9. Der Monte di Biasca
Der Berg, der Biasca östlich überragt, unvermittelt dem ebenen Talboden entsteigend, ist namenlos. Wohl tragen seine Gipfel und Übergänge Namen, aber dem Massiv als Ganzem fehlt die Bezeichnung. Man hört, aber höchst selten, « la montagna » sagen, so selten, dass ich es vermeide, diese unbestimmte Bezeichnung zu verwenden. Ich ziehe es vor, Monte di Biasca zu schreiben.
Auf dem breiten Postament des Monte di Biasca erhebt sich ein steiler, felsiger Grat von hufeisenförmigem Bau. Fast wie ein Kraterrand nimmt sich der Gratzug aus. Aber in dem steinigen Hochtälchen, das er umspannt, träumt ein kleiner Bergsee, der Lago di Froda. Darüber senkt sich die Gratmauer um 200 m. Über diese Einsenkung führt ein gut gangbarer Pfad, die « Forcarella di Lago », in die Val Pontirone hinüber. Steil, aber unschwierig zu ersteigen sind die Gipfel des Grates; Knacknüsse für Kletterer gibt es auch da, wenn man sie sucht, aber die Eigenart dieser Gipfel liegt nicht darin, sondern in deren hehren Einsamkeit und dem gewaltigen Tiefblick und der weiten Rundsicht, welche die Gipfel des Monte di Biasca bieten.
Der jähe Abfall gegen die Tessinebene scheint auf den ersten Anblick völlig unwegsam, und man ist überrascht, wenn man bei genauerem Hinsehen auf schwindelnder Höhe an verschiedenen Stellen Hütten gewahrt, bei deren Anblick man sich unwillkürlich sofort fragt, wie kommt man nur dort hinauf. Die wilde Westflanke des Monte di Biasca gibt mancher Maiensässe und etlichen Alpen Raum, und die Wege, die dieselben mit der Talebene und unter sich verbinden, sind trotz der Rauheit des Gebirges teilweise recht gut.
Es lohnt sich, zur Strada vecchia hinaus oder noch besser zum Steinbruch bei Iragna hinüberzugehen, um den mächtigen Bau des Monte di Biasca in einem Blicke zu umfassen. Wenn die vielen Sturzbäche zur Zeit der Schneeschmelze oder nach Regenfällen den Berg beleben und als glitzernde Silberbänder in den dunkeln Felsen des Berges flattern, dann ist der Biaskerberg am schönsten. Wenn ihn aber die Sonne wochenlang ausgesengt hat und ihre Glut zitternd über den Felsen brütet, wenn der Berg im bleiernen Schlafe liegt, dann ist es zur Tageszeit keine Lust, ihn zu durchwandern. Nur oben auf den windumspielten Graten und in der Heimlichkeit seiner Schluchten findet man Entgelt für die Mühseligkeit der Wanderung. Ein ganzes Netz von Pfaden durchzieht den jähen Westabfall. Alle sind mehr oder minder gut gangbar. Rauh und luftig sind sie alle, schwindlig und schlecht etliche von ihnen. Aber alle sind reizvoll in ihrer Originalität, und ihre Begehung bietet oft mehr als die Besteigung eines Modeberges. Es sind Pfade für die Einheimischen und für Bergsteiger. Wem es nicht gegeben ist, auf rauhem Pfade in ununterbrochener Steigung bergan zu klimmen, und wem es unbehaglich wird, wenn sein Blick zu Füssen plötzlich auf einige hundert Meter tieferliegende Wiesen oder Wälder trifft, der gehört nicht auf den Monte di Biasca. Wohl aber wer mit sicherem Tritt und sicherem Auge durch die Berge wandert und einmal einsam von luftigem Felsaltan auf einen Fleck heiss erstrittener Schweizererde hinabschauen will, um in Erinnerung an jene Zeiten heutigen Hader und Materialismus zu vergessen.
Der Alpenweg über Pianezza zur Forcarella di lago.
Der eigentliche Alpweg über Pianezza ist der beste unter denen der Westflanke des Monte di Biasca. Zum Aufstiege ist er ausgezeichnet geeignet. Man gewinnt rasch an Höhe, und bei der herrlichen, freien Aussicht, die sich dabei entfaltet, und den interessanten Tiefblicken wird das Wandern leicht, immer vorausgesetzt, dass die Sonne nicht erbarmungslos vom Himmel brennt.
Aus der Nordostecke Biascas führt aus dem Gewirr der Häuser und Ställe, durch Vignien und Wiesen ein Weg, der, gegen den Bergsturz leicht ansteigend, sich rasch dem steilen Bergfusse nähert. Während der grosse, neue Friedhof zur Rechten den Wanderer an die Vergänglichkeit des Irdischen mahnt, folgt nun bald eine Gegend, die einen ermuntert, das Erdenwallen in Frohsinn zu geniessen, denn wir gelangen zu den « Grotti », den landesüblichen Weinkellern, vor denen unter schattigen Kastanienbäumen Tische, Bänke und Bocciaplätze zum Verweilen einladen. Die Grotti di Biasca haben einen guten Ruf. Sie haben sich die Höhlen und Klüfte zwischen den Blöcken, die der Bergsturz hier hinübergeschleudert hat, zunutze gemacht. Der Hauch, der aus dem Bergesinnern strömt, hält die Keller in gleichbleibender Kühle. Mag es draussen braten und sengen oder mag einmal der Frost im Tale liegen, die Temperatur der Grotti bleibt immer so, dass Wein und Käs und Carne secca und damit die Allegria nicht zugrunde gehen.
Man muss sie miterlebt haben, die schönen Stunden der Grotti im Tessin, um sie würdigen zu können. Wenn der heisse Sonnenglast dem kühlenden Bergesschatten gewichen ist und alles wieder aufatmet, dann schlendert man zu den Grotti hinaus. Die alten Herren sitzen hinter ihrem Quinto und politisieren, oder sie spielen mit wunderlicher Zeichensprache Briscola und Tresett. Die Frauen klatschen ein bischen wie überall, und nebenan knallen die Holzkugeln desBoccia-spiels. Tritt aber die junge Weiblichkeit auf den Plan, dann ist auch bald der Musikus zur Stelle, und es hebt das Tanzen an.
Die Alten brauchen nicht immer dabei zu sein. An der « Festa di Niscioi»48 ) ( Festa delle nuociole = Haselnussfest ) laden die jungen Biaskesen ihre Maitli allein zu den Grotti ein. Dann wird mitten in der strengen Fastenzeit eifrig das Tanzbein geschwungen. Der Jüngling regaliert die Auserkorene mit Braten und Wein, und sie bringt ihrerseits, die Liebe braucht Symbole, Haselnüsse zum Knacken mit. Hoffentlich lebt dieser Brauch weiter, nachdem ihn der Krieg unterbrochen hat, die Haselnüsse werden ja auch weiter gedeihen an den sonnigen Berghängen oben.
Es ist mir gottlob noch nie passiert, dass ich mit schwerem Rucksack beladen an den fröhlichen Grotti vorbei musste, wenn dort die Trinkgeschirre klirrten und sich das fröhliche Völklein im Tanze wiegte, es wäre mir hart geworden.
Von den Grotti steigt der Weg durch eine Mulde zwischen dem Berghange und dem Schuttkegel des Bergsturzes an, bis man auf dem Scheitel des letztern steht. Die Gegend dort oben, am Eingang der Schlucht, heisst Ara die Caspare 49 ). Hierdurch und nicht weiter unten abbiegend, wie es in der letzten Ausgabe des topographischen Atlasses immer noch fälschlicherweise angegeben ist, führt der Alpweg nach Pianezza Compieto. Steil geht es nun, die öde Schlucht des Bergsturzes zur Linken, im Zickzack den Sporn hinan, den hier die Schlucht zur Westflanke des Monte di Biasca bildet. Eine weisse, weithin sichtbare Kapelle von altertümlicher, derber Bauart bezeichnet den Beginn des jähen, aber interessanten Zickzackweges. Von weit her aus der untern Val Blenio fällt einem das weisse Gemäuer der Capeila del San Geronimo auf. Sie ist ein sich in die rauhe Umgebung vorzüglich einfügendes Bauwerk. Nur ganz in der Nähe gefällt sie einem nicht — sie ist zum Ziegenstall geworden. Selbst auf den Altar steigen die gehörnten Gesellen und hinterlassen dort ihre Spuren. Es mögen frömmere Zeiten gewesen sein, als diese Kapelle gestiftet wurde; sie trägt die Jahrzahl 1741. Nun geht es steil aufwärts auf rauhem Pfad. Weiter oben gewahrt man rechts am Hange draussen wiederum eine kleine Kapelle, die « Capella del pas del lüf ». Hier mündet ein Weglein ein, das bei der Stiftskirche den Anfang nimmt und quer durch den Berghang heraufführt. Gerade gut ist es nicht, und man zahlt die Abkürzung leicht mit Zeitverlust ( « Pas del lüf » = Passo del lupo ). Warum das bei der Kapelle verengte Weglein dort den Namen Wolfpass trägt, weiss niemand zu sagen. Die Bezeichnung ist vielleicht schon alt, obwohl es nicht allzu lang her ist, dass die Wölfe die Gegend von Biasca unsicher machten. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts war ihr Vorkommen keine Seltenheit, und jetzt noch findet man zu Hause im Grümpel etwa noch ein Wolfseisen, versicherte mir ein Biaskese. In den 50er Jahren wurde im Tessinschachen bei Osogna unten zum letztenmal auf Wölfe gejagt, während sie im Maggia- und Verzascatal drüben und ebenso im Misox noch lang herumstreiften. Da man in allen diesen Tälern die Ziegen und Schafe selbst im Winter fast immer im Freien lässt, fand Meister Isegrim die Gegend sehr günstig. Tschudi hat in seinem Tierleben der Alpenwelt eine Wolfsgeschichte von Biasca erhalten, von der freilich niemand mehr etwas weiss. Möglicherweise hat jene Begebenheit der Kapelle zu ihrem Namen verholfen.
Die erste Maiensässe am Wege heisst Pianezza, was etwa soviel wie Bödeli bei uns drüben bedeutet. Pianezza ist allerdings ein bescheidenes Bödeli, ebener Platz ist wenig zu sehen. Hier bleiben die Kastanienbäume zurück, es beginnen die Buchen. Auf Pianezza wurde vor einigen Jahren Quarz abgebaut, von dem man am Monte di Biasca an verschiedenen Stellen ganz unvermittelt oft meterdicke Adern antrifft. Das Bergwerk von Pianezza kam aber nicht zum Blühen. Es lieferte in die elektrochemischen Werke in Bodio.
Treppenartig windet sich das Weglein höher, zum Aufstieg ist es ausgezeichnet, zum Abstieg recht kniebrecherisch.
Auch Pianezza lässt sich vom Flecken aus durch den jähen Westhang direkt erreichen. Es führt ein Weglein über Pizzigüt-Orinella-Mont Marse. Aber zu empfehlen ist auch diese Abkürzung nicht, weder zum Aufstieg noch zum Abstieg.
An Parnighei vorbei erreicht man schliesslich Canvagia, die grösste Maiensässe hier oben. Etwa zehn Hütten liegen zerstreut inmitten der verhältnismässig grossen Heuwiesen, und etwa zehn Familien wirtschaften im Vorsommer und Herbst hier oben, und es ist da ganz gut sein. Heu, Weide, Wasser und Holz gibt es genug. Das Grossvieh muss man freilich hüten. Die vielen Ziegen aber geben wenig Arbeit.
Draussen, auf der Seite gegen die Val Blenio hin, hat der Bergsturz von 1513 den Leib des Monte di Biasca aufgerissen. Einmal da oben, lohnt es sich, zu der schauerlichen Schlucht hinüberzugehen, welche das losgebrochene Gestein hinterlassen hat. Es ist noch alles rauh und kahl, als wäre die Schlucht vor wenigen Jahren entstanden. Kein Gräslein, kein Strauch will fortkommen in dieser Steinwüste. Hoch über den kahlen Felswänden ragen dräuend die Zacken des Pizzo Magno, als wären sie absturzbereit.
