenzenaber es gibt nichts Unnatürlicheres als ( natürliche Grenzen ).
Die Schweiz ist heute als einziger verbliebener Sattelstaat über den Alpen Zeuge und Modell eines andern, altern, unnationalen und völkerverbindenden Staatsbildungsprinzips. Das Bekenntnis zum schweizerischen Vaterland darf nicht mit dem europäischen Nationalismus des imperialistischen Zeitalters in einen Topf geworfen werden. Das zeitweilige Hochschlagen des Bekenntnisses zum schweizerischen Staatsgedanken war stets Re-Aktion auf die nationalen Ansprüche von Nord und Süd. Im übrigen war das Verwerfli-che am Nationalismus nicht das Bekenntnis zum eigenen Vaterland, sondern die Verachtung des andern.
Die Kriegsereignisse der Jahre 1799 und 1800, als französische, österreichische und russische Heere im schweizerischen Alpengebiet Krieg führten und unsägliche Not über die an sich schon arme Bevölkerung brachten, dann die strategische Lage während der Kriege um die Einigung Italiens und während der beiden Weltkriege haben deutlich gezeigt, welche Bedeutung dem Zentralalpenraum, seiner Neutralität und deren militärischer Behauptung als Stabilitätsfaktor im Interesse Europas zukommt. Die Schaffung spezieller schweizerischer Gebirgstruppen mit besonderer Ausrüstung und Ausbildung in der Truppenordnung 1911 und die ausgiebige Gebirgs-und Skiausbildung in der Armee während der beiden Weltkriege haben ihren festen Platz in der Geschichte des Alpinismus in der Schweiz. Von hier aus gingen auch mächtige Impulse auf die zivile Breitenentwicklung des Skifahrens und Bergsteigens. Es will mir scheinen, dass sich der SAC weder heute noch morgen zu schämen braucht, dass er sich in den vergangenen 125 Jahren zum schweizerischen Staatsgedanken und dessen militärischer Behauptung bekannt hat.
... dem Lande zu dienen Anstelle der ( Liebe zur Heimat ) verlangen die neuen Zentralstatuten von 1970, durch die Tätigkeiten des SAC
...du Berg, ich Mensch...
Wir haben das Bergsteigen in seine Motive und Ebenen zerlegt. Wir müssen sie wieder zusammenfügen. Mögen wir uns nun mit den Bergen auseinandersetzen, wie immer wir wollen: In der Hohen Schule des Sportkletterns, in der Wissenschaft, in der Kunst oder in staunender Betrachtung: Immer ist die Bergwelt ein Ganzes, und immer muss der SAC das Dach sein, das in Toleranz und Liebe zum Berge alle vereint.
Am Bundesfeiertag 1945, als man nach dem Kriege wieder Hoffnung fasste, ist der junge und begabte Student und Alpinist Heinz Pfister am Salbitschijen abgestürzt. Er hinterliess Aufzeichnungen über sein Verhältnis zum Berge. Sie wurden in einem kleinen Büchlein veröffentlicht, aus dem wir nun zum Schluss unserer Betrachtung lesen:
mue
hen-Nord-
wand
Lilo Schmidt, Wallisellen 1 Toni Fullin 2 Hans Baumgartner Oft schon hatte ich die sich vom Gross Ruchen bis zur Gross Windgällen über 6 Kilometer sich erstreckenden, 900 bis 1300 Meter hohen nordorientierten Felsabbrüche bestaunt, sei es von einem Standort auf der anderen Talseite oder sei es von der Ruch Chälen oder dem Hoch Fulen herkommend. Zum ersten Mal wurde diese Wandflucht 1903 durchstiegen und beschrieben. In den letzten 20 Jahren entstanden hier beinahe ein Dutzend Routen, die allerdings nur sehr selten begangen werden. Je nach Jahreszeit und Verhältnissen trifft man auf Felskletterei vom 3. bis zum 6. Grad, steile Firnfelder und Eis. Natürlich kommt es dabei auf die Wahl der Routen an, da diese auch verschieden hohe Schwierigkeiten aufweisen.
Ein bewunderndes Wort meinerseits über die Wand genügt, um Toni1 beinahe zum Schwärmen zu bringen, meint er doch, sie lasse sich in ihrer alpinen Ernsthaftigkeit durchaus mit den grossen Wänden im Wallis und im Berner Oberland vergleichen. Ohne es ausgesprochen zu haben, ist damit unser Entschluss gefallen. Es dauert allerdings noch volle zwei Jahre ( jeder Alpinist kennt dieses Warten !), bis das Wetter, die Verhältnisse und die Termine .
