Albert von Haller's Alpen
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Albert von Haller's Alpen

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Von Dr. Carl Meyer.

Schon zu Ende des Mittelalters ist unsere Muttersprache in diejenige Periode ihrer Entwicklung eingetreten, welche man in der Literaturgeschichte die neuhochdeutsche zu nennen pflegt; neu im Gregensatze zu frühern Blüthenperioden derselben hoch-deutschen Sprache, hochdeutsch im Gegensatze zu dem ausser Holland freilich nur noch als Mundart fortlebenden Niederdeutschen. Mit dem Beginn des sechszehnten Jahrhunderts ist dann dieses sogenannte Neuhochdeutsche für ganz Deutschland Schriftsprache geworden, und es knüpft sich letzteres Ereigniss bekanntlich vorzugsweise an den Namen Martin Luthers. Ein Jahrhundert später ist dann die deutsche Poesie, welche übrigens schon im Mittelalter ein Zeitalter voll Glanz und Herrlichkeit gefeiert hatte, vornehmlich durch die Thätigkeit des schlesischen Dichters Martin Opitz neu erstanden.

Indessen die Dichtungen des sechszehnten Jahrhunderts waren von demjenigen, was man heutzutage unter Poesie versteht, noch ziemlich weit entfernt.

Feststellung der Form, Mass und Ordnung, das sind ihre einzigen wirklichen Verdienste; an den Inhalt und Stoff dürfen wir noch keinerlei Ansprüche machen » Einige Jahrzehnte später machte sich freilich das Verlangen nach sinnlich belebtem und concretern Stoffen wieder geltend; allein die neuen Tonangeber, welche an die Stelle von Opitz traten, schritten nun ihrerseits über jedes vernünftige Mass hinaus, so dass Wohlgefallen an " Wollust oder an Grausamkeit an die Stelle der berechtigten belebten Sinnlichkeit trat. Endlich konnte auch die Reaktion gegen die zumal durch'Hoffmannswaldau repräsentirte Wollust und Grausamkeit nicht ausbleiben, und an deren Stelle trat eine nicht nur entnüchterte, sondern geradezu verdrossene und abgespannte Poesie. Auf der Grenzscheide des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts hatte es den Anschein, als ob die ganze Litteratur, von einem Extrem in das andere geworfen, einer langsamen, aber völligen Auflösung entgegengehe.

Im Gegensatze nun zu allen diesen Schwankungen und Auswüchsen unserer Poesie beruht H a 11 e r s erstes und hauptsächlichstes Verdienst darin, dass er zum ersten Male wieder einen der dichterisehen Behandlung " würdigen Gegenstand auswählte. Der Gegenstand, die poetische Schilderung der Schweizeralpen, erscheint um so würdiger, als ein nicht viel älterer Dichter, der Hamburger Brockes, sich zwar ebenfalls der Schilderung der Natur zugewandt, seine Schilderungen ab*er durch allzu tiefes Eingehen in Kleinigkeiten zu. einer höchst ermüdenden Lektüre gemacht hat.

Anders nun Haller. Schon die Natur, welche ihn, den gebornen Schweizer, umgab, war eine weit interessantere als diejenige, welche Broekes zu Gebote stand. Bei einem Bewohner des flachen Norddeutschlands lag die Versuchung ungemein nahe, sich eben wegen des gänzlichen Mangels an grossartigen Umgebungen allzusehr in detailirte Kleinigkeiten zu verlieren. Bei Haller hingegen bleibt der grossartige Hintergrund stehen, selbst wenn ihn hie und da Einzelheiten oder > Kleinigkeiten über Gebühr in Anspruch nehmen. Sodann hat der schweizerische Dichter zweierlei glücklich vermieden, was den Schilderungen seines norddeutschen Berufsgenossen nicht eben zum Yortheil gereicht. Es ist das einmal die teleologische Tendenz, das Bestreben, an allen geschilderten Gegenständen die nützliche Seite herauszufinden. Wir verlangen mit Eecht von der Poesie, dass sie schön, wahr und gut sei; dagegen die Nützlichkeit ihrer Stoffe, der Werth, den dieselben für das hausbackene Alltagsleben haben, kommt eigentlich gar nicht in Betracht. Es ist daher störend, wenn der Dichter z.B. uns damit unterhält, was für Nachtheile einem Baume daraus erwüchsen, wenn sein Stamm nicht lang und rund, sondern kurz und eckig wäre, oder wenn die Knospen nicht auf der Seite der Zweige, sondern ober- oder unterhalb derselben hervorkamen. Mit solchen Erörterungen pfuscht der Dichter dem Botaniker oder gar dem Gärtner in 's Handwerk, und das von ihm beabsichtigte Gemälde ist zu einer halb und halb wissenschaftlichen Abhandlung ausgeartet. Zwar weiss auch Haller die wirklichen oder erträumten Vortheile herauszufinden, welche die Bewohner des Hochgebirgs vor denen des Flachlandes voraus haben;

