Abschied vom Pizol
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Abschied vom Pizol

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Daniel Bödmer

( Bern ) Jäh wird dir ein treuer Freund entrissen; grausam hat ihn der Tod ereilt. Eine körperliche Erscheinung ist unwiederbringlich verschwunden. Dein Schmerz wird tief und heftig sein wie das Ereignis. Vielleicht wird er sich mit der Zeit mildern im Lichte der Erinnerung, die des Dahingeschiedenen Sein und Wesen im Geiste weiterdauern lässt.

Du musst dich von einem treuen Tier, einem gemütlichen Heim, einem liebgewordenen Kunstwerk trennen, weil du etwa verreisest. Der Soldat nimmt Abschied von den Seinen, der Wanderer von der Heimat, beide um zurückzukehren. Ihr Kummer über das Entbehren des Vertrauten wird golden übersonnt von der Gewissheit des Wiedersehens.

Es gibt aber auch eine andere Art, Teures und Geliebtes zu verlieren: die Entfremdung. Ein Mensch, der dir nahegestanden, verändert sich, wendet sich von dir ab, nimmt schliesslich ein Wesen an, das du nicht mehr erkennst, obwohl er äusserlich vielleicht der alte und dir räumlich nahe bleibt. Hier ist es ein mähliches, kaum spürbares Abschiednehmen; aber gerade weil du weisst, dass es zumeist unabwendbar und endgültig ist, ergreift es dich mit dem tiefsten und brennendsten Weh. Quälend muss dir die Gegenwart eines Menschen sein, der einst dein Freund war, dessen Anblick jederzeit die schönsten Erinnerungen an unmerklich Entschwundenes in dir erweckt, und du vermagst nicht zu begreifen, weshalb die enge Verbindung gelöst und für alle Zeiten unwiederherstellbar sein soll. Diese Gegenwart reisst mit ihrer Frage an das Schicksal die geschlagene Wunde stets neu wieder auf.

Der Pizol ist weder vom Erdboden verschwunden noch bin ich durch äussere Hindernisse von ihm getrennt worden. Aber er hat sich - oder besser - er ist verwandelt worden. Auch ihn hat die üble Seuche erfasst, welche heutzutage zu unserm Leidwesen grassiert und die Naturschönheiten eine nach der andern der Merkantilisierung und Verschandelung ausliefert. Ich weiss, man muss mit dem viel missbrauchten und abgeschliffenen Wort « Profanation » behutsam umgehen. Aber wenn es irgendwo am Platze sein dürfte, dann hier, wo das Antlitz einer Landschaft so tiefgreifend entstellt worden ist.

Was wir an einem Berg lieben, mehr noch: verehren, was uns immer wieder anzieht, unsere Fantasie erregt und beschäftigt, sind nicht allein seine Schönheit, das Sichtbare, sondern fast mehr noch ein Unsagbares, Geheimnisvolles, das zum Herzen spricht. Bestimmte Berge, möchte man sagen, haben für dich oder mich ihren Mythos.

Dadurch, dass die Technik sich ihrer bemächtigt und sie der Allgemeinheit zugänglich macht, wird ein zartblauer Schleier zerrissen, der Berg verliert sein eigenes Antlitz, seine Seele; aus dem Gegenstand der Ehrfurcht und Bewunderung wird ein banaler, mondäner Sportrummelplatz, die Arena platter menschlicher Veranstaltungen unter dem Zeichen des Ehrgeizes, des Geltungstriebs, der Putzsucht, des hohlen Zeitvertreibs und des Massen-vergnügens, nicht zu sprechen von der finanziellen Seite.

Gewiss, schon früher erlebten wir Pizol-Freunde an manchem sonnigen Frühlingstag einen Grossaufmarsch von Besuchern. Aber diese berucksackten Skifahrer mit dem gemessenen Schritt waren keine nervösen, oberflächlichen Herdengemüter, sondern bildeten spontan, aber uneingestanden eine grosse Bergsteigergemeinde. Es herrschte eine unwillkürliche Verbundenheit unter ihnen, die aus der gleichen hohen Gesinnung und verwandtem Streben als natürliche Kameradschaft entsprang und wohl von jedem einzelnen, wenn auch meist unbewusst, empfunden wurde. Sie alle sehen sich mit einem Male verdrängt, schmerzlich überrascht, unzeitgemäss und lächerlich geworden. Die meisten von ihnen, die, wie ich, die moderne « Skirennbahn » meiden, werden wohl ihrem Lieblingsberg Valet sagen müssen.