Eine Stufe höher liegt Piangerà, und wir stehen dort am Eingange des Hochtales von Carigiolo, in dem versteckt eingebettet und von der Talsohle aus unsichtbar die Alpen des vordem Monte di Biasca liegen. Auf dem frohmütigen Bühl von Piangerà ruht die warme Tessinersonne den ganzen Tag mit Wohlgefallen, so dass es hier trotz 1500 Meter Meereshöhe noch recht warm werden kann und es selbst nachtsüber nicht kühl wird. Als ich einst vor vielen Jahren hier oben Nachtquartier bezog, da war es auch so lau und mild, und in der pechschwarzen Finsternis schwebten in unermüdlichen Reigen die Leuchtkäferchen. Sie führen hier oben den nicht besonders anständigen Namen « Lüsincü », während man sie im Tal unten « Fugazö » nennt ( italienisch Lucciola ).
Im Tale von Carigiolo drüben, das in seiner untern Partie gleich hoch liegt wie Piangerà, beginnt das Weidland, die Alp. Der Unterschied ist auffällig. Auf den Maiensässen führt der Weg sorglich zwischen Mäuerchen durch, die man aus den in den Heuwiesen aufgelesenen Steinen aufgeführt hat, drüben auf der Alp, wo der Gemeinsinn waltet, lässt man die Steine liegen, obgleich es auch einer Weide zugute käme, wenn sie gesäubert würde.
Schon weiter unten haben die Buchen dem Nadelholz Platz machen müssen, hier oben geht auch dieses aus, es wird kahl von hier an und rauh. Die Maiensäss- hüttli sind primitiv; man bewohne sie ja nicht das ganze Jahr, meinte ein Bauer zu mir. « Aber doch manchen Monat », dachte ich, und es braucht schon eine bewundernswerte Genügsamkeit, um so zu leben wie ein Bauer des Monte di Biasca.
Eigenartig ist von Piangerà der Blick auf die tief zu Füssen liegende Talebene, die sich wie eine Landkarte ausbreitet. Gegenüber, hinter einem vielgezackten Grat verborgen, liegt die Val Verzasca. Bis tief in den Sommer hinein blinkt dort drüben der Schnee, unter dem sich dunkle, schluchtähnliche Täler zur Tessinebene absenken. Dort sind die Alpen womöglich noch rauher als am Monte di Biasca, und die Leute sollen auch so sein, wie mir ein Älpler versicherte. Er meinte von den Verzaschesi: « I è buona gent, ma mostri 1 » Die Verantwortung hierfür muss ich ihm überlassen, denn in innerkantonale Schmeicheleien möchte ich mich nicht einmischen.
Etwas Auffälliges erblickt man an den gegenüberliegenden Talhängen. Von Iragna die Leventina hinauf sind diese auf 900 bis 1000 m Meereshöhe fast regelmässig gestuft. Ob diese kleinen Terrassen Spuren eines uralten Tales sind? Das mögen die Geologen entscheiden, seltsam ist diese Erscheinung. Hier am Monte di Biasca besteht auch eine Terrassenbildung, aber sie liegt 500 m höher; was tiefer ist, ist steiler Hang oder Schlucht50 ).
Noch steigt das Weglein etwas an, dann senkt es sich längs einem felsigen Hang zur Mulde von Compieto hinab, wo der Frodabach in zahlreichen Stürzen rauscht. Die Alp ist klein, aber sehr ergiebig. Vierzig Haupt Grossvieh finden hier gute Weide. Hier befinden sich auch die Cantine, die Kässpeicher, der Alpe di Carigiolo. Carigiolo ist nicht nur Eigenname, sondern auch Sammelname für alle Alpen, die in diesem Talkessel liegen. Nur eine einzige macht eine Ausnahme, die Alpe di Tongia, und zwar aus dem merkwürdigen Grunde, weil sie nicht existiert. Nur im topographischen Atlas wird ihre Existenz behauptet, und zwar mit einer ganz beachtenswerten Zähigkeit, die selbst in der letzten Revision zum Ausdruck kommt.
Man braucht nun nicht zur Alpe di Carigiolo hinaufzusteigen, wenn man die Forcarella di Lago gewinnen will, denn von Compieto führt ein direktes Weglein zu der auf einer höhern Terrasse gelegenen Alpe di Pontima. Aber wir lassen uns Zeit und besuchen Carigiolo, das der Stolz der Bauern am Monte di Biasca ist. « Die Weide ist gross und ausgezeichnet », versicherte mir ein Älpler, der manchen Sommer da oben zugebracht hat. Das Wasser ist nah, und Holz braucht man nicht allzu weit herzuholen. Die Hütten sind allerdings recht klein und teilweise zerfallen. Pontima ist eine kleine Alp, aber noch viel kleiner sind die folgenden, Sprügh ( nicht im topographischen Atlas ) und Alpe di Lago, die nur kurze Zeit benützt werden. Wie Oasen liegen die grünen Weideplätze in den grauen Schutthängen des oberen Talkessels.
Ein kleines, man möchte sagen arktisches Seelein hat der obersten Alp und dem Passe zum Namen verholfen. Nur karges Grün sprosst zwischen den Steinen, und gegenüber an den Hängen der Cima di Biasca bleibt der Schnee selbst den Hochsommer hindurch. Noch Ende Juli sah ich losgelöste Firnbrocken wie Schwäne auf dem blauen Seelein herumschwimmen. Hier nimmt der Frodabach seinen Anfang, undbiszurTalebenehinab ist sein Lauf fast Sturz an Sturz, daher der Name, denn « Froda » heisst in der Sprache der Tessiner Bergler soviel wie Wasserfall und findet sich daher auch bei andern ähnlichen Bächen. Frodalunga heisst dieser Bach nicht, nur sein höchster Fall, und daher nenne ich ihn hier kurz Frodabach. Die Bauern nennen ihn ( da Fröda », ohne einen Unterschied zu machen mit einem Bache desselben Namens, der auf den Trümmerhügel des Bergsturzes niedergeht.
Im Zickzack klimmen wir in kurzer Zeit zur Forcarella ( 2265 m ) hinauf und sehen dort die Val Pontirone zu unsern Füssen liegen. Aus den grauen, steinigen Hängen unterhalb der Scharte entwickeln sich saftiggrüne Alpweiden, Bächlein glitzern, und zwischen grauen Steinbänken und Graspolstern glänzen kleine Alpseen. In der Tiefe aber hebt dunkler Tannenwald an. Das alles überragt die trotzige Feisenburg des Torrente, dessen uns zugewandte Kante steil wie ein Schiffsbug aus dem Grate aufspringt.
Die Forcarella di Lago ist im Sommer ein bequemer Übergang, wenn man sie nach hiesigen Verhältnissen beurteilt, denn andernorts würde sie als rauh und mühsam bezeichnet. Im Winter ist dieser Übergang obenaus oft ganz heikel. Am Grate hängt dann eine böse Wächte gegen den See über, die viel Mühe bereiten kann. Auch die jähen Hänge unter dem Pizzo Mottone sind der Lawinengefahr wegen oft höchst ungemütlich.
Aus der Val Pontirone herauf über Alpe della Cava ist der Aufstieg zur Forcarella di Lago bequem und nicht anstrengend. Aber viel besser eignet sich der Abstieg in jener Richtung. Denn steiler Aufstieg, sanfter Abstieg ist eine gute Bergsteigerregel und besonders hier bei 2000 m Höhendifferenz.
Das Weglein über Monte di Nadro.
Wer jähe Weglein liebt, die in dunkler Schlucht und über schwindlige Felsen emporklimmen, der steige über Monte di Nadro zu den Alpen von Carigiolo hinan. Es wird ihn nicht reuen, und einen grossen Zeitgewinn hat er noch dazu, denn in zwei Marschstunden erreicht man von Biasca aus Compieto. Das ergibt 650 m Steigung pro Stunde — bei diesem Weglein, das sich wie eine Wendeltreppe die Felsen hinaufwindet, ist das aber möglich.
Es war an einem Karsamstagmorgen, als ich einst, wieder einmal allein, den Bergen zuschritt, und mit welcher Sehnsucht. Im Flecken Biasca klebten an jedem Laternenpfahl und an jeder Hausecke Zettel der politischen Parteien. Ich las, und es ekelte mich, wie man den Gegner in den Dreck zog und sich selbst so merkantil als möglich anpries; eine der Parteien nannte sich sogar welterlösend — pfui Teufel. Ich drehte den Rücken, schwang den Hakenstock und dachte « partout comme chez nous ». Nachher fiel mir ein freches Sprüchlein vom frechen Voltaire ein: « Nous laisserons ce monde-ci aussi sot et aussi méchant que nous l' avons trouvé en y arrivant. » Aber verdammt schön ist die Welt halt doch, wenn man den Partei-hader hinter sich hat.
Rasch war ich oberhalb der alten Stiftskirche, wo man am Hang Kastanienbäume gepflanzt hat und sie nun sorglich mit Blech und Draht gegen die Zähne der naschhaften « Chiävri » ( Ziegen ) schützt. Nun stand ich schon bei den Hütten von Monte Stornello, und wenn ich da am rechten Ufer des « Rì di Cesa » ( was, ganz genau übersetzt, Chilebach heisst, während ich für Kirchenbach Riale di Chiesa schreiben müsste ) weiter wollte, musste ich entweder das Weglein genau finden oder kraxeln. Ich fand es aber und folgte ihm, der « Strada di Vacch », obwohl ich mich als altes Mitglied des S.A.C. leise schämte. Ich überschritt also den Rì di Cesa und stieg an seinem linken Ufer weiter. Auf einem Block am Hange draussen lockte ein Mädchen mit heller, lauter Stimme seine lieben Geissen, und sie eilten alle heran in lustigen Sprüngen, drängten sich um die junge Hirtin, die, wie eine Statuette, mit ausgebreiteten Armen unbeweglich sich als Silhouette vom hellen Hintergrunde abhob. Es braucht in dieser Gegend nicht viel zur Poesie.
Mein Weglein bog bald wieder um zum rechten Ufer zurück, zu einer « Ara ». Kurz darauf stand ich oben, wo aus dem Schutthange die Felsen sich jäh aufschwingen. Hier öffnet sich schmal und düster die Schlucht des Rì di Cesa. Zwischen den Felsen schaute das Grau der niedrig streichenden Wolken herein. Nun ging es wieder über den Bach, und auf einem Weglein, dass mir das Herz im Leibe lachte, klomm ich in unendlich vielen Giravolt, wie der Biaskese die Zickzack nennt, vergnügt die Bergwand hinan. Das Weglein ist gut. Dass es sogar zehnjährige Kinder mit dem Gerlo auf dem Rücken begehen, will ich den Biaskeser Bauern glauben, aber dass jeder im aktiven Alter stehende Inhaber eines Alpen-vereinsabzeichen hier frohgemut wandern würde, glaube ich dagegen nicht. Plötzlich biegt das Weglein auf eine Kante hinaus. Hier, dem Tessintal zugewendet, auf einer Stufe, unter der die Felsen grausig abbrechen, sonnt sich die Hütte « Bedra del vent ». Weitherum reicht der Blick. Zur Rechten und zur Linken bäumen sich riesige Felspfeiler auf, die auf ihrem Haupte ähnliche winzige Maiensässen und Hüttlein tragen. « Bedra del vent » wollte ich erst als Windstein = « Pietra del vento » deuten, bis mich ein Biaskese belehrte, dass in seiner Mundart bedra betula = Birke heisse. Es ist jetzt auf « Bedra del vent » keine Birke zu sehen, aber dass das früher einmal der Fall war, bezweifle ich nicht, denn der weisse Stamm dieses Baumes gehört ja ins Landschaftsbild der Riviera mit den dunkeln Felshängen als Hintergrund. Und an Wind mag da oben kein Mangel sein.
Ein Bub kam singend den Berg herab, als ich auf « Bedra del vent » stand. Als er mich gewahrte, stand er betroffen still, bis ich ihn anredete. Doch wuchs nun noch seine Überraschung, als ich ihn wegen einiger Örtlichkeiten am Berge um Auskunft fragte. « Ma com'el fa da save tütt ?» stiess er hervor, und dann verfinsterte sich sein Gesicht, und er fügte bei: « Aah, sarà beng quei spia germanio ). « Da ist also etwas vom Weltkrieg übriggeblieben », dachte ich mir, als der Bub schon an mir vorbei rasch der Tiefe zustrebte, um wohl den « Commissario » im Flecken unten zu alarmieren.