Endlich, im Juni 1987, erhalte ich eine Postkarte: Endlich! Bloss fällt mein Freudensprung etwas kläglich aus, da ich mir drei Wochen zuvor im Wald den Fussknöchel verstaucht habe. Sofort beginne ich jetzt, auf ausgedehnten Wanderungen alle möglichen Schuhmodelle zu versuchen, um die am wenigsten schmerzhafte Passform zu finden. Zuletzt bleibt als beste Lösung mein Expeditions-Plastikschuh. Dieser vermittelt mir zwar den Eindruck, als ob meine Füsse in Ruderbooten mittlerer Grösse stecken würden, jedoch stelle ich fest, dass sie in steilem Gelände meinen Knöchel am besten schonen. Bevor wir zu unserem langersehnten Unternehmen starten, erzähle ich noch meinem Bergkameraden Hans2 von unserem Vorhaben. Seinem Wunsch
Nun ist es soweit. Um halb fünf Uhr in der Frühe treffen wir uns im Urnerland und begeben uns über Unterschächen auf die Brunni- Photo ülo Schmdt alp. In gemütlichem Tempo wandern wir der Wand entgegen. Allmählich graut der Morgen, und ein klarer Himmel verheisst einen prächtigen Tag. Jetzt beginne ich an das Gelingen der Tour zu glauben, selbst wenn ich mich mit meinen Skistöcken auf den Geröllhalden immer noch etwas unsicher aufwärts bewege.
Wir haben uns für die klassische Route entschieden, die bei einem Sporn auf der linken Wandseite ihren Anfang nimmt. Wir erreichen eine grasbewachsene Krete, seilen uns an, steigen aber am kurzen Seil weiter gemeinsam auf. Das Gelände wird steiler. Schroff und senkrecht stellt sich uns die Wand entgegen - aber stets öffnet sich ein gangbarer Weg. Über Bänder, kurze Felsaufschwünge und Rampen führt uns Toni mit unwahrscheinlichem Gespür und grosser Ortskenntnis zum ersten Etappenziel, dem , wo wir eine Pause einschalten und etwas knappern. Wasser schiesst hier über eine Felsrinne, um anschliessend aufstäubend in den Abgrund zu verschwinden. Im ersten Sonnenlicht bildet sich ein kleiner Regenbogen, der mir wie ein gutes Omen erscheint. Spannung und Steifheit fallen langsam vor mir ab. Stille 13 Blick vom Gross Ruchen gegen Hüfifirn und Tödi Freude und Zuversicht breiten sich in mir aus, die mir auch die Musse geben, die Augen über die wilde, urtümliche Landschaft schweifen zu lassen: In unmittelbarer Nähe das offene Griesstal, dahinter der tiefe Einschnitt des Schächentales, über dem im Morgenlicht sich die Gipfel des Rossstocks, des Berglichopfs, der Schächentaler-Windgälle und weiterer markanter Berggestalten aufreihen. Dann wendet sich der Blick nach rechts gegen Griessstock, Schärhorn, um zuletzt im Westen an der Gross-Windgälle mit ihrer imponierenden Nordwand hängenzubleiben. Schliesslich entdecke ich noch ganz im Hintergrund den Glärnisch.