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!. " mm Engelhörner Foto Josef Brun ( Luzerfl Bald wird die heitere Ruhe in den weissblauen Höhen einem tollen Treiben weichen: auf der Wildseelücke werden sich bunte Scharen mit schnittiger Keilhose statt ledernen Gamaschen, kecker Schirmmütze statt verwittertem Berghut, salopper Lunchtasche statt währschaftem Rucksack tummeln. Mugger Chamm, Gaffiahang und Waldschneise werden überflutet sein von geschniegelten, schnoddrigen Pistenrasern, ausgespien von den zwei unermüdlich aus den Tiefen von Wangs und Ragaz schöpfenden Robotern, deren unheimliches, durchdringendes Rattern und Sausen den eintönigen Mahlgeräuschen einer Mühle gleicht. Wird hier nicht dein lichtgesättigter Schneemantel, deine träumende Versunkenheit, deine keusche Schönheit - alles, was dich uns so liebenswert machte, zum grauen Staub des Gewöhnlichen zerrieben? Werden hier nicht im Berggelände städtisch-industrielle Zweig-stellen errichtet? Und doch hast du je und je « alles was du hast - wie reich es warver-schenkt, auf dass niemand dir die Krone raube !» Man wird fragen: Weshalb soviel Aufhebens, ein solcher Erguss elegischer Beschwörungen für das Ereignis, das ja nur eine kleine Episode in einer allgemeinen, unausweichlichen Zeitentwicklung darstellt? Was hindert dich und deine Gesinnungsfreunde, den Pizol auf eure Weise fürderhin zu besteigen und zu geniessen oder euch an andern, noch ausserhalb der stählernen Tentakel liegenden Berggegenden schadlos zu halten? Darauf kann ich nur antworten: einerseits, dass mir der Pizol zu gut ist für einen faulen Kompromiss, anderseits, dass der Verlust für mich - und sicher viele Kameraden - gross genug ist, um einige Worte der wehmütigen Klage zu rechtfertigen, besonders gross noch, da sich gerade dieser Berg viele Jahre hindurch der technischen Anfechtungen mit Erfolg erwehrt hat.

Im Bewusstsein des reichen und holden Einst vermag ich es nun einmal nicht über mich, mit dem « neuen » Pizol unter gänzlich veränderten Verhältnissen wiederum eine enge Beziehung herzustellen. Ich bekenne es offen: Mir bangt vor der Entzauberung des Bergs. Um die ganze Leuchtkraft der Pizol-Erlebnisse in der Erinnerung bewahren zu können, muss ich den schmerzlichen Schnitt völlig vollziehen, stillen und innigen, nicht sentimentalen Abschied nehmen. Nur zu gut bin ich mir der Einmaligkeit der schönsten Eindrücke und höchsten Empfindungen bewusst, um zu erkennen, dass Wiederholungen hier nur Verflachung, Verwässerung und trübsinnig vergleichende Rückschau bedeuten würden - einen Zustand, den ich mir ersparen möchte. Als dreizehngliedrige Korallenkette ziehen sich meine Pizol-Fahrten durch 14 Jahre Bergsteigertuns, jede einzelne ein neues Entzücken besiegelnd. Es sind Tage sonniger Bläue darunter, Tage des Kampfes mit dem Schneesturm, Tage des Durchbruchs aus verzweifelter Nebelstimmung zum triumphierenden Glanz. Indem ich innerlich den Schlußstrich unter ein mit goldenen Lettern geschriebenes Buch des Pizols ziehe, möchte ich hier euch, meinen bekannten und unbekannten Kameraden, einiges aus diesem Erleben, einer göttlichen Gnade zu verdankende Höhepunkte, vermitteln, zur Ehre und Abschiedsfeier für dieses herrliche Stück Natur.