Jenseits des Tobeis des Rì di Cesa, auf einer spitzen, begrasten Kuppe, unter der die Felsen auch so jäh in die Tiefe schiessen wie hier, thront frohgemut das Hüttlein « Pizzigüt » und schaut weit ins Land hinaus. Vom Schluchteingang führt ein Weglein dort hinauf. Aber weiterhin, über Orinella, wie die Gegend obenaus benannt wird, soll es nicht gut begehbar sein. Wenn das ein Biaskeser Bauer sagt, so darf man sich schon vorstellen, dass man auch die Hände braucht, um durchzukommen.
Zur Bedra del vent führt von der Stiftskirche herauf noch ein anderer Weg, der nicht minder interessant ist als der hier beschriebene. Statt in die Schlucht des Ri di Cesa, bekommt man dabei einen Einblick in die des Frodabaches. Dieser Zugang, eigentlich ein Umweg, folgt dem Rì di Cesa nur ein kurzes Stück am linken Ufer, dann biegt er nach rechts ab, oberhalb einer mit Mauern umfassten Wiese durch, und steigt, den nun folgenden Schutthang ( Ganna bianca = weisse Gand ) zur Rechten lassend, steil empor. Abgeschliffene Felsen, durch die sich abschüssige Jahrbuch des Schweizer Alpenclub. 57. Jahrg.,n Grasbänder als typische Geissweiden hinziehen, folgen. Von der Tiefe betrachtet, sieht die Gegend recht unwegsam aus, und harmlos ist sie auf keinen Fall. Aber die Biaskeser Bauern sind Meister im Anlegen von Felssteigen. Geschickt klimmt das Weglein, jeden Vorteil ausnützend, durch die plattigen Hänge. Ein langes, oft von Felsen durchbrochenes « Grasplänggli », wie man in Uri drüben sagen würde, klebt weit oben am Berg, das ist der « Scieng lungh ». Den quert das Weglein fast in seiner ganzen Länge, immer von links nach rechts ansteigend. In der Riviera sind solche Grasbänder häufig, man hat für sie den Spezialausdruck « Scieng » im Gegensatz zu « Spiangra », womit ein leicht zugänglicher, mit der Alpweide zusammenhängender Grashang gemeint istB1 ).
Am südlichen Ende des Scieng lungh, hoch über dem mächtigsten Fall des Frodabaches, thront das Hüttlein « in Olmo » ( d.h. bei der Ulme ), das jetzt zur Osterzeit, vom Blütenschnee eines Kirschbaumes überdeckt, gar freundlich ins Tal hinausschaute. Das Hüttlein hängt wie ein Adlernest in den schaurigen Flühen. Im Grunde der Frodaschlucht donnert ein Wasserfall, die Cascata di Olmo. Das Weglein führt aber nicht dort hinein, sondern wieder in den Talhang hinaus, wo es, weiter ansteigend, schliesslich die Bedra del vent gewinnt.
Von dieser Hütte geht es noch ein Stück in höchst kecker Weise die Bergkante hinan, dann aber bald zur Schlucht zurück. Die weitet sich da oben, und man begreift die Bezeichnung « Val Nadro » eher als unten, wo tie auch die finstere, enge Klamm trägt. Der Hang, durch den man nun ansteigt, ist weniger steil, und stolze Tannen, Lärchen und Buchen decken ihn. « Favra sacra » nennt ihn respektvoll der Bauer, warum weiss er aber längst nicht mehr. Der Name bedeutet Bannwald. Wahrscheinlich wurde einst bei einem Ausbruch des Rì di Cesa, der ja direkt in den Flecken ausmündet, das Schlagen der Bäume verboten. Eine Versuchung, das Gebot zu missachten, besteht kaum, denn die Stämme zerschellen oder bleiben an unzugänglichen Stellen hängen, wenn man sie durch die Val Nadro zu Tal befördern will.
Eine anmutige Kuppe ist der Abschluss der gewaltigen Felsbastion, welche die Schluchten des Rì di Cesa und Frodabaches aus dem Bergleib herausschneiden. Sie trägt die Maiensässe Nadro. Da geriet ich nun ganz plötzlich in weichen, knietiefen Schnee. Die Wolken jagten, bald goss die Sonne ihr blendendes Licht über den Schnee, bald war es dämmerig und grau ringsum. Ich schritt an den Rand der Kuppe, wo die Felsstürze einsetzen, und schaute ins Tal hinab, das trüb und düster zu Füssen lag, wenn nicht gerade ein heisser Sonnenblick darüber huschte. Dann zog ich weiter, es war eine mühselige Stampferei.
Die Felsbastion von Nadro hängt obenaus mit einem schmalen Grat am Bergmassiv, und der topographische Atlas hätte hier seine Höhenkurven wohl ziemlich anders zu formen, wenn er sie der Wirklichkeit anpassen wollte. Übrigens sind die Aufstiege am Monte di Biasca im topographischen Atlas ähnlich « idealisiert » wie die Kurven, und hoffentlich fällt es niemandem ein, sie nach dem topographischen Atlas zu begehen, sonst erlebt er nicht eitel Freude.
Nun wurde mir der Schnee besonders hinderlich. Soweit ich auf dem Grätchen gewandert war, war es eine Stampferei gewesen, aber nach Compieto hinein, durch den steilen Südhang, war die Sache ganz ungemütlich. Es rutschte auf den glatten Grashängen, ganze Schilde lösten sich, und eine Weile war ich ziemlich ratlos, denn umkehren wollte ich nicht. Unten gähnte die dunkle Frodaschlucht, bereit, alles aufzunehmen. Aber sie sollte mich nicht haben. Ich stellte das Queren ein und stieg bolzgrad zu den Felsen hinauf, an eine Stelle, wo ich eine schmale Geröllzunge unter dem Schnee vermutete. Hier hielt der Schnee stand, und endlich lag der im Sommer so harmlose Hang hinter mir. Die Kletterei über die Felsen war allerdings eine unangenehme Arbeit, galt es doch überall den schweren, nassen Schnee von den Stufen zu wischen. Aber endlich stand ich auf dem Wege nach Compieto. Nach dort hinein zu waten, hielt ich nicht für nötig, ich wandte mich dem nahen Canvagia zu und stieg über den Alpweg von Pianezza zu Tal.
Auch auf Canvagia lag der Schnee tief und nass, ich sank mit jedem Schritt derart ein, dass ich recht froh war, endlich unten bei Parnighei apern Boden unter die Füsse zu bekommen. Als ich dort in die Tiefe blickte, gewahrte ich unter mir ein Adlerpaar, das lautlos seine Kreise zog. Die Räuber der Lüfte achteten meiner nicht, sie spähten in die Tiefe, wo in den Hängen die Schafe weideten. So konnte ich denn die sonst in unsern Bergen selten gewordenen Vögel genau betrachten. Der eine kam oft nah heran, mit dem Zeiss besehen, war er einmal zum Greifen nahe, als er unter mir durchschwebte. Wenn der Schnee die Alpen deckt, die Munggen noch tief in ihren Löchern schlafen und alles Wild aus den unwirtlichen Höhen den Wäldern und Maiensässen zuzieht, folgt auch der Steinadler nach. Er ist dann eine gewöhnliche Erscheinung am Monte di Biasca, in dessen wildes Felsgebiet er so recht hineingehört. Die Bauern sind den « Egri » ( aquile = Adler, plur. ) nicht gewogen, denn manch feistes Lämmlein ist im Frühling schon durch die Lüfte entführt worden. Darum wird auch der Adlerhorst, sobald er entdeckt ist, mit dem weittragenden Militärgewehr herabgeschossen. Aber die Rauhheit dieser Berge und die Spärlichkeit der Alpen sind für dieses stolze Tier ein so natürlicher, guter Schutz, dass es hier kaum bald ausstirbt. Es wäre übrigens schade, denn der herrliche Steinadler ist für unsere Alpenwelt eine ebenso grosse Zierde wie ein prämiierter Geissbock.
Der Weg durch die Val scura.
Auch der Weg durch die Val scura ist eine « Strada di Vacch », wie man hierzulande sagt. Vom Tale besehen, würde man es nicht glauben, dass man Grossvieh hier hinauftreibt, und auch in der Nähe besehen, kommt einem das an verschiedenen Stellen ziemlich gewagt vor. Aber die Tessinerkühlein gehören zu den kletterkundigsten Vertretern ihres Geschlechtes.
Der Weg durch die Val scura beginnt ebenfalls am Rì di Cesa, aber zu allerunterst, beim Propsteihaus. Von dort steigt er direkt durch den Hang zur Capeila della Santa Petronilla empor, vor deren Brücke er mit der Via Crucis zusammentrifft. Auf der abschüssigen Terrasse, auf der die Kapelle liegt, geht es nun weiter. Kahle, braune Felsen begrenzen zur Rechten und zur Linken das magere Weidland, dem vielenorts knorrige Kastanienbäume entragen. Nach kurzer Wanderung öffnet sich zur Linken eine Schlucht, die Val alta, aus der sich eine hohe Felswand mächtig aufschwingt. Ein Bächlein murmelt zwischen den Steinen und sammelt sich zu einem letzten Sprunge über eine mächtige Fluh hinab. Nicht immer rinnt hier Wasser, aber wenn der Schnee schmilzt, blitzt oben an der Wand der Bach als langes Band weit ins Tal hinaus. Rauh und wild ist die Gegend, deren Eindruck sich bei mir noch erhöhte, als ich sie zum erstenmal betrat. Denn da lag eine durch Steinschlag getötete Ziege am Weg, und im Grunde der Schlucht stiess ich noch auf eine andere und ein Schaf, die zerschmettert in den Steinen lagen. Hoch von den Felsen herab waren sie gestürzt. Man sieht nicht viel Derartiges auf Bergwanderungen, selbst in den wilden Flühen des Monte di Biasca gehört es zur Seltenheit.
Weiter geht es auf und ab, immer mit dem weiten, freien Blick in die Tessiner-ebene zur Rechten, an « alla Motta » vorbei, zu den Hütten von « Val di Rei », beides Maiensässen oder « Munt » ( monti, plur. ). Wieder klafft eine Schlucht, gewaltiger noch als die Val alta und tiefer. In ihrem düstern Grunde liegen riesige Blöcke, zwischen denen ein Bach rauscht. Das ist die Val scura. Der Name stimmt, düster ( scuro ) und von schauerlicher Wildheit ist die Gegend. Dräuende Felsen schauen hoch herein. Durch diese Schlucht ging im Januar 1895 die ungeheure Lawine nieder, die tagelang die Gotthardbahn blockierte. Auch der Bach ist bei den herbstlichen Sturzregen ein böser Geselle. Nicht dass er Schutt und Blöcke mit sich führte, denn von da oben hat längst alles den Weg zur Tiefe genommen, das nicht festgewachsen war. Aber die Wucht des ungestümen Baches hat in der Hauptsache die alte Gotthardstrasse bei der Capella del Prevosto geschädigt. Das übersieht man von da oben deutlich. Auch dem Alpweg spielt der Bach bisweilen bös mit. Anzuhaben vermag er ihm nichts, aber reissend schiesst er zwischen den Blöcken herab, so dass es keine leichte Sache werden kann, das andere Ufer zu gewinnen.
Der Eingang in die Schlucht ist von höchst malerischem Effekt. Aber auch weiter oben steht man gern staunend einen Augenblick still, um den Eindruck der Umgebung aufzunehmen. Zwischen den Blöcken durch windet sich das Weglein die Schlucht hinauf, und es heisst eine Weile die Augen gut aufgemacht, damit man seine Spur nirgends verliert. Einmal am linken Ufer, bietet die Fortsetzung bald keine Schwierigkeiten mehr. Weiter oben biegt es nach rechts ab und führt durch den mit stattlichen Kastanien bewachsenen Hang hinaus auf die luftige Rippe von Sprugh. Mächtig gleitet der Blick in die Tiefe und weit in die Leventina hinauf.
Ein Weglein zieht sich hier weiter eben hin, hinaus zu den Maiensässen oberhalb Osogna ( siehe Seite 176 ). Unser Weg schlägt eine andere Richtung ein, er wendet sich wieder links zur Schlucht zurück. In ihrem Grunde kommen wir an den Trümmern einer « Eira » vorbei, einer Kastaniendörrerei. Seit Jahrzehnten ist man hier von dieser Konservierung abgekommen ( siehe Seite 136 ).