nirgends aber verliert er sich so weit in die Teleologie, da'ss ihm dergleichen Ergebnisse des reflektirenden Verstandes zur Hauptsache werden. Haller gibt überall Schilderungen; Brockes hingegen Abhandlungen und Erörterungen in metrischer Form. Zweitens findet sich bei Brockes, ich möchte sagen, viel Andacht und Erkenntlichkeit gegen Gott. Nicht als ob dergleichen an und für sich etwas verwerfliches oder verächtliches wäre, oder als ob man an der Aufrichtigkeit seiner dankbaren Gesinnung zweifeln müsste. Aber Brockes trägt dieselbe zu häufig und zu sehr zur Schau und verliert darüber zu viel Worte. Jede Kirsch-blüthe und jeder gebratene Apfel erinnert ihn an Lottes Allmacht oder an die Schönheit des Himmels; als Zeichen einer kindlich frommen Seele kann man sich dergleichen allenfalls gefallen lassen, als Aeusserung eines dichterisch begabten Geistes aber nicht. Und diese dankbaren Redensarten, mit welchen Brockes seine Gedichte regelmässig schliesst, sind um so weniger erhebend, als sie sich überall eigentlich an höchst materielle Dinge knüpfen.

Haben wir vorhin die Alpen als einen der poetischen Schilderung würdigen Gegenstand bezeichnet, so entsteht nun die Frage, ob dieselben auch ein passender und mit Erfolg darstellbarer Stoff sind. Leider lässt sich diese zweite Frage nun nicht ebenso leicht und unbedingt bejahen als die erste.Vielmehr ist Haller gerade durch den gewählten Stoff mehr, als es wünschenswerth war, in das Gebiet einer andern Kunst, in das der Malerei gerathen. Wer Lessing's Laokoon gelesen

25 hat, wird in diesem Urtheile keinen ungerechten Vorwurf erblicken;

es sei mir daher gestattet, die Quintessenz jener berühmten Abhandlung in kurzen " Worten darzulegen.

Bekanntlich hat es die Malerei und die bildende Kunst mit den körperlichen Eigenschaften der darzustellenden Gegenstände zu thun, die Poesie hingegen mit deren Handlungen. Jene ruhen im Räume, diese hingegen bewegen sich in der Zeit. Gemälde, welche uns ein und dieselbe Persönlichkeit drei- und viermal in verschiedener Lage innerhalb eines einzigen Rahmens zeigen, gehören einer glücklicherweise vergangenen Epoche der Kunst an. Andrerseits vermögen aber auch Dichtungen, welche ihr Objekt fortwährend ruhend und ohne Handlung darstellen, auf die Dauer nicht zu fesseln, und derjenige, wrelcher sie liest, wird bald ein Gefühl von Abspannung und langer Weile empfinden.

Sehen wir zu, in welchem Verhältniss Haller's -

er hat uns statt des Geschaffenen das Schaffen selbst in seinen verschiedenen Stadien vor Augen geführt. Letzteres konnte nun aber Haller nicht. Hätte er bei jeder Alpenpflanze das allmälige Hervorwachsen derselben aus ihrem Samenkorn, bei jedem Fels dessen Entstehung in Folge geologischer Katastrophen dargestellt, so wäre das letzte Uebel ärger denn das erste geworden; an die Stelle einer poetischen Beschreibung wäre eine wissenschaftliche Abhandlung getreten, letztere aber hätte hinwiederum Gefahr gelaufen, einige Jahre später durch irgend ein neues geologisches oder physiologisches System einfach antiquiert zu werden.