Wollte mich jemand darüber zur Rede stellen, weshalb eigentlich gerade dieser Berg es mir so angetan habe, so müsste ich ihm eine überzeugende Erklärung schuldig bleiben. Soll ich 's den romantischen und begeisterten Erzählungen meines alten Lehrers Bossi zuschreiben, die einen silbernen Nimbus um den Pizol woben? War es der Begriff der « Sonne », der, diesem Name innewohnend, mich fesselte? Waren es besonders glückliche Umstände, unter denen unsere erste Bekanntschaft erfolgte? Vielleicht von allem ein wenig.

Ich blicke in den Kriegswinter 1940 zurück, als ich das erstemal den breiten, wald-besetzten Rücken in Angriff nahm, wo Steilstufen und Terrassen rhythmisch reizvoll einander ablösen und derart einen gleichmässigen Wechsel zwischen Anspannung und beschaulichem Gleiten ermöglichen. Es war eine Zeit ungestümen Bergdrangs, als jeder Gipfel für das jugendliche Gemüt noch eine Art Offenbarung bedeutete, die Zeit einer Sehnsucht, welche die alpine « Enthaltungskur » längeren Militärdienstes mächtig hatte anschwellen lassen. Vergeblich spähe ich, erwartungsvoll und unternehmungslustig in der SAC-Hütte angekommen, nach dem berühmten und ersehnten Berg aus. Einer Skifahrergruppe folgend, erreiche ich die Wildseelücke. Wie ein verwunschenes Reich öffnet sich hier plötzlich meinem Blick das Halbrund der Grauhörner, die sich als schützender Wall um den Wildsee und den makellos weissen Gletscher schliessen. Auch später hat jedesmal wieder an diesem Punkt ein ehr-fürchtiges Staunen meinen Schritt gehemmt, als wollte ich zuerst die Erlaubnis abwarten, in dieses Heiligtum einzudringen. Nur zu rasch ist die Mulde durchmessen, die Schulter erstiegen und sind die kurzen Felsen zum höchsten Punkt erklettert. Nie hätte ich erwartet, dass der ganze weite Alpenbogen bis zur Mischabel sich der Aussicht darbieten würde.

Unbändiges Glücksgefühl beseelt mich bei der Abfahrt. Gesang, frohes Lachen und jubelnde Sonne berauschen mich bei der Hütte. Hier scheinen alle Menschen eine grosse, selbstverständliche Familie zu bilden, in die ich mich vom ersten Tage an aufgenommen fühle.

Lange noch klingt das Entzücken über diese erste Begegnung mit dem Pizol nach. Von nun an bin ich ihm für immer verfallen! Sobald das weisse Laken sich wieder über die Landschaft legt, ergreift mich die Sehnsucht nach jenen sonnigen Höhen; sie verstärkt sich zum unwiderstehlichen Verlangen, das mich mitten ins Unwetter hineintreibt, weil ich die erste, aber nicht beste Gelegenheit zur Wiederholung ergreife. Schon beim Aufstieg durchfahren mich dämonische Schauer; düster-drohend wirkt der Wald auf mich einsamen Pilger. Die Hütte ist bis auf einen Lawinenposten ausgestorben. Am nächsten Morgen heult der Schneesturm über dem Mugger Chamm. Aber ich achte seiner nicht. Unbeirrbar strebe ich meinem Ziele zu, das allein meine Begierde stillen kann. Der eine der beiden Feldgrauen leistet mir Gesellschaft. Gegen die entfesselten Elemente kämpfend, dringen wir mit Mühe über die Wildseelücke in den Kessel der Grauen Hörner ein, wo wir etwas geschützt sind. Über blankgefegte Buckel ersteigen wir die Schulter. Wieder und heftiger packt uns der Sturm und peitscht uns über den Grat weg Schnee ins Gesicht. Unser Versuch, die Gipfelfelsen zu erklettern, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Ich bin über den errungenen Erfolg dennoch zufrieden und froh, aus diesem weissen Hexensabbath heil zu entkommen.