Oberhalb der Eira verlassen wir die Schlucht nochmals und steigen schräg am Hang in die jähe Bergwand hinaus. Nackte, glatte Felsen schiessen in die Tiefe. Über sie wird das Holz der Val scura ins Tal gereistet 52 ). In gewaltigen Sätzen fliegen die Trämel die Felsen hinunter, und zu mehr als zu Brennholz mögen sie kaum mehr taugen, wenn sie im Talboden anlangen. Übrigens deutet schon der Name « Trenc della prestinera » ( Reistzug der Bäckerin ) daraufhin, dass das Holz, das hier zu Tal befördert wird, eher für den Backofen als für den Schreiner und Zimmermann bestimmt ist.
Lang verweilt unser Weglein nicht an der Wand draussen. Bald biegt es zurück in die Val scura und klimmt einen mit Tannen bestandenen Hang empor. Weisstannen, Rottannen, seltener Buchen und Lärchen wachsen hier oben. Kastanienbäume und Eichen kommen keine mehr vor. Dann machen auf der Rippe draussen die Bäume einer Heuwiese Platz, das ist die Maiensässe Val scura. Auch hier ist wiederum, wie überall am Berghange, ein wunderschöner Ausblick, und es bleibt mir unvergesslich, wie ich einst dort oben sass, als die Schatten der Nacht langsam aus der Tiefe zu uns heraufschlichen und schliesslich auch meinen einsamen Sitz mit ihrem dunkeln Mantel umhüllten, aus dem nur die dunkeln Silhouetten der zackigen Verzaskerberge sich abhoben. Eine geräumige Hütte ist auf der stotzigen Maiensässe, die gutes Obdach gewährt.
Die Val scura, in die man nun zurückkehrt, entfaltet hier eine schauerliche Wildheit. Hoch aber über den grausigen Flühen thront einsam die Maiensässe Mottone. Eine Frau wirtschaftet dort allein mit ihren Kindern inmitten dieser Felsenwildnis. Da braucht es schon Leute von hartem Schlag, und manche Bäuerin bei uns, die da glaubt, sie sei die fleissigste und tätigste im Lande, würde sich davor bekreuzen, mit der tapferen Biaskeserin zu tauschen.
Aus dem bewaldeten Hang treten wir nun endgültig auf den Rücken hinaus zu der die Kante sich verbreitert. Der steil abfallende Rücken ist gestuft und gewährt Terrassen Raum, auf denen ein üppiger Rasenteppich sich ausbreitet. Selbst ein vielversprechendes Erdäpfeläckerlein breitet sich da an der Sonne aus. Weiter oben tauchen Hütten auf, dann folgen wieder Weiden und noch einmal Hütten. Die Gegend heisst Monte Albato und scheidet sich in Albato di sotto und Albato di sopra. Der Einheimische nennt sie « Arbet », genau so wie wir in unserer Mundart für Arbeit sagen. Immer schöner ist mit dem Höhersteigen die Aussicht geworden. Es macht einem Mühe, sich von dem Schönen wegzureissen und weiter zu wandern. Im Sommer muss es herrlich sein da oben, wie mir die gastfreundliche Clara Monighetti, die dem « stranier » einen Becher duftender Milch kredenzte, bestätigte. Ich glaubte es aufs Wort, und übrigens legten auch die zwei schneeweissen Gänse Zeugnis ab, die schnatternd und fett auf dem feinen Rasen herumwatschelten. Aber man erkauft sich die Wonne schöner Tage am Monte di Biasca nicht leicht. Auf abschüssigen Halden, über turmhohen Felswänden das Vieh zu hüten bei Regen und in zugigen, primitiven Hütten zu nächtigen, wenn der Wind erbarmungslos durch alle Fugen pfeift, das sind wirklich üble Zugaben zu einer « Villeggiatura » auf Monte Albato. Und ich begriff es gut, dass man mich bald fragte, was ich vom Wetter halte, als ich in der Hütte Platz genommen hatte.
Von Albato aus kann man zwei Wege einschlagen. Steigt man weiter in der ursprünglichen Richtung, so erreicht man durch die Val de Ganna—Monte Tongia—Forcarella di Tongia den Kessel von Carigiolo, und zwar ziemlich weit oben. Der andere Weg führt auf den mächtigen Eckpfeiler der Val d' Osogna hinaus in eine Gegend von so eigenartigem, wunderbarem Reiz, dass ihr selbst der an wildmalerischen Szenerien so überreiche Monte di Biasca nichts Gleichwertiges zur Seite stellen kann.
Das Tälchen südlich Albato auf einem Weglein querend, gelangt man dort hinüber. Deutlich ist es nicht allerorten, im Walde ist es stark verwachsen, und hier trifft es wohl zu, dass es die Geissen sind, welche in der Hauptsache seine Spuren unterhalten. Obenaus gehört das Tälchen fast noch in seiner ganzen Breite zu Biasca, während weiter unten der Bach die Grenze gegen Osogna bildet. Wie mir ein Einheimischer versicherte, hatten die « Landfogti » einem Biaskesen dieses Landstück geschenkt, weil er der Kirche ein Vermächtnis gemacht hatte, und so sei es nun Biaskeserboden geworden. Das Tälchen ist obenaus mit etwas Wald bestanden, seinem einzigen Wert. Untenaus verengt es sich und nimmt den Namen « Val della Giustizia » an, die den Schluchten Val Scura und Val alta an Wildheit fast gleichkommt.
Der gewaltige Eckpfeiler der Val d' Osogna, dessen steinerne Riesenbrust in die Talebene hinausstarrt, hat die Aufmerksamkeit schon manches Reisenden auf sich gezogen. Staunend blickt man an die erzbraunen, massigen Flühe empor, die das Eis des Tessingletschers in einer Arbeit von Jahrtausenden zur heutigen Form schliff. Nur die geheimnisvolle Nische ist jünger, die sich wie ein Gewölbe in die Felsen eindrängt, so dass sie der Volksmund « i capell di Scienterdü » taufte. Der Name hat sich auf den ganzen Felspfeiler übertragen, den Reisende schon mit der etwas wohlklingenderen Bezeichnung « la rocca di Osogna » bezeichnet haben.
Auf dem Scheitel des Felsens liegt die magere Alpweide « Trecciasco ». Sie besitzt keine Hütten, nur einige kärgliche Felsüberhänge gewähren dem Vieh etwelchen Schutz. Wahrscheinlich ist diese Alp identisch mit der von Brusoni, in seinem Reiseführer Luzern-Mailand, Seite 117, erwähnten Alpe Tecciasso. Dass hier aber in grauer Vorzeit Menschen Obdach gefunden hätten, wie Brusoni angibt, möchte ich doch bezweifeln. Spuren prähistorischer Behausungen, die da zu sehen seien, entdeckte ich keine, und mein Begleiter, der jeden Stein am Monte di Biasca von Jugend auf kennt, wusste auch nichts davon. Vorn auf dem kleinen Trecciasco öffnet sich ein so gewaltiger Tief blick, dass man unwillkürlich nur zögernd dem Rande zuschreitet, unter dem die Fluh so unglaublich jäh in die Tiefe versinkt. Über einer einsamen Rast liegt da oben eine seltsame Weihe. Klein und verächtlich krümmt sich der Menschen Werk zu Füssen, die gewaltigen Eindrücke der Umgebung schlagen einen in ihren Bann. Das Rauschen der Naia steigt leise aus der Tiefe herauf, sonst ist es feierlich still. Talauf, talab schweift der Blick. Der Ticino schiesst blitzende Pfeile herauf, man weiss in der Herrlichkeit dieser wunderbaren Bergeinsamkeit nicht, wohin schauen, schliesst endlich die Augen und legt sich ins weiche Gras, über dem sich die Schmetterlinge wiegen. Ja wahrlich, Alpe Trecciasco ist eines der allerschönsten Plätzchen in der langen Reihe der Berge, an denen der Ticino vorbeifliesst, und lohnt sich als Tour mehr als manche Gipfelbesteigung.
Mir wurde es nicht leicht, mich von dem herrlichen Altan zu trennen, so interessant und wildschön die weitere Wanderung sich auch darbot. Weiter oben wartete mein Träger, und wir stiegen weiter an über einen gestuften, mit Tannengruppen besetzten Rücken, auf dem sich ein üppiger Rasenteppich ausbreitet, so dass das Ganze das Aussehen eines Parkes hat. Selbst kleine Teiche fehlen nicht, das anmutige Bild zu beleben, und kleine Felspartien gruppieren sich zierlich dazwischen. Im Hintergrunde über der tiefen, dämmerigen Val d' Osogna, in der die Wasserfälle glitzern, thront die finstere Felsenburg des Torrente. Über Alpe in Basso bis zur Cima Stabiello hinauf zieht sich dieses parkähnliche Gelände.
Der Wegwendet sich nun der Val d' Osogna zu zur Alpe Stabiella und führt durch steile, bewaldete Hänge. Das Älpli Stabiella gehört dem Patriziate von Osogna, das aber zu wenig Leute hat, um es zu befahren. So bleibt es denn schon jahrelang unbenutzt. Dergleichen ist in der Val d' Osogna keine Ausnahme. Seit die Jungmannschaft im Tale Verdienst findet, interessiert sie sich nicht mehr viel für die Alpen, die steil und wenig ergiebig sind. So kommt es, dass Alpen nur zur Hälfte mit Vieh befahren werden. So wurde 1907 die Alpe Salosa, welche vorher mit einem Aufwand von über 2000 Franken verbessert wurde, an die Älpler von Cresciano zu einem Zinse von 5 Fr. vermietet, allerdings mit einer kleinen Verpflichtung, die aber nicht schwer war und der wahrscheinlich auch gar nicht nachgelebt wurde. Auch Alpe Stabiella ist verpachtet, und zwar für 25 Fr. an Leute von Biasca. Gerade komfortabel haben diese es nicht dort oben, die Weide ist klein ( für 5 Kühe und 40 Geissen ) und abschüssig, und man muss das Vieh bis nach Trecciasco hinab auf die Weide treiben. Ein « Sprügh », Felsüberhang, dient bei schlechtem Wetter dem Vieh als notdürftiger Schutz. Auch die Hütte ist von primitivem Bau, und saure Tage mögen dieLeute da oben haben, wenn das schlechte Wetter nicht weichen will und gar noch Schnee fällt.
Die weitere Wanderung auf diesem Wege würde nur noch tiefer in die Val d' Osogna hineinführen, zu den Alpen von Otri, Lareccio Pianvedri, stets durch denselben steilen Hang. Hübscher Tannenwald deckt ihn in der Gegend von Stabiella; dazwischen dehnen sich oft kleine Waldwiesen aus mit hohem, glänzendem Gras, auf dem die Sonne spielt. Durch Runsen erblickt man in der Tiefe den schluchtartigen Grund der Val d' Osogna.
Das Weglein ist harmlos, aber nicht überall deutlich, weil verwachsen. Zwischen Alpe Stabiella und Otri, in der Val Panei, wo der Bach herabkommt, zweigt an dessen linkem Ufer ein Weglein ab, das nach den Cantine ( Marisciolo des topographischen Atlas ) hinabführt und als gut gilt. Auf alle Fälle ist es einem direkten Abstiege von Stabiella durch die stotzigen Hänge, welche die Einheimischen « in di Gualt » nennen, vorzuziehen 53 ).
Wer nicht Höheres zum Ziele hat, dem rate ich zum Abstieg in die Val d' Osogna. Ich las zwar kürzlich in dem neuen Buche « Der Tessin », von J. V. Venner, von diesem Tale, es biete kein touristisches Interesse ( Seite 29 ). Aber ich denke mir, es gebe auch Leute anderer Geschmacksrichtung, solche der meinigen, und ich muss da bemerken, dass mir die Val d' Osogna aus der Jugend einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hat, seit ich sie von der Val Calanca her einst durchwandert hatte. Und als ich sie dann viele Jahre später wieder betrat, da erschien sie mir noch schöner in ihrer wilden Einsamkeit. Aber es gibt eben viele Touristen, zum Glücke unserer Fremdenindustrie, die am Ziele ihrer Wanderung im Kiosk ihre Ansichtskarten kaufen und für fünfzig Rappen ein Alphorn mit Echo haben wollen, und das fehlt bis aufs Echo alles in der Val d' Osogna hinten.
Steil, etwa 600 m tief, senkt sich das Weglein nach Marisciolo, und am späten Vormittag, bis sich die Sonne dem Kranze der zackigen Verzaskerberge genähert hat; ist der Abstieg heiss. Aber unten an der Naia lockt ein kühlendes Bad, und der gewaltige Talhintergrund lässt einem auch nicht los, und man rastet hier gern, bevor man das Tal hinauswandert.