Die Alpen in Aktion zu versetzen war also Haller nicht möglich; er musste dieselben vielmehr schildern, wie sie sich ihm in ruhendem Zustande darstellten; damit aber hat er sich eine Arbeit auferlegt, deren Lösung für den Maler viel leichter gewesen wäre, als für den Dichter. Das ganze Gedicht ist gleichsam ein Gemälde oder vielmehr eine fortlaufende Eeihe von kleinen Gemälden; der beste Beweis hiefür ist der, dass man schon in Ausgaben desselben in der That zu jeder Strophe eine niedliche Zeichnung angefertigt hat, welche dçn Inhalt der letztern im Bilde darstellt.

Wie gross nun aber der Nachtheil ist, in welchem sich bei solchen Schilderungen der Dichter im Vergleich mit dem Maler findet, mag an folgender Stelle gezeigt werden, Str. 39, 40 heisst es:

Dort ragt das hohe Haupt am edeln Enziane > Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin: Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne, Sein blauer Bruder selbst bückt sich, und ehret ihn. Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen, Thürmt sich am Stengel auf, und krönt sein grau Gewand: Der Blätter glattes Weiss, mit tiefem Grün durchzogen, Bestrahlt der bunte Blick von feuchtem Diamant; Gerechtestes Gesetz, dass Kraft sich Zierd' vermähle! In einem schönen Leib wohnt eine schön're Seele.

Hier kriecht ein niedrig Kraut, gleich einem grauen

Nebel,

Dem die Natur sein Blatt in Kreutze hingelegt; Die holde Blume zeigt die zwei vergüldten Schnäbel, Die ein von Amethyst gebildter Vogel trägt, Dort wirft ein glänzend Blatt, in Finger ausgekerbet, Auf einen hellen Bach den grünen Wiederschein; Der Blumen zarten Schnee, den matter Purpur färbet, Schliesst ein gestreifter Stern in weisse Strahlen ein; Smaragd und Kosen blüh'n, auch auf zertretner Heide, Und Felsen decken sich mit einem Purpurkleide.

Es ist gar nicht leicht, sich aus dieser, wenn schon in ihrer Art meisterhaften Schilderung eine deutliche Vorstellung des geschilderten Gegenstandes zu machen, namentlich wenn man denselben in Wirklichkeit noch gar nicht gesehen hat. Glücklicherweise ist der Name der zuerst geschilderten Pflanze der Enziane, nicht verschwiegen;

bei denen der zweiten Strophe hingegen fehlt derselbe, und die Anmerkungen unter dem Texte werden wohl den meisten Lesern, zumal den nicht in die Mysterien der Botanik eingeweihten, höchst willkommen sein. Wir erfahren aus denselben, dass Haller zuerst « Antirrhinum caule procumbente, foliis verti-cillatis, floribus congestis », sodann « astrantia foliis quinquelobatis lobis tripartitis », drittens « ledum foliis glabris flore tubuloso », zuletzt endlich « silène acaulis » schildern wollte. Aus einer nur einigermassen ähnlichen Abbildung der nämlichen Gewächse hingegen könnte, sich jeder rasch und leicht eine sichere Vorstellung derselben machen.

Auch Haller's Sprache ist nicht immer nachahmungs-würdig und seine ungenauen Reime ebenso wenig. Letztere freilich waren in unserer Sprache bei einem vollständig durchgereimten Gedichte von 49 Strophen oder 490 Versen schwer zu vermeiden; doch sieht z.B. folgende Stelle arg genug aus:

Die Kunst hat keinen Theil an seinen Hirtenliedern, Im ungeschmückten Lied mahlt er den freien Sinn; Auch wenn er dichten soll, bleibt er bei seinen Widern, Und seine Muse spricht wie seine Schäferin.

Der « Widder » musste, um auf die « Lieder » auch nur nothdürftig reimen zu können, auf eines seiher beiden Hörner ( resp. d ) verzichten. Und in die Sprache hat sich, was freilich einem Berner des achtzehnten Jahrhunderts ebenfalls leicht widerfahren konnte, manches mundartliche, in der Schriftsprache unzulässige, eingeschlichen sowohl hinsichtlich des Gebrauchs einzelner Wörter als hinsichtlich der Konstruktion ganzer Sätze.