So entsteht eine Tradition der jährlichen Wiederkehr. Einen nach dem andern, führe ich meine Freunde in dieses Gebiet ein und nehme jedesmal aufs neue Anteil an der hellen Begeisterung, welche dieses Skikleinod bei männiglich auslöst. Zwischendurch muss ich aber auch wieder einsame Zwiesprache mit dem alten grauen Herrn halten. Allmählich lerne ich ihn so in den verschiedensten Stimmungen kennen.

Wer ist imstande, jene nächtlichen Wanderungen von der Gaffia- zur SAC-Hütte mit all ihrem Zauber wiederzugeben, da man schon etwas samstäglich müde über den windverharschten Schnee einer kahlen Höckerlandschaft der bis zuletzt unsichtbaren Unterkunft zustrebt? Aus meinem Tagebuch gebe ich den frisch geformten Eindruck wieder: « Wenn in der Gaffiahütte die breiten Scharen zurückbleiben, beginnt auf dieser letzten Etappe die eigentliche Weihestunde, da man allein im weissen Reich die Nachtgeister auf sich einwirken lassen kann. Du scheinst in eine fremde, ferne Welt hineinzuschreiten. Wie eine goldene Schale liegt der Mond im dunkelblauen Samt des Himmels eingebettet und giesst unaufhörlich seinen milchigen Schein über die erstarrte Erde aus. Wie ist es möglich, dass der, welcher jemals dieses weiche Licht wie eine Liebkosung empfangen hat, behaupten kann, es sei tot und kalt? Ist er nicht unter diesem wundersamen, magischen Flimmern im Innersten erschauert? Noch nie hatte ich das geheimnisvolle Wesen der Mondhelle, unter der sich von jeher das Bergerlebnis besonders vertiefte, deutlicher empfunden als heute. Und doch ver- möchte ich nicht, es zu schildern, denn dieses Licht wendet sich vor allem ans Unterbewusstsein. Das Sonnenlicht ist von den Flammen der Materie, der stofflichen Schwere getränkt, unmittelbar dem Irdischen verwandt. Der Mondschein hingegen ist indirektes, geläutertes Licht, gewissermassen aus dem unreinen Erz der Sonnenglut geschmolzen. Abgeklärt und vergeistigt einerseits, aber auch wieder ambivalent ist es in seiner vagen, weiblich-sinnlichen Schwebe.

Aus scheinbar tiefer Ferne rücken schattenhafte Gestalten mit einem Schlag in unmittelbare Nähe. Ihr Schweigen macht sie fremd. Sie gleiten an mir vorüber, und die Überholten bleiben, büssenden Pilgern ähnlich, zurück. Trotz meiner Müdigkeit bedaure ich es fast, als das aus der Hütte quellende Leben diesem wohltuenden Spuk ein plötzliches Ende bereitet. » Wurde man des Treibens auf der normalen Route nach Wangs überdrüssig, so konnte man sich bei guter Verschneiung in den östlichen Arm des grossen Hufeisens flüchten. Dort empfing einen ein verträumtes, mit allem Liebreiz unberührter Natur ausgestattetes Gelände. Über die sanften weissen Wellen der « Laufböden » wurde man im stiebenden Pulver hinab-gewiegt in den lichten, hochstämmigen Waldgürtel von Obersäss, der wie ein richtiges verzaubertes Märchenreich dich umfing. Bald öffnet sich der Hang wieder und in ununterbrochener Fahrt tragen dich die Ski Vilters zu. Wenn's gut ging, trafst du wohl einen Schneehasen, ein schnarrendes Schneehuhn, aber kaum je einen Menschen.

Als ich wieder einmal weitab wohnenden Freunden das Pizolreich zu zeigen hatte, reichte der Nebel bis auf die Sohle des Seeztals herab. Vertrauensvoll folgen meine Leute der Spur durch die ausgelöschte Landschaft. Feucht und dämpfend umgibt uns die ver-schimmelte Luft. Bald gesellt sich die Dunkelheit dazu und macht unsere Verlorenheit noch grösser. Aber ich zweifle keinen Moment daran, dass sich morgen die Sonne sieghaft über Nacht und Nebel erheben wird.