Eng treten nun die Talhänge zusammen, und es folgen Stellen von überraschender Eigenart und Wildheit. Wenn da hinter einem Felsblock hervor ein Lepontier treten würde, das Wolfsfell um den Leib und in der Hand den Speer, man würde sich kaum wundern, denn die Gegend ist rauh und wild wie jene fernen Zeiten und passt nicht so recht in unser alles verflachendes Zeitalter, wo der Wert des einzelnen untergeht im formlosen sozialen Menschenbrei. Man glaubt es auch aufs Wort, dass da hinten der letzte Bär geschossen wurde, der die Täler der Riviera heimsuchte. Doch sind es nun schon achtzig Jahre her, und die Erinnerung an das Jagdabenteuer lebt nur noch bei alten Leuten fort.
Hoch über dem Talboden des Ticino tritt man aus dem Dunkel der Val d' Osogna in die sonnige Riviera hinaus Unten schäumt in unzugänglicher Schlucht die Naia, in die hoch die riesige Wand der « Capell di Scienterdü » herabschaut. Auf rauhem Wege geht es über den kastanienbewachsenen Hang zur Gotthardstrasse hinunter, die man mit dem wonnigen Gefühl betritt, eine selten schöne Wanderung vollbracht zu haben.
Das Weglein durch den Monte di Biasca nach Osogna.
Man kann noch auf einem andern Wege nach Osogna wandern, durch den Monte di Biasca, viel tiefer unten durch und mit viel geringerem Zeitaufwand. Auch dieser Weg ist schön in seiner Art, wenn er sich auch mit dem soeben beschriebenen nicht messen kann.
Seine Begehung hat in mir eine sehr schöne Erinnerung hinterlassen, und ich glaube, dass es niemand reut, der an solche Wege gewohnt ist, meinen Spuren zu folgen. Mancher wird staunen, welche Fülle von Naturschönheiten einem ungeahnt entgehen, wenn man mit der Bahn die Riviera durcheilt.
Eine nasse, trübe Karwoche bildete den Abschluss einer herrlichen Schönwetterperiode, und gerade in diese Karwoche hatte ich meine Tessiner Ferien verlegt. Statt Sonnenschein gab es nur reichlich Regen. Ich fand mich schliesslich auch damit ab und freute mich, wie am ausgetrockneten Monte di Biasca die Sturzbäche anschwollen. An mancher Stelle, wo sonst die braunen Felsen stumm in der Sonne glühen, rauschte ein munterer Wasserfall stiebend in die Tiefe.
Meine Absicht war, einmal von Biasca bolzgrad in den Talkessel von Compieto hinaufzusteigen, also auf dem vorbeschriebenen Wege von Nadro, das musste ich vorläufig aufschieben. Die Nebel hingen tief herab, und ohne etwas zu sehen, wollte ich nicht den obern Monte di Biasca besuchen. Als es am Gründonnerstag nach Besserung aussah, passte ich meine Wanderung den Umständen an und beschloss, durch den Westhang des Monte di Biasca nach Osogna hinabzuwandern, auf schwindligen, rauhen Geisspfaden. Ein törichter Gedanke 1 In der Talebene ist eine gute Strasse, und nebenbei läuft die Bahn, die einen « per sessanta ghei » in einigen Minuten ans Ziel befördert. Nun, es hat jeder seinen Sparren.
Ich stieg zur alten Stiftskirche empor und wanderte auf der Via crucis zur Capeila della Santa Petronilla hinaus. Für eine Gründonnerstagwanderung ein ganz schicklicher Anfang. Vor der Kapelle zog ich Rock und Weste aus und stopfte sie in den Rucksack. Gerade brauste unter mir ein Zug heran. Ich sah auf dem Perron die Leute kommen und gehen. Eine feuerrote Gestalt war darunter, wie ein Herold der Weltrevolution, die einem, wie der Messias, immer noch ein bisschen warten lässt. Ich setzte den Zeiss ans Auge, sah mir das Rote genauer an, und nun musste ich lachen. War es doch die hübsche Italienerin, die mit ihrem bleichen Gemahl in meinem Hotel genächtigt hatte und von der die Gäste nicht überzeugt waren, dass sie den Ehering mit Berechtigung trug. Jetzt sauste das Paar mit dem Zuge über den Gotthard, vielleicht auch einer Via crucis entgegen.
Ich schwang den Sack wieder auf den Rücken und stieg dem linken Frodaufer entlang aufwärts. Am Platze, wo das alte Kastell einst gestanden hat, komme ich nie vorbei, ohne dass mir alte Geschichten in den Sinn kommen. Die herben, romantischen Zeiten des Mittelalters passen so recht in diese wilde Gegend. Doch heisst es jetzt auf die Füsse sehen, denn steil klimmt das Weglein die linke Kante der Frodaschlucht hinan, und bald kommt ein böser Tritt. Dem Bergsteiger ist er harmlos und für den gebirgsgewohnten Biaskeser Bauern noch viel weniger gefährlich. Aber Gefahr ist da, sonst wäre nicht einst eine junge Bauerntochter hier über die hohe Wand ins Bett der Froda gestürzt.
Der Frodabach wüsste von manchem Schrecken Kunde. Dort, wo man die junge Delmuè einst zerschmettert fand, wo die Wasser der Froda tiefe Kessel in dem harten Granit ausgewaschen haben, versank anlässlich der Grenzbesetzung ein Landsturmsoldat. Unter der Brücke ist ein beliebter Badeplatz, dort stürzte ein Heizer, als er nach einem Stück Seife haschte, das ihm entgleiten wollte, über die hohe Wand des Wasserfalles. Und der Engländer, der unten bei der alten Kirche ein so stattliches Grabmal hat, suchte an der nämlichen Stelle nach Blumen, als ihn Gevatter Tod in die Tiefe riss.
Genug des Unheils! Der Geissweg führte mich an einem Gädeli vorbei, das an einen überhängenden Felsen derart angebaut ist, dass es sich eine Mauer erspart. Es heisst Sprugh Arno. Von Sprugh Arno, nach welchem sich auch der Wasserfall Froda Sprugh Arno nennt, windet sich das Weglein zu drei in eine Linie sich reihenden Ställen empor, die ihre Giebelseite dem Tale zuwenden. Wohl weil sie in ihrer Dreizahl so gebieterisch ins Land hinausschauen, nennt sie der Volksmund « I tre cantoni ». Ein hübscher Ausblick war da oben von dem grünen, abschüssigen Mätteli und ich machte hier einige Minuten Rast. Da gesellte sich ein Bauersmann zu mir, denn ein Fremder ist am Monte di Biasea eine ungewohnte Erscheinung. Der Mann war freundlich und gesprächig und wusste schon von mir. Das gab ihm Anlass, mich auf die napfförmige Vertiefung aufmerksam zu machen, die hier an einem Blocke neben der Hütte ausgehauen ist und über deren Zweck ich am Tage vorher meinen Begleiter vergeblich befragt hatte. Dieses Loch stamme aus alten Zeiten der Not, erzählte der Bauer. Damals habe man die Eicheln am Berge gesammelt und in dieser Vertiefung durch Zerstampfen geniessbar gemacht. Hoffentlich waren es Kastanien, die sind besser. Kastanienbäume wachsen talauf und talab in dieser Höhenlage überall an den Hängen, während die Eiche viel weniger häufig auftritt ( siehe Seite 154 ) 54 ).
Nun war ich eigentlich zu hoch gekommen. Ich hätte unten bei der Gapella della Santa Petronilla, allmählich leicht ansteigend, meinem Ziel zuwandern können. Aber ich wollte den Aufstieg längs dem Frodabach, der mich schon am Abend vorher bis zum grossen Wasserfall hinaufgelockt hatte, noch einmal geniessen. Ich begnügte mich für diesmal mit der erreichten Höhe und zog von hier der Val alta zu. Ich möge etwas aufpassen, des Steinschlages wegen, hatte mir der Bauer noch nachgerufen, und ich schrieb mir das hinter die Ohren. So nahm ich denn einige Stellen, die mir nicht sicher schienen, im Schnellschritt. Steinschlägig ist die Gegend sonst nicht, aber die starken Regengüsse der letzten Tage hatten auf den Bändern und Gesimsen das Gestein gelockert, und so entstand bei den vielen Geissen und Schafen, die sich jetzt am Monte di Biasea herumtrieben, eine gewisse Gefahr. Als ich an die schaurige Wand der Val alta hinaufsah, wo auf schwindligen, abschüssigen Gesimsen das weisse Vlies der Schafe sich vom Dunkel der Felsen abhob, glaubte ich an diese Gefahr. Die Val alta ist von erstaunlicher Wildheit, und heute, wo ob ihr die Nebel wogten und oft ihre Schleier über die nassglänzenden Felsen herabwarfen, so dass diese sich noch viel höher und schauerlicher ausnahmen, war die Gegend ganz besonders eindrucksvoll. Oft stand ich still und betrachtete die gewaltige Szenerie, die sich vor mir geöffnet hatte. Silbern spielte ein Wasserfall im Felsendunkel. So hoch herab kam er, dass ich seinen Ursprung nicht zu erblicken vermochte, denn dort oben wogten die Nebel. Unter mir öffnete sich jäh die Tiefe, da breiteten sich Bahnanlage, Strasse, Fluss und Felder spielzeugähnlich aus. Am Monte Ceneri unten sammelten sich die Wolken. Unter dem Südwind segelte bereits eines ihrer regenschweren Geschwader längs den Verzaskerbergen die Riviera herauf. Dass diese Wasserschläuche hierherum irgendwo platzen würden, dessen war ich sicher, aber das schien mir so ein dummes, nichtiges Bedenken, als ich unter dem Eindruck der Val alta stand, dass ich die Wolkenjagd als Zugabe begrüsste. Es war auch wirklich stimmungsvoll, dieses fieberige, unstäte, dräuende Wetter. Zu allem noch war ich allein, und das gehörte auch dazu.
Als ich aus der Schlucht wieder in den Berghang hinaustrat, blies mir der Südwind kräftig entgegen, das hätte mir ein Trost sein können, denn solange es derart riecht, werden die anrückenden Wasserschläuche dicht halten, sagte ich mir, und so war es auch wirklich. Einige kleine Spritzregen waren vorläufig alles. Auf gutem Wege näherte ich mich über la Motta, Val di Rei der Val Scura. Auch hier brauste im Grunde ein schäumender Bach. Riesige Felstrümmer scheinen ihm den Durchpass verlegen zu wollen. Tosend schoss das Wasser in zwei Sprüngen über die hohen Felsen in die Talebene.
Bis hier war ich gutem Wege gefolgt, einer richtigen « Strada di Vacch ». Diese klimmt nun aber die Val scura hinauf, was ich auch hätte tun sollen, denn erst bei Sprugh oben ( siehe Seite 172 ) ist die richtige Abzweigung vom Val scura-Weg. Ich liess mich durch ein Weglein, das leicht ansteigend sich in den Hang hinauszog, ablenken und vergass den Rat, den mir der Bauer auf « Tre Cantoni » gegeben hatte, ja nicht tief zu halten von der Val scura an. Es dauerte nun gar nicht lang, so verlor sich mein Weglein in Spuren, die kreuz und quer führten. Ich musste nach eigenem Ermessen vorrücken. Auch so war es schön, und es ging erst gar nicht übel. Der Blick in die Leventina hinauf hatte sich geweitet und reichte bis zum Platifer.