Die Pause ist zu Ende. Weiter streben wir nach oben, umgehen bauchige Überhänge und überwinden abschreckende Wandstufen, die sich dann aber leichter erklettern lassen, als es von unten den Anschein macht. ( Im Führer steht: ( über glatte, oft grifflose Platten ...> ) Der günstigste Anstiegsweg muss jedoch immer gesucht werden. Wir können nur staunen, wie gut diese abweisende Wand zu erklettern ist — wenn man ihren natürlichen Strukturen folgt. Dabei ist uns allerdings auch bewusst, welch sicheren Instinkt es braucht, um auf Anhieb und ohne Verhauen den besten Weg zu finden. Am steilen Firnfeld angelangt, befestigen wir die Steigeisen und nehmen die Pickel von den Rucksäcken. Der Horizont hat sich inzwischen noch geweitet und gibt die Sicht auf neue Berge frei. Auch die Verhältnisse kommen unseren Wünschen entgegen, bedecken doch harter Trittschnee und anscheinend nur wenig Eis das etwa 50 Grad steile Couloir. Das lässt vor allem mich aufatmen, da ich es mit meinem nicht ganz funk- Aussicht vom Gross Ruchen gegen Nordosten ( rechts: Chli und Gross Schärhorn ) tionstüchtigen Fuss natürlich sehr begrüsse, wenn ich nicht gezwungen bin, allein mit Hilfe der Frontzacken aufzusteigen. Schweigend und langsam kommen wir höher. Nur das regelmässige Geräusch der sich im Firn verbeis-senden Steigeisen und das Aufsetzen der Pickel unterbricht die Stille. Dieses anstrengende Miteinandergehen gehört wohl zu den schönsten Empfindungen beim Bergsteigen: Jeder setzt konzentriert Fuss vor Fuss, vertraut sich und den andern, weiss, dass er keinen Fehler machen darf, und spürt, dass er keinen machen wird. Manchmal möchte ich vor Freude singen. Doch ich erliege dieser Versuchung nicht, dazu ist der Hang noch zu lang, und ich sollte mit Kraft und Atem haushälterisch umgehen. Glücklich steigen wir bei der Felsschulter, dem winterlichen Skidepotplatz, zur Wand aus. Damit liegt der heikelste Teil der Tour hinter uns. Gleichzeitig wird die Sicht auf das Panorama zur Südseite frei, was mein immer wiederkehrendes Verlangen ( vielleicht der ur- Oberes Brunnital mit Wiss Stöckli und dem Nordpfeiler des Stäfelstockes sprünglichste Antrieb, einen Berg zu erklimmen ) erfüllt - endlich einmal auf die andere Seite zu schauen! Beglückt nehme ich die wie mit dem Bleistift gezogene Linie der am Horizont sich abhebenden Bergwelt wahr. Rasch sind die letzten Meter, auf denen es nochmals gilt, Tritte und Griffe genau zu prüfen, hinter uns gebracht. Wir stehen auf dem nur wenige Quadratmeter Raum bietenden Gipfelplateau. Vor fünfeinhalb Stunden sind wir von Brunni aufgebrochen, und nun geniessen wir die Sonne, die Wärme und die herrliche Rundsicht. Wir stehen nicht unter Zeitdruck und können uns deshalb ein gemütliches Picknick leisten. Auch mein Fuss erholt sich bei einem Schneeumschlag, denn beim Abstieg wird er sicher nochmals stark belastet werden.
Ein selten klarer Tag, der uns das Gefühl gibt, auf diesem einsamen Gipfelthron hoch über allem zu schweben. Mir scheint, als ob ich mich hier dem Himmel ein Stück näher fühle. Dies ist das ( Gipfelerlebnis ). Vielleicht wirkt es auf jeden ein bisschen anders, aber zugleich verbindet es den Bergwanderer, Kletterer und Hochtouristen über alle Grenzen hinweg und lockt ihn stets wieder in die Höhe. Mit Wehmut verlasse ich jeden Berg. Wir steigen die Normalroute über den Ruchenfirn ab. Auf dem Joch glänzt ein kleiner See, der einem Türkis gleich das Gletscherende schmückt. Weiter geht es nun durch die Ruch Chälen problemloser abwärts als befürchtet. Im Sommer wirkt dieses Riesencouloir doch weniger steil als im Winter, wenn enorme Schneemassen sich hier angesammelt haben. Trotzdem muss ich auf meinem weiteren Weg durch die mit feinem und grobem Geröll bedeckte Rinne noch einige Male die Zähne zusammenbeissen. Und als das Gelände flacher wird, vergrössert sich der Abstand zu meinen Kameraden zusehends. Das kommt mir allerdings gelegen, denn endlich darf ich es mir erlauben, bei allen unbedachten Schritten, ohne mir jeglichen Zwang anzutun, vor mich hin zu stöhnen.
Bei den Alphütten im Brunnital angelangt, machen wir kurz Halt, lehnen uns an eine sonnenbeschienene Holzwand und schauen nochmals zum Ruchen zurück — jeder auf seine Art zufrieden. Eine Liebe zu dieser Gegend durchzieht mein Herz, und ich spüre, dass ich eine tiefere Beziehung zu ihr erhalten habe als vorher. Die Welt ist jetzt ein bisschen mein persönlicher Besitz geworden, etwas, das ich in meinem Inneren verwahre. Es gibt kein schöneres Gefühl als nach einer gelungenen Tour. Für mich bestätigt sich damit wieder erneut, dass nach einer Bergtour das Leben übersichtlicher wird, dass alle Probleme lösbar sind. Mit neuem Mut werde ich sie morgen angehen, auch wenn heute Abend der Rücken müde, der Kopf von der Sonne heiss ist, und die Beine schwer geworden sind!