In der Tat drückt sie beim sonntäglichen Anstieg mächtig gegen unsere weissen Kerker-wände; ihr Triumph kann nur noch eine Frage von Minuten und Metern sein. Von freudigem Vorgefühl bewegt, male ich meinen Gefährten die Schönheit der vermeintlich bald sich enthüllenden Alpenwelt aus. Mit wachsender Spannung und Ungeduld erwarten wir im Höhersteigen das Ereignis. Wir erklimmen den unsichtbaren. Gipfel. Endlich! Ein kleines goldenes Loch im Nebel - aber dabei bleibt es, trotz langen Wartens. Ein herrlicher Pulverschnee entschädigt uns für die Enttäuschung mit einer Abfahrt, die in einer wiederum namenlosen, weiss uniformierten und jeder Charakteristik entblössten Landschaft vonstatten geht. Meine Freunde müssen sich damit begnügen, den Pizol als Vorstellung, die sich an meinen überschwänglichen Schilderungen entzünden konnte, mit nach Hause zu nehmen.

Neuer Szenenwechsel. « Heute werden wir vom Pizol nicht viel sehen », äussert sich resigniert der alte « Pizolianer » Feueralper, als wir, eine kleine Schar Unentwegter, im Hochwinter die warme Küche von Frau Wyss im Zürcher Haus verlassen. Draussen treiben die Schneehexen ihr kicherndes Unwesen. Wie Blinde spuren wir im frischen weissen Flaum zur Gaffia. Kaum 200 m höher rennen wir gegen eine Schneeverwehung und finden uns trotz der Stangenmarkierung kaum zurecht. Über den höckrigen Rücken des Mugger Chamins braust der Sturm dahin. Scharfkantiger, verblasener Hartschnee wechselt mit grossen « Duvets ». Unterwegs kreuzen wir die einzigen Nächtiger der SAC-Hütte, so dass wir dort nur einen schneeerfüllten Windfang, einen halberkalteten Ofen und das unheimliche Ächzen des Windes vorfinden. Mühselig gewinnen wir mit Kochen etwas Wärme. Wir geben vor, den Berg zu belagern, und spähen wieder und wieder aus dem Schütze der Türe ins tobende Element, ob es sich nicht doch noch beruhige. Umsonst! Nach zwei Stunden Wartens fahren wir schön in der Reihe ab. Kurz nach Mittag langen wir bei unserm Ausgangspunkt an.

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Davosersee Foto L. Gensetter ( Davos-Platz ) I Während ich eine Tasse Tee schlürfe, scheint es mir, wie wenn die Wolkendecke, die uns bis jetzt gefangen gehalten hatte, ihren Würggriff um den Berg etwas lockern wollte. Schon wird der Himmel in seiner ganzen Reinheit wie ein blaues Versprechen über dem Sarganserland sichtbar. Ich fühle es: der Pizol ruft! Er bietet seinen treuen Freunden eine besondere Gunst, das Geschenk eines einmaligen Augenblicks an, den es zu greifen gilt. Da gibt 's kein Halten mehr, keine Zweifel oder Bedenken wegen der kaum noch vier Stunden Tag, die mir zur Verfügung stehen! Rasch entschlossen streife ich die Felle an die Ski und lasse mich von einer überbordenden Begeisterung wie auf Flügeln wiederum den Höhen zutragen. Wer beschreibt das Entzücken, das mich erfasst, als in der immer wieder grossartig anmutenden Metamorphose der Himmel mählich in blauer Pracht erblühend sich öffnet, die Wolkenfetzen wie welke Knospenhüllen abstreift und in den Tiefen versinken lässt! Eine milde Nachmittagswintersonne lächelt mich an und lässt die Berge in märchenhafter Silber-pracht frisch erstehen; es ist, wie wenn die Erde um mich soeben neu erschaffen worden wäre - für mich allein, der ich einsam in diesem überirdisch erstrahlenden Reich dahin-wandere.