Ausdrücke wie « Gems » für Gemse ( 24,5 ), wie « Staffeln » für « Stufen » ( 10,8 ), « Huft * für « Hüfte » ( 11,6 ), « Liebste » für « Geliebte » sind geradezu verwerflich; ebenso Konstruktionen wie 2,5:

Was hat ein Fürst bevor, das einem Schäfer fehlet?

Der Zepter ekelt ihm, wie dem sein Hirtenstab, oder die geradezu unklare Stelle 9,2:

„ Man misst die Strassen nicht zu Rom und Athen. "

Hier sieht man im Grunde erst aus der französischen Uebersetzung des Herrn V. B. Tscharner, wie Haller die Stelle verstanden hat: On ne mesure pas les chemins, de Rome et d' Athènes, d.h. die abgemessenen Strassen Roms und Athens finden hier ihresgleichen nicht.

Auch einige schwülstige Ausdrücke hat Haller gebraucht, z.B. 18,5 die « verhassten Gründe » eine Bezeichnung der Thäler im Gegensatze zu den Höhen, oder die « Pöbelkräuter » ( 39,2 ), zu welchen der Dichter alles dasjenige zu rechnen scheint, was die Höhe der gelben Enziane nicht erreicht.

Ein Nachtheil endlich, welcher keineswegs gering anzuschlagen ist, ist der panegyrische Ton, welcher sich durch die ganze Dichtung zieht. Um die Alpen nebst ihren Bewohnern in möglichst günstigem Lichte darzustellen, glaubte Ilaller alles andere bis zu einem gewissen Grade herabsetzen zu müssen. So preist er die Berge auf Unkosten der Thäler, die Sennen auf Unkosten der Ackerbauer und der gewerbetreibenden Städter, die Bergwasser auf Unkosten des in den Hochalpen nicht vorhandenen Weines ( Str. 23 ), die Republik als Vorrecht der Alpenbewohner, auf Unkosten der Monarchie ( Str. 30 ), die Nichtbenutzung

Der unbefangene moderne Leser wird dergleichen Schilderungen nicht ohne ein gewisses Lächeln gelten lassen. Zur Entschuldigung dieser panegyrischen Anschauungsweise lässt sich indessen geltend machen, dass Haller in einer Zeit lebte, in welcher die heillose Unnatur der höhern Stände den einzelnen oppo-sitionell Gestimmten leicht zu extravaganter Bewunderung der minder civilisirten Gebirgswelt und ihrer Bewohner verleiten mochte.

" Wie die Alpen dichterisch geschildert werden müssen, wenn sie auf den Leser den richtigen Eindruck machen sollen, ergiebt sich am besten aus Schiller's Wilhelm Teil. Zwar bildet hier die Gebirgswelt mit ihren Bergen und Thälern, mit ihren Bewohnern und deren eigenthümlicher Lebensweise nur den landschaftlichen Hintergrund eines an sich geschichtlichen oder vielmehr halb geschichtlichen, halb sagenhaften Gemäldes. Sie hat aber gerade hiedurch gewonnen. Wer den Yierwaldstättersee und seine Umgebungen schon kennt, wird mit Hilfe seines Gedächtnisses beim Lesen der betreffenden Szenen sich leicht im Geiste in jene Lokalitäten zurückversetzen; und wer ihn nicht kennt, dem wird die Einbildungskraft einen ähnlichen Dienst leisten. So geht die Phantasie des Lesers in keinem Falle leer aus; entweder hält sie sich als Gedächtniss an schon bekanntes, oder sie schafft sich, als Einbildungskraft ein neues unbekanntes selber.

Bilden dagegen die Alpen wie bei Haller den Hauptstoff der Dichtung, so bleibt der Phantasie des Lesers ein ziemlich geringer Spielraum übrig. Der Dichter selber lässt sich viel zu sehr in 's Detail ein, er gibt zu viel und ermüdet dadurch seine Leser. Er vermag aber trotz allem auf seine Detail Schilderungen verwendeten Fleiss der Einbildungskraft des Lesers keine wesentliche Nachhülfe zu leisten; und an das Gedächtniss desjenigen, der die Alpenwelt schon gesehen hat, reicht er vollends nicht hinan. Insofern aber zu Haller's Zeiti die Zahl der Alpenwanderer'eine noch sehr kleine war, mochte sein " Werk den Zeitgenossen allerdings eher Lücke ihres Wissens ausfüllen, als das heutzutage der Fall ist.