Es gab nun plötzlich zu klettern, wenn ich nicht Umwege machen wollte. Ich packte sie an, die treuen, braunen Tessinerfelsen, die mir schon so manchen guten Tritt und Griff geboten haben, und dachte zurück, wie viele Jahre es nun schon her waren, seit ich zum letztenmal zum Klettern ausgezogen. Es wurde immer interessanter. Jede Wegspur verlief sich, und die Geissen schienen mir spöttisch zuzuschauen. Auf Leute stiess ich nirgends, trotz der vielen gefällten Kastanienbäume, die ich traf und die weiterer Bearbeitung harrten. Zuletzt sank noch der Nebel herab und umhüllte mich, ich musste aufs Geratewohl vorrücken. Verschiedene Steinmäuerchen, an denen ich vorbeikam, dürften wohl zum Schütze der Bahnanlage gegen Steinschlag errichtet worden sein. Da glaubte ich, vor mir eine Schlucht zu sehen. Aus dem kochenden Nebel gähnte es dunkel, und es rauschte ein Bach in der Nähe. Ich stand auf einer abschüssigen Terrasse, deren Ausgang gegen die Schlucht hin mir wenig vertrauenswürdig vorkam. Kurz entschlossen kletterte ich Stufe um Stufe tiefer, denn ich hatte den Eindruck, während des Kletterns zu hoch geraten zu sein. So war es auch. Plötzlich tauchte unter mir ein guter Pfad auf, ich folgte ihm und da gleichzeitig der Nebelschleier von einem Windstoss zerfetzt wurde, stellte ich fest, wo ich war. Ich befand mich in der Val della Giustizia. Der Leser wird im topographischen Atlas diesen Namen nicht finden, obwohl er dort schon Platz gehabt hätte. Ich überschritt den Bach und sah mich weiter um. Wenig unter mir erblickte ich richtig die Maiensässe Mottabella, von der mir der Besitzer gesagt hatte, es sei aber mit der Bellezza nicht so weit her. Als Motiv für einen Landschaftsmaler wäre Mottabella höchst wertvoll, aber die Ansprüche der Kunst und Landwirtschaft gehen leider oft auseinander. Nun entdeckte ich auch, wohin ich geraten wäre, wenn ich das Grasband weiter verfolgt hätte. Glatt geschliffene, nassglänzende, schwärzliche Felsen, in denen sich die Bänder schliesslich ganz verlieren, hätten meiner gewartet. Ich musste irgendwo die von oben kommende Wegspur gekreuzt haben, ohne es zu beachten.
Auch diese Schlucht ist schaurig und wild. Hoch überragen sie im Hintergrund dieselben dräuenden Wände wie in der Val alta und in der Val scura. Val della Giustizia würde im Schweizerdeutsch etwa « Galgentobel » lauten, denn unten, wo der Bach den Talboden erreicht, befand sich die Richtstätte der alten Landvogtei Riviera ( la Giustizia ). Der Bach bildet die Grenze zwischen den Gemeinden Osogna und Biasca. Die Bahn hat seinen Schuttkegel am Bergf usse respektvoll durchbohrt, obwohl er nicht der schlimmste unter den Wildbächen des Monte di Biasca ist.
Ich trat wieder in die Berglehne hinaus. Das Weglein führte mich gut. Unten leuchtete schon in freundlichem Grün die Terrasse von Monte Combra, und bald stiess ich auch da oben auf eine Maiensässe, eine hübsche, aussichtsreiche Wiese mit blühenden Kirschbäumen, die sich im Winde wiegten und neben denen einige Hütten standen, das war Monte Bonasca. Zwei Buben staunten mich sprachlos an. Dann aber, als ich nach einem Schluck Milch fragte, führte mich der eine sofort dienstbeflissen in eine Hütte zu seiner Mutter. Da gab es nun Milch und Brot und sogar ein wärmendes Feuer. Über das alles war ich froh, hatte ich doch greulichen Hunger und Durst, und der Südwind pfiff so scharf, dass es einem kalt über den Rücken lief. Dann kamen die Fragen « Da du el vegnwoher kommen Sie ), « Cosa el vor su da lì»was wollen Sie da oben ), denn auch hier ist ein fremder Wanderer eine seltene Erscheinung. Die Soldaten der deutschen Batterien seien etwa hier heraufgekommen, die in Osogna unten lagen, erzählte mir die Frau. Sonsl kam hier bisher nie ein Stranier vorbei, nur etwa ein Biaskeser Bauer, der nach einer verlaufenen Geiss suche. Die Soldati confederati haben in Osogna eine ausgezeichnete Erinnerung hinterlassen. Nie soll ein Misston entstanden sein, trotzdem man sich so oft nur mit Mühe habe verständlich machen können. Nicht einmal wegen des « Tusang », auch im Tessin ein gefährlicher Artikel, sei es zwischen Zivil und Militär zu einem Hader gekommen. Ich kenne zwar die Schönheiten Osognas nicht und weiss auch nicht, wie die stolzen Kanoniere, deren Waffe nur auf Fernwirkung bestimmt ist, mit der Nahtaktik operierten. Einem Batteriechef, der hier zum « capitano » avancierte, brachte die Dorfmusik anlässlich der Beförderung ein Ständchen. « L' era propi un sciur » ( es war wirklich ein Herr ), versicherte man mir, denn er hätte der Gemeinde etliche unvergessliche Wohltaten erwiesen.
Als ich dann sagte, dass ich nach Osogna hinuntergehe zu Signor Pellanda, meinte meine Wirtin lachend, ich sei bei ihr gerade am rechten Ort, sie sei die Frau des Posthalters Pellanda. Das sagte sie nicht ohne gewissen Stolz, denn die Pellanda von Osogna sind die direkten Nachkommen jenes « Cavaglier Giovanni Battista Pellanda », der in Biasca anno 1586 den Palazzo ( siehe Seite 64 ) erbauen liess. Heute noch üben die Pellanda von Osogna das Kollaturrecht aus über die Besetzung der Kaplanei an der Stiftskirche von Biasca. Manchen Landschreiber, Bannermeister, Dolmetsch und Richter hat diese Familie während der Herrschaft der Landvögte für die Riviera gestellt. Sie ist übrigens die einzige der ganzen Talschaft, die geadelt wurde und nach Mitteilung von Herrn E. Lienhardt ein Wappen führte. Heute sind die Pellanda einfache Bauersleute.
Gestärkt machte ich mich an den Abstieg nach Osogna. Meine Wanderung hatte sich auf einer Höhe von 800 bis 900 m abgewickelt. Der scharfe Wind hatte in die graue Wolkendecke, die über den Bergen hing, Löcher gerissen, und die Sonne warf da und dort nun ihre Strahlen auf die Tessinebene. Grell leuchteten das junge Grün der Matten und das helle Grau der Flussufer, wenn sie das flüchtige Sonnenlicht traf. Die Sonnenflecken jagten das Tal herauf, bald blitzte der Ticino nah, bald fern. Ein schlechtes Wetterzeichen: « Se el so fa fenestra — acqua sulla testa » warnen die Pontironesi, und es war so. Am Karfreitag goss es wie aus Kübeln.
Die ganze Riviera übersieht man von da oben, vom Brenno bis hinab, wo bei Gorduno sich der Ticino dem Blick entzieht. Gerade gegenüber, aus der Vogelschau besehen, breiten sich Lodrino und Iragna am Bergfusse aus. Die Berghänge sind dort weniger steil, und doch möchten die Biaskeser Bauern nicht tauschen, wie sie behaupten, denn die Weide sei bei ihnen am sonnigen Monte di Biasca viel besser. Einer, der Geissen von Personico geerbt hatte, versicherte mir, dass diese sofort viel mehr Milch gaben, als sie den Standort gewechselt hatten.
Der Weg führte mich im Abstiege durch eine typische Tessiner Berglandschaft. Bronzebraune, bauchige Felshöcker, die jetzt die zahlreichen Wasser-gerinnsel oft fast schwarz färbten, Blöcke, welche die Hände eines Riesen schienen ausgestreut zu haben, auch braun und dunkel, mit sammetgrünem Moose bedeckt und geheimnisvolle Höhlen und Schlupfwinkel bildend. Dann überall die mächtigen, knorrigen Kastanienbäume, oft ausgehöhlt oder mit geborstenen Doldern, die wie drohend erhobene Arme aufragen. Noch deckte kein Laubdach die Kastanienhaine, und frei schweif te der Blick bergan, wo sich der Berg immer jäher, bald nur noch in glatten Felsen aufschwingt. Zu Füssen öffneten sich immer wieder herrliche Tiefblicke, und bald sah ich auf Osogna hinab. Niedlich wie ein Kinderspielzeug gruppieren sich die Häuschen um den alten Landsgemeindeplatz und längs Strasse und Naia. Monte Combra, eine herrliche Bergterrasse, 300 m fast senkrecht über der Talebene, hätte mich bald noch zum Verweilen verführt, aber ich musste weiterziehen, wenn ich noch in Osogna mich aufhalten und vor Nachtanbruch wieder in Biasca sein wollte.
Wieviele Tausende sausen alljährlich an Osogna vorbei. Wie wenige durchwandern das Dorf, noch wieviel seltener schaut sich einmal einer das romantische Kirchlein an, das über dem Dorfe thront. Ich hatte den trefflichen Rahn ( Kunstdenkmäler des Tessins ) im Rucksack, aber ich holte das Buch nicht hervor, als das kleine Gotteshaus vor mir stand. Das Portal mit seinen derben Skulpturen und seinem « sehr altertümlichen Charakter », wie Rahn sagt, und das ebenso altertümliche Weihwasserbecken betrachtete ich gleichwohl mit freudigem Genuss. Um den schönen, alten Schnitzaltar vorn im Chor recht zu sehen, benutzte ich gar den Zeiss. Doch am allerbesten gefiel mir das Kirchlein als Ganzes, wie es sich in diese rauhe und doch vom Hauch des Südens umwebte Landschaft fügt. Nebenan haben fleissige Hände den trotzigen Felsen eine kleine Vigna abgerungen. Schon hingen zierliche, kleine Blätter an den Ranken, und doch war es kaum Anfang April. Hinter dem kleinen Weinberge donnert in enger Schlucht die wilde Naia, der Bach der Val d' Osogna, die nach reissender Talfahrt in einem weiten Tümpel ihr Ungestüm begräbt. Ein geschicktes Mäuerchen brachte mich dort ans andere Ufer zu einer steinalten Säge. Hier stieg ich etwas an und schaute zu meinem Kirchlein hinüber, das Madonna del Castello heisst, und darob schlich mir etwas wie Neid ins Herz hinein, weil gar so mancher Maler und Zeichner hier achtlos vorbeifährt und dass nun gerade ich den Stift nicht zu führen verstehe.
Nun stand ich in Osogna, meine Wanderung durch den Monte di Biasca war zu Ende. Sie war äusserst genussreich. Ich hatte das von ihr erwartet, aber meine Erwartungen wurden übertroffen. Eine Bergtour ist es nicht, und der zünftige Alpinist wird die Nase rümpfen. Eine reizvolle Wanderung bleibt sie aber für jedermann, dem es auf schmalem Geissweglein behagt.
Osogna ist bekannt durch seine grossen Granitbrüche. Die Steine finden sich in der deutschen Schweiz an manchem Gebäude, Brücke oder Monument. Und manches eidgenössische Staatsgebäude ruht in seinem style federale in mehr oder minder glücklicher Gestalt auf einem Sockel von Osogneser Granit.
Die Leute von Osogna betätigten sich selbst nur wenig mit dem Brechen und dem Bearbeiten des Granites. Die Alten blieben Bauern. Die Jungmannschaft wandte sich aber immer mehr vom Bauerngewerbe ab, nahm mit Vorliebe Arbeit bei der Bahn oder wanderte aus, so dass nun derart grosser Leutemangel herrscht, dass Osogna seine Alpen nur schwach ausnützen kann und diese z.T. vermieten muss. Wie bei Biasca, liegt der allergrösste Teil des Gemeindebodens im Gebirge. Die Val d' Osogna, genau in ihrer orographischen Begrenzung, und was zwischen der Val della Giustizia und dem Boggèrabach an der Tallehne liegt, gehört zu Osogna. Es ist alles Terrain mit steilen, oft felsigen Hängen. Was an gutem Talboden zur Gemeinde gehört, ist im Vergleich hierzu sehr wenig.
Wichtiger für die Riviera als heute war Osogna früher, als noch der Landvogt hier residierte und sich alljährlich am Bartholomäustage die Landsgemeinde ( siehe Seite 101 ) auf dem Dorf platze versammelte. Noch steht dort der Palazzo des Landvogtes, an jene Zeiten erinnernd. Ein schmucker, kleiner Balkon ist nach aussen alles, was sich an dem jetzt durch Um- und Zubauten arg entstellten Hause erhalten hat. Eine Stube mit einfacher, aber hübscher, alter Decke, die freilich stark verraucht ist, und ein origineller, alter Giltsteinofen von zylindrischer Form sind im Innern übriggeblieben. « 1580. ULRICH. METTLER. RITTER » las ich auf dem Ofen. Das war also jener Landvogt, der es ablehnte, die Inquisition ins Land zu rufen, was dann die Leute der Riviera selbst besorgten.