Im Valplona macht der zusammengehäufte, windgepresste Schnee die Spurarbeit ungeahnt mühsam. Mein Schwung droht zu erlahmen, und ich beginne angesichts meiner lächerlichen Fortschritte zu verzagen; schon liebäugle ich mit dem Gedanken der Umkehr. Da erscheint hinter mir am Horizont unerwartet eine Gestalt. Freudig durchzuckt es mich; in meiner Vorstellung wird sie zum rettenden Freund und gibt mir neue Kraft. In der Wildseelücke lasse ich den Unbekannten aufschliessen. Was verschägt 's, dass er sich ausserstande erklärt, mich bei der Spurarbeit im knietiefen Schnee abzulösen? Mein Blick ist gefesselt durch das Bild des Pizols inmitten von Goldstaubwirbeln. Die Felsen sind mit Schnee wie « kan-diert ».

Glücklicherweise nimmt die Neuschneedecke vom Wildsee an etwas ab, und mit unverminderter Spannkraft strebe ich dem Gipfel zu. Welch ein Glück, dass es im Leben solche Höhepunkte der Entrückung, intensivsten Erlebens gibt! Als wir unser Ziel erreicht haben, erhaschen wir den letzten warmen Strahl einer müde am Horizont in Orange verschwimmenden Sonne. In wenigen Minuten wird sie vom Abgrund verschluckt sein und die feindliche Nacht mit dem unsichtbaren Flügelschlag eines Riesenvogels uns erschauern lassen. Aber diese Minuten und die freudige Erwartung derselben sind unvergessliche Belohnung für eine masslos scheinende Anstrengung und einen von Finsternis und Kälte bedrohten, gefahrvollen Rückweg.

16.30 Uhr schnellen wir wie der Pfeil vom Bogen in die Tiefe. Hoch auf stiebt der Pulverschnee; man wähnt den nun rasch um sich greifenden violetten Frost beinahe zu sehen. Die beiden Gegensteigungen sind, auch mit Fellen, zeitraubend. In allen Regenbogenfarben malt die versunkene Sonne den östlichen Horizont, und noch vor der Gaffia schlägt die Dunkelheit über uns zusammen. Unterhalb der Waldgrenze lauert obendrein noch ein Nebelmeer. Es setzt etliche Stürze ab, bis wir in der NSKZ-Hütte anlangen, wo uns das Hüttenwartehepaar zwar verständnislos kopfschüttelnd, aber doch besorgt mit heissem Tee versieht.

Über die restliche Abfahrt erlaubt mir der Leser, den Mantel des Vergessens zu breiten. Ich wusste: kein Preis wäre zu hoch gewesen für das genossene Entzücken, und so quälte ich mich eben so gut es ging in der durch Nebel verdichteten, fast greifbaren Finsternis, von schlecht verschneiten Steinen umlauert, nach Wangs hinab. Für den Pizol hätte ich jederzeit freudig noch mehr geopfert als heute, wo ich doch das Schönste, was einem Skifahrer gewährt ist, die Abfahrt, drangegeben habe.

Ich fühle geheimste, heilige Beziehungen zu diesem Berg, der mir ähnlich lieb geworden ist, wenngleich vielleicht aus andern Gründen, wie der Tödi Hans Morgenthaler. Ich könnte immer und immer wieder nur diesen Berg winters besteigen und zufrieden sein. Nachdem nun aber zwei seiner offenen Flanken die grausamen, hässlichen Male eiserner Sturmbrücken erdulden mussten und der Eroberung und Verunstaltung durch eine namenlose Menge ausgesetzt sind, werde ich von dir, lieber Pizol, Abschied nehmen müssen. Nur noch im Geiste siehst du mich wie in alten Zeiten über die so vertraute Wildseelücke deinem Gletscher zugleiten und der einstigen Weggefährten gedenken. Oder doch nicht? Noch ganz schüchtern regt sich eine zarte Hoffnung in der Frage: Werde ich vielleicht neue, abgelegene und verborgene Wege zu dir finden? Von Vermol durchs Weisstannental über den Schottensee oder über die Alp Gamidaur und die Schwarzen Hörner, reine Wege, auf denen du mir als der alte, liebe und unverfälschte Berg mit dem unversieglichen Born heiteren Glücks erscheinen wirst?

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