Ueberhaupt aber darf bei der Beurtheilung von Erzeugnissen vergangener Perioden unserer Literatur der historische Standpunkt, nicht völlig ignorirt werden. Lessing sagte noch im Jahre 1768 von der damaligen Literatur Deutschlands, sie habe nicht bloss gegen die schöne Literatur der Alten, sondern sogar fast gegen die aller neueren polirten Völker ein jugendliches, ja kindisches Ansehen. An Blut und Leben, an Farbe und Feuer fehle es ihr nicht, wohl aber an Kräften und Nerven, Mark und Knochen. Sie habe noch sa wenig Werke, die ein Mann, der im Denken geübt sei, gern zur Hand nehme, wenn er zu seiner Erholung und Stärkung einmal ausser dem einförmigen ekeln Zirkel seiner alltäglichen Beschäftigungen denken wolle. Lessing nennt die wenigen Werke, welche nicht unter die von ihm charakterisirte Kategorie fallen.

zwar nicht ausdrücklich; wir dürfen aber doch nicht zweifeln, dass er gerade Haller's Alpen zu denselben gezählt hat; wenigstens nennt er im Laokoon eine aus denselben mitgetheilte Stelleein « Meisterstück in seiner Art ». Dass die « Alpen » in der That für ihre Zeit eine bedeutende Erscheinung, dass sie in der That eine Ausnahme von der Regel waren, ergiebt sich hauptsächlich daraus, dass ihnen die Schweiz das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch nichts ebenbürtiges an die Seite stellen konnte. Salomon Gessner z.B., der namhafteste deutsche Idyllendichter, übersah, in seine erträumte arkadische Schäferwelt vertieft, die einfachen Hirtenvölker seines Vaterlandes beinahe völlig und steht, wenn ihm auch Geschicklichkeit und Wohlklang der Sprache nicht abzusprechen sind, doch hinsichtlich der von ihm geschilderten Stoffe und Empfindungen tief unter Haller. Der Graubündner S a 1 i s aber scheint von der Grossartigkeit seines Heimatlandes kaum " eine Ahnung gehabt zu haben. Seine Naturschilderungen zeichnen sich zwar durch Tiefe und Wahrheit der Empfindung aus; sie könnten jedoch ebenso gut das We*k eines Bewohners des norddeutschen Flachlandes als das eines rhätischen Eidgenossen sein. Fassen wir die Resultate unserer Betrachtung zum Schlüsse kurz zusammen, so hat allerdings erst Schiller unsere Alpen in einer Weise poetisch verherrlicht, welche auch den jetzigen Ansprüchen an Kunstwerke genügen können. Haller hat letzteres nicht vermocht, weil die Zeit dazu noch nicht reif war, und weil er

. ' ) Es sind die beiden oben vollständig citirten Strophen.

trotz aller individuellen Begabung doch auch ein Kind seiner Zeit war. Was die Ausarbeitung seines Stoffes anbetrifft, so hat er im Einzelnen manches schöne, im Ganzen aber kein fehlerfreies Werk geliefert; hinsichtlich der Wahl desselben hingegen hat er gleichsam einen Blick in die Zukunft gethan; er hat den ersten Anstoss gegeben zu einer Würdigung, welche in den letzten Jahren immer allgemeiner und — wir dürfen es wohl behaupten — auch immer vielseitiger geworden ist.

Die Alpen sind in neuester Zeit der Gegenstand einer förmlichen Literatur geworden; es giebt Alpen-Geologen, Botaniker, Zoologen, Ethnographen u.a., auf deren Leistungen die moderne Wissenschaft mit Recht stolz ist. Dabei aber ist es unerlässliche Pflicht, auch den Mann nicht zu vergessen, welcher zuerst in anregender und bahnbrechender Weise uns den Pfad zum Genüsse wie zur Erforschung unserer herrlichen Gebirgswelt gewiesen hat.

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