Das Amtsgebäude der Landvogtei lag weiter unten an der Gotthardstrasse. Die praktischen Osognesi haben es zu einem Schulhaus umgebaut. Nur noch der Kerker und das Portal sind übriggeblieben, und auch die verraten nicht mehr viel. Auf einem der Portalpfeiler hat sich der « Diener » eines Landvogtes verewigt und seinen Werdegang tief in den Stein eingekratzt. Und da sagt man noch erst, die französische Revolution habe die Freiheit in den Tessin gebracht. Wo in aller Welt darf heute ein « Putz » am Eingang eines Amtshauses seine Erinnerungen in Stein graben. Auch der andere Pfeiler trägt eine aber minder leserliche Aufschrift. Ein grosser Holzkäfig, der doch für die junge kantonale Altertums-sammlung in Bellinzona ein interessantes Sammelstück geworden wäre, ist beim Umbau des Amtsgebäudes leider zu Brennholz geworden. Die Osognesi seien aber nicht schuld daran, versicherte mir Sig. Pellanda. Er habe nach Bellinzona ins Governo berichtet und habe dann die Kunde erhalten, der Käfig werde abgeholt, was aber nie geschehen sei. Da hätte man ihn schliesslich nach Jahr und Tag zu Brennholz gemacht. Es sei gutes, hartes Lärchenholz gewesen. Schade um die verpasste Gelegenheit! Wie wertvoll wäre es gewesen, dem heutigen Tessinervolke das Marterinstrument vorzeigen zu können, mit dem die confederati einst seine Vorfahren plagten.
In Osogna besuchte ich wiederum, immer noch auf meiner Gründonnerstag-reise, Signor Pellanda. Nachdem ich noch den Palazzo Pellanda, denn einen solchen gibt es auch hier, und er ist demselben Schicksal verfallen wie jener in Biasca, abkodakt hatte, sass ich mit dem freundlichen Manne noch eine Weile bei gemütlichem Geplauder zusammen. Es geht nichts über Tessinergastfreund-schaft. Ich hatte Mühe, loszukommen, und die Gefahr, dass nach den verschiedenen, harmlos die Riviera heraufgesegelten Wasserschläuchen schliesslich noch ein Weinschlauch über mir platzen könnte, war gross.
Frohgemut wanderte ich wieder Biasca zu und sah dabei immer wieder an den Monte di Biasca empor, zu den Felsen und Bändern, über die ich gewandert war. Gewaltig und ernst ist die Gegend auch von der Gotthardstrasse aus gesehen, während sie aus dem Fenster des Bahnwagens keinen besonderen Eindruck macht.
Bald stand ich bei der Giustizia, der Gemeindegrenze, einem einsamen und düstern Ort. Heute, im Grau des regenschweren Gewölks und in der dunkelnden Abendstunde, war es doppelt schwermütig hier. Mancher Schmerzensschrei hat an dieser Stätte an die finstern Felsen hinaufgegellt, als der Hexenwahn hier seine Opfer mordete. Beim Bau der Gotthardbahn wurden die Trümmer des Hochgerichtes, von denen noch Franscini zu erzählen weiss, beseitigt, aber die Erinnerung an die Scheusslichkeiten, die hier vorkamen, lebt unauslöschlich in der Geschichte der Riviera fort.
Die Gegend der Giustizia galt noch lang als verrufen. Als die Erinnerungen an die Richtstätte zu verblassen begannen, gaben die Landstreicher, welche dort in den Schlupfwinkeln der Blöcke mit Vorliebe nächtigten, Anlass hierzu.
Besser als von Biasca selber sieht man die Vereinigung der beiden Talschaften Leventina und Val Blenio, wenn man sich auf der Strasse von Osogna her dem Flecken nähert. Dunkel und schwer scheidet, im Sasso di Pollegio als gigantischer Wall beginnend, der Höhenzug des Pizzo d' Erra die beiden Täler. Oben am Berge, wo ihn das Dunkel der Tannenwälder noch dunkler stimmt, klebten schwer und trag langgestreckte Nebel. Auch das sah nach Regen aus. Aus der Kinderzeit kam mir der Spruch in den Sinn: « Treid de Pelatis e Däge, so gits gärn Rage. » Ähnlich, wenn auch nicht im Reim, sagt der Pontironese: « Quand che che là la gâta in dra colmen fa catif temp»55 ). Ich kam indessen trocken heim, die Prophezeiung drängt scheint 's nicht auf rasche Erfüllung.
Im Schachen, links neben der Strasse, hatten Kesselflicker ihr fliegendes Heim aufgeschlagen. Die Leute heissen im Tessin in Erinnerung an ihre frühere Domizillosigkeit « i Heimatlosen », und wenn man uns Deutschschweizer mit ihnen necken will, so nennt man sie « i Tedesch », denn sie sind tatsächlich alle deutscher Zunge und stammen meist aus dem Kanton Schwyz, von Rothenthurm, Einsiedeln und Ibach. Diese Heimatlosen spielten Fussball, also « partout comme chez nous ».
Und schliesslich, es dunkelte stark, betrat ich wieder Biasca, den Ausgangspunkt meiner Wanderung.
Andere Wege.
Noch andere Wege durchziehen den Westhang des Monte di Biasca. Jener über Scieng lungh und Pizzigüt habe ich bereits schon Erwähnung getan. Dann ist noch der Weg über den « Scieng del pass », der vielleicht identisch ist mit dem im topographischen Atlas falsch eingezeichneten Weg nach Madei56 ) hinauf. Einen solchen längs dem Frodabache gibt es nämlich nicht. Nur ein « Piccasass » ( Mauerläufer ) verstehe es über diese Felsen hinaufzuklettern, erklärte mir ein Bauer. So ein Piccasass kann zu allem noch fliegen!
Der Weg über den Scieng del pass beginnt bei der Capeila della Santa Petronilla. Von dort klimmt er zu den Hütten der « Tre Cantoni » empor und weiter in derselben Richtung zum grössten Sturz des Frodabaches, der « Froda lunga » ( siehe Seite 167 ). Es ist schon an und für sich lohnend genug, der Froda, des Ausblickes und der wichtigen Szenerie wegen, die einem dort umgibt, einmal zur Froda lunga hinaufzusteigen. Dort stört einem niemand. Über die hohe Wand hinab flattert das Wasser als langes, zitterndes Silberband. Es stürzt in ein weites Becken von Granit. Wie vieler Jahrhunderte bedurfte es wohl, den stahlharten Stein so auszuhöhlen? Im Winde wächst und sinkt das Rauschen des hohen Sturzbaches, seltsam tönt seine eintönige Melodie, und die Schatten, die er auf die Felsmauer wirft, schweben stumm, vom Rhythmus des schwermütigen Liedes getragen, langsam auf und ab. Ja, es ist schön bei der Froda lunga, oben auf dem samtgrünen, steilen Mätteli, ob dem die Flühe so himmelhoch sich auftürmen und wo die Falken kreisen, und wer der Natur zu lauschen versteht, der möchte recht lang dort oben horchen und träumen.
Von den Cascine della Froda lunga zieht sich der Weg nach rechts in die Wand hinaus. Dort quert er die Scieng del pass genannte Grashalde, immer ansteigend, und schliesslich erreicht man eine Art Stufe, die den Hang durchzieht. Man befindet sich über der Val alta, bei der Rovere della guardia. Der Name erinnert daran, dass hier einst eine Eiche stand. Diese ist vor wenigen Jahren alt und morsch über die Felsen hinabgestürzt. Die Buben kletterten etwa auf sie hinaus. Die ungeheure Wand, die unter ihr in die Val alta abbricht, focht sie wenig an, denn wer in den Flühen des Monte di Biasca aufgewachsen ist, der ist einmal von besonderer Rasse. Hier gabelt sich der Weg. Der obere führt über « Tecc do fra » ( tetto dei fratti = Hüte der Mönche ), Voltelle in die Frodaschlucht hinein nach Scighiniera und von dort über Negressima nach Monte Tongia.
Der untere Weg berührt « Tecc do fra », Monsello, Cascina dei Rüsc und die einsame Maiensässe Mottone.Von hier kann man durch die Val de Ganna ansteigen und auf die obere Terrasse, wo die Alpen liegen, gelangen, oder man kann zu den Monti di Albato hinübersteigen. Diese Wege sind, aus der Ferne betrachtet, recht luftige Felsensteige. Aber Rossetti Luigi, dessen Frau auf Mottone mit ihren Kindern allein wirtschaftet, versicherte, der Weg sei gut. Selbst sechsjährige Kinder begingen ihn ohne Zaudern. Das mag zutreffen, aber manchem Jass-und Kegelklub würde es sauer, auf diesen Pfaden zu wandeln. .'Noch eines Weges muss ich gedenken, des Aufstieges nach Svallo. Dieser Weg liegt zwar etwas seitab, aber er ist von Wichtigkeit.
Um nach S val lo zu gelangen, folgt man dem Alpweg, der über Pianezza nach Carigiolo führt ( siehe Seite 164 ), bis Ara di Gaspare. Statt nun zur Capella di San Geronimo anzusteigen, überschreitet man den aus der Crenoneschlucht herabkommenden Bach und kommt an einer Gruppe so fröhlich und anmutig gelegener Häuschen vorbei, dass man sich auf den einladenden Bänken am liebsten gleich bei einem Quinto niederliesse. Man lasse diesen Gedanken ja nicht fallen, und wenn man gerade nichts Gescheiteres zu tun weiss, wandere man einmal extra zum Sass Carnon hinauf, so heisst nämlich dieser fröhliche Punkt ( siehe Seite 125 ). Im Frühling, wenn die Kirschbäume sich in ihrer Blütenpracht im Talwinde wiegen, oder im Herbst, wenn die Sonne nicht mehr so erbarmungslos auf den Berg-sturztrümmern glüht, mag es am schönsten sein da oben. Und wer zur Temperenz geschworen hat, kann sich da am murmelnden Brunnen laben. Aber angesichts all des Unheils, das das Wasser anno 1515 und 1868 anrichtete, geht hier vielleicht sogar ein eingeschworener Abstinent zum Nostrano über.
Gleich hinter den Hütten von Sass Carnon klimmt das Weglein nach Svallo den Berg hinan. Man sieht sich gern noch einmal um, bevor man den Anstieg beginnt, denn der Blick auf die Flussebenen des Ticino und Brenno ist gar schön von hieraus. Rascher als erwartet, aber auf steiler Bahn, erreicht man Monte Leggiuna, eine Hüttengruppe auf abschüssigen Mättlein, die von uralten Kastanienbäumen umgeben wird. In unverminderter Steilheit geht es weiter. Bald lösen die Buchen die Kastanienbäume ab, und der Weg zieht sich weit nach rechts zur Crenoneschlucht hinüber. Von felsiger Höhe grüsst die freundliche Maiensässe Canvagia über die steinige Wüste hinweg. Hier, am Rande der Schlucht, wendet sich das Weglein und steigt hoch über den Hütten von Monte Leggiuna zur Nordkante des Pizzo Magno an. Ein überraschend schöner Blick öffnet sich auf einen Schlag. Man sieht tief in die Val Pontirone hinein und erblickt in ihrem Hintergrunde die Felstürme des Pizzo delle Streghe und des Sasso di Borgeno. Im Taleinschnitt der Val Malvaglia ist das Rheinwaldhorn aufgetaucht. Zu Füssen, im Schattendunkel, rauscht die wilde Leggiuna. Wer an einem Frühlingsabend da oben gesessen wie ich, als die Felsen des Pizzo delle Streghe allmählich zu glühen begannen und das Dunkel aus Schlucht und Tälern die Hänge emporstieg, wird Svallo nie vergessen.
Svallo ist eine Maiensässe, und man sagt daher, Monte Svallo. Im topographischen Atlas steht aber seit Jahr und Tag unbeirrt Alpe di Svallo. Die Einheimischen sagen Scvall, und in den alten Urkunden liest man Zuallo. Diese Urkunden hat man einst hervorgeholt, als Biasca und Malvaglia sich um Monte Leggiuna stritten ( siehe Kap. 10 ).
Über die Kante des Pizzo Magno empor führt der Weg zu den äussersten Alpen der Val Pontirone, welche sich hier öffnet. Man gelangt auf die Alpterrasse am Nordfusse des Pizzo Mottone zur Alpe d' Airoldo, Alpe di Jarì, Alpe Giop und Alpe d' Albeglia und von hier über die Forcarella d' Albeglia in die weite Mulde der Alpe della Cava von der an anderer Stelle die Rede ist ( siehe Kap. 12 ).
Der Gipfelgrat des Monte Biasca.
In Hufeisenform, fast einem Kraterrande ähnlich, umzieht der Gipfelgrat des Monte di Biasca die Mulde des Laghetto. Vier beachtenswerte Erhebungen entragen der Gratmauer. Draussen steht als Eckpfeiler der grossen Haupttäler Riviera und Val Blenio der durch den Bergsturz bekanntgewordene Pizzo Magno. Auf ihn folgt, wenig hervortretend, der Pizzo Mottone. Südlich der Forcarella, ob der Val d' Osogna, gipfelt als stumpfe, dreiseitige Pyramide die Cima di Biasca. Von ihr zieht sich ein in der Mitte geborstener Grat zum Masnan hinaus.
Von den Erhebungen des Gipfelgrates ist der Pizzo Magno ( 2298 m ) die bekannteste. Als Crenone wurde sein Name weit herum bekannt, als er 1513 einen Teil Biascas verschüttete ( siehe Seite 125 ).
Der Pizzo Magno ist von Svallo und auch vom Pizzo Mottone her ohne Schwierigkeiten zu besteigen. Der Tiefblick die grausige Crenoneschlucht hinab, die herrliche Rundsicht, in welcher die Adula der interessanteste Ausschnitt ist, sind sehr schön. Gleichwohl kommt es selten vor, dass man den beachtenswerten Berg besucht. Das hat seine Gründe. Die Talsohle liegt tief, und wenn im Sommer die Sonne heiss über ihr brütet, bedarf es schon eines herzhaften Entschlusses zu einer Bergtour, nicht wegen des Aufstieges, so steil und lang er ist, sondern wegen des kniebrecherischen Abstieges, den man ja gewöhnlich am sonnigen Nachmittag macht und der einen mit jedem Schritt aus den kühlen Höhen dem heissen Talboden näher bringt.
Auch in die Val Blenio und besonders in die Leventina hinein schaut man vom Pizzo Magno. Gegenüber liegt breit und schwer der dunkle Monte di Sobrio. Das ist der Berg, über den anno 1478 am unschuldigen Kindleinstage die « Schlang vo Meylandt » kriechen wollte, um den Uristier, der ihrer in Irnis harrte, hinterrücks anzufallen. Aber es lag damals meterhoher Schnee in den Bergen, und das ist nichts für Schlangen.
Dort erblickt man Bodio, die Heimat von Stefano Franscini. Das Andenken dieses trefflichen Mannes beginnt zu verblassen. Wohl kennt und schätzt ihn jeder, den die Vergangenheit des Kantons Tessin interessiert. Aber das sind ihrer nicht viele. Franscinis Gedenkstein, der vor Jahren in einer Ecke der Bundeshaus-promenade in Bern an das Dasein dieses ersten Tessiner Bundesrates erinnerte, ist heute verschwunden. Die Fremdenkarawanserei, die dort neu entstanden ist, hatte keinen Raum übrig für das Andenken an den Mann, den uns die älteste schweizerische Talschaft italienischer Zunge schenkte.
Bodio ist im Begriffe, ein Industrieort zu werden. Eine derartige Umwandlung betrachtet man heute nicht mehr allgemein als eine glückliche Errungenschaft. Genug hiervon. Schauen wir uns lieber unsere Gipfel näher an. Plattig senken sich seine Nordosthänge in die Val Pontirone. Quer zu den Schichten bricht der Berg gegen Westen ab. Dort lösten sich vor vierhundert Jahren die Steinmassen, welche einen Teil Biascas begruben und nun den mächtigen Schuttkegel am Eingange der Val Blenio bilden. Wahrscheinlich war der Pizzo Magno vor 1513 ein-gipfelig. Es gab noch keinen « Magnetto », wie die Einheimischen den Nebengipfel tauften. Die Westwand mag erheblich höher und sehr steil gewesen sein.
Hoch über Alpe d' Airoldo 57 ) kann man vom Pizzo Magno meist über den Grat, der sich an mehreren Stellen schmal zusammenschnürt, zum Pizzo Mottone ( 2401 m ) hinüberspazieren. Es gibt einige Kletterstellen, aber sie sind leicht, und wenn zu allem noch der Duft der vielen Bränderli, die am Südabhang blühen, zum Grat emporsteigt, wie ich es einst genossen habe, dann ist es doppelt angenehm auf dieser Höhenwanderung.
Jahrbuch des Schweizer Alpenclub. 57. Jahrg., o Der Pizzo Mottone ergänzt wenig in der Rundsicht des Pizzo Magno, und man überschreitet ihn wohl meistens nur, um zur Forcarella di Lago hinüberzugelangen. Zwar braucht man diesen Umweg nicht zu machen, wenn man nach Biasca absteigen will, denn über die Hänge der Südflanke führen Geisswege direkt in die Tiefe.Viel steiler, stellenweise ganz ungangbar ist die oberste Gratflanke gegen die Val Pontirone hin. Dort am Grate horstete vor einigen Jahren ein Adlerpaar. Als die Apanage der Könige der Lüfte für die Sennen zu drückend wurde, schössen sie den Horst, der nicht erkletterbar gewesen sein soll, mit dem Militärgewehr herunter.
Vorn, wo sich vom Grate ein Sporn absenkt, der die Alpe Albeglia im Südosten abgrenzt, erblickt man plötzlich die weite Mulde von Cava und Sciengio unter sich. Wer dem Skisport fröhnt, denkt selbstverständlich sofort, dass da oben ein herrlicher Übungsplatz sei. Schnee hat es im Winter, und der dauert hier immer lang genug. Aber einladend sind die Steinhüttchen auf Cava zu einem Winteraufenthalt nicht, und der Zuzug ist nicht verlockend. Immerhin, von Pontirone aus wird man per Ski ansteigen können.
Über steinige Hänge erreicht man auf der Seite von Cava, unter dem Grate hinquerend, die Forcarella di Lago ( 2265 m ). Von dieser aus ist es unschwierig, die Cima di Biasca ( 2572 m ) zu gewinnen. Erst geht es über den Grat selbst, dann in dessen linker Flanke z.T. durch steinige Hänge auf die höchste Erhebung im Gipfelgrate des Monte di Biasca.
Weit und tief reicht der Blick. In der Ferne tauchen aus dem Dunst der Talebene des Ticino schlanke Türme auf. Dort liegt Bellinzona, die viel umstrittene Alpenpforte. Dahinter schliesst der langgestreckte Monte Ceneri das weite Flusstal ab. Der Monte Ceneri war die alte Südgrenze der Lepontier, erst südlich von ihm begann die Gallia cisalpina, bevor die Römer ins Land kamen und es romanisierten. Die « maladetti suizeri », die 1500 Jahre später von Norden her einbrachen, hatten also würdige Vorgänger.
Wie ein steiler Dachfirst schiebt sich die Cima di Biasca hinter den Ausläufern des Pizzo di Claro hervor, wenn man von Bellinzona das Tal hinaufschaut. Der Berg lockte mich schon in meinen Bubenjahren, sein riesiger Absturz gegen Osogna verlieh ihm für mich vollends den Reiz von etwas Eigenartigem, Geheimnisvollem. Wie ein altes Haus, von dem man sich seltsame Geschichten erzählt, kam er mir vor. Schliesslich zog ich zu seiner Besteigung aus. Selbstverständlich allein. Wer wäre mitgekommen in den sengenden Sonnenglast hinaus, in eine Gegend, wo es nicht auf Schritt und Tritt ein Wirtshaus gab mit kühlem Bier wie in Beilenz.
Die Finsternis schlich mir mit leisen Schritten aus dem Tal nach, als ich über Pianezza anstieg, und als ich die obern Maiensässen betrat, umfing mich das Dunkel. Es war eine wundersame, unvergessliche Juninacht. Hundertstimmig drang der Gesang der Grillen durch die schweratmende Stille. Durch das Blätterdach der Buchen strich mit leisem Rauschen der laue Nachtwind, der aus den tiefen Schluchten herauf das Brausen der Sturzbäche trug, das oft nah und dann wieder wie aus weiter Ferne ertönte.
Am Morgen stand ich auf der Cima di Biasca neben dem Steinmann und schaute ins Tal hinab, und als die Mittagsonne ihren Schleier über die Ticinoebene wob, war ich noch auf der herrlichen Höhe und hatte noch nicht genug. Nun hatte ich es schöner als jene, die nicht hatten mitkommen wollen und die « tief in des Tales Dampf und Rauch behaglich meinen, sie lebten auch ». Immer wieder zog es meine Augen auf den trotzigen Torrente. Ich erwog und studierte, aber daran dachte ich nicht, dass 23 Jahre später mein Neffe, der damals noch in den Windeln lag, bolzgrad über diese Felsen vor mir zum Gipfel hinaufklettern würde.
Die Osognesi haben für die Cima di Biasca den Namen Cima di Pivicium, nach der Alp Piviciolo am Südhange des Berges. Auch von dieser Seite ist der Gipfel leicht erreichbar. Steil ist nur sein Abbruch gegen den Laghetto.
Von der Cima di Biasca zieht sich der Grat südwestwärts ins Tessintal hinaus. Noch einmal schwingt er sich auf, dann bricht er steil in wuchtigen Stufen in die Riviera ab. Das Gratende ( P.2508,9 ) schmückt ein grosser Steinmann, den die « ingegneri » errichtet haben. Es soll ein Hauptpunkt dritter Ordnung sein. Dass die Lage des Gipfels dazu geeignet ist, begreift jeder, der bei gutem Wetter hier geweilt hat. Gewaltig ist der Ausblick nach allen Seiten. Weite Panoramen bietet mancher Tessiner Berg, Tiefblicke sind auch nicht selten, aber in solche Tiefen von 2300 m schaut man nicht oft. Nicht ein Chaos von Schnee und Schutt breitet sich hier zu Füssen aus, wie im Hochgebirge, sondern üppig grüne, weite Talebenen. Weisse Häuschen, blitzende Flussläufe und schnurgerade, weisse Strassenzüge beleben die Flächen. Val Blenio, Riviera und Leventina, die alten Tre Valli, Landschaften von reichen, geschichtlichen Erinnerungen, treten hier zusammen und öffnen sich dem Auge. Man weiss nicht, welchem Ausschnitt des gewaltigen Rundgemäldes man den Vorzug geben soll.
Die Wanderung von der Cima di Biasca zum Masnan ( P. 2508,9 ) ist unschwierig. Nur an einer einzigen Stelle tritt ein Hindernis entgegen. Halbwegs etwa klafft im Grate eine Bresche, welche der Schneidige gleich zu oberst und andere Leute etwas tiefer bewältigen. Auf alle Fälle kommt man gut durch. Auch von der Alpe Carigiolo herauf lässt sich der Gipfel unschwierig erklimmen und noch leichter von Alpe Stabiella aus. Aber was hat es für einen Zweck, alle diese Routen aufzuzählen. Der Klubführer hat es bereits besorgt, obwohl jahrein jahraus doch niemand auf den Masnan steigt, und mag er noch so keck neben dem Pizzo di Claro zur Kantonshauptstadt hinabgucken. Besteigt man doch sogar diesen Berg verhältnismässig wenig, obwohl er schon vor 150 Jahren dem Philosophen und Ästheten Georg Sulzer in seiner Schönheit aufgefallen ist. Bestiegen hat auch Sulzer den Pizzo di Claro nicht. 2500 m Höhendifferenz in einem Ruck waren ihm zu viel, und Etappen konnte dieser Winterthurer Gelehrte keine einlegen. Die Klosterfrauen ob Claro hätten den Ketzer nicht aufgenommen, und bei den Sennen auf Monte Morusa hätte es einem Ästheten wahrscheinlich nicht behagt.
Schlussbemerkung der Redaktion. Der Schluss dieser Monographie, nämlich die Kapitel 10—12, sowie die Anmerkungen 1—57 zu Seiten 62, 63, 68, 71, 77, 81, 82, 93, 97, 99, 100, 104, 106, 107, 110, 111, 115, 120, 122, 124, 126, 132, 134, 139, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 151, 153, 154, 157, 159, 165, 167, 170, 172, 175, 177, 182, 183, 185 und der Anhang zu Seite 158 erscheinen im Jahrbuch 58.