Am Puls der Staumauern. Menschen in den Bergen
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Am Puls der Staumauern. Menschen in den Bergen

Am Puls der Staumauern

Wer die gigantischen Staumauern in den Walliser oder Waadtländer Alpen kennt, hat sich vielleicht schon gefragt, ob diese beeindruckenden Bauwerke auch Schwächezeichen zeigen. Die Aufgabe des Vermessungstech-nikers Jean-Louis Roux ist es, den Kolossen regelmässig den Puls zu fühlen.

Jeder Bewohner, jede Bewohnerin des Rhonetals oder eines der Seitentäler kennt die Angst, selbst wenn man kaum davon spricht: die Angst vor dem Stau-dammbruch und der nachfolgenden, verheerenden Flutwelle. Ich erinnere mich gut an den Satz meiner Eltern, die mir im Zusammenhang mit der Mauer von Grande Dixence im Val d' Hérémence sagten: « Wenn die bricht, haben wir einen Meter Wasser am Bahnhof. » Meine kindliche Fantasie sah in der Folge eine Monsterwelle durchs Tal rasen, die auf ihrem Weg alles weg- und mitriss. Einige Jahre später und etwas weniger besorgt im Zusammenhang mit einer solchen Katastrophe ist es für mich ziemlich beruhigend zu wissen, dass diese Betonmauern unter intensiver Überwachung stehen.

Staumauern « abhorchen »

An einem schönen Oktobertag treffe ich mich mit Jean-Louis Roux, Vermessungstechniker beim Energieunternehmen EOS, énergie de l' ouest suisse, an der Cleuson-Staumauer im Val de Nendaz oberhalb von Sitten. Obschon er mit einer anspruchsvollen Messreihe beschäftigt ist, gelingt es ihm, mir seine Funktion zu erklären. Sie besteht darin, die Verformungen zu messen, die im Lauf der Zeit an einer Staumauer auftreten. Dazu registriert er, wie sich die Betonmauer gegenüber der Umgebung verhält. Auf der talseitigen Mauer ist ein Netz von Vermessungspunkten – in Abständen von 5 bis 20 m je nach Fläche der Mauer – angebracht. Mithilfe eines Theodoliten berechnet er nun die Distanzen und Winkel zu den Vergleichs-punkten. Aufgrund dieser Messdaten kann dann die Verformung berechnet werden.

Im Fall von Gewichtsstaumauern 1 wie jener von Cleuson-Dixence nimmt der Vermessungstechniker zweimal jährlich eine Messung vor, einmal im Frühling, wenn der See leer ist, und dann im Herbst, wenn er seinen höchsten Füll-stand erreicht. Hohlräume in regelmässigen Abständen entlang der ganzen Staumauer und über deren ganze Höhe ermöglichen ihm, Vergleichswerte zu bekommen mithilfe von Pendeln – so etwas wie riesige Lote –, die an der Mauerkrone befestigt sind und deren Abweichung von der Senkrechten das Ausmass der Verschiebung der Staumauer anzeigen. Jean-Louis Roux, der « Mann am Puls der Staumauern », bei einer Frühlingskontrolle der Barrage des Toules ( Entremont ) Ende der Saison, wenn die Staubecken voll sind, macht der Vermessungstechniker eine Reihe von Messungen, um festzustellen, wie stark sich die Betonmauer unter dem Druck des Wassers verformt hat.

Die Messreihen müssen möglichst schnell durchgeführt werden, denn die sich verändernden Wetterbedingungen ( Temperatur und Druck ) haben einen Einfluss auf die Resultate. Das Wasser von Cleuson/Val de Nendaz fliesst nicht durch Turbinen, sondern wird in den See der Grande Dixence gepumpt. Hier der Pumpensaal Bei den Konstruktionen des Typs Bo-genstaumauer 2 kann nicht mit Pendeln gearbeitet werden, da die konkave Form der Mauer es verunmöglicht, ein Kabel senkrecht hängen zu lassen, ohne dass es aus der Mauer herausragt. Dies wird durch häufigere Messungen kompensiert, das heisst, man nimmt hier rund eine Messreihe pro Monat und umfangreichere Messungen bei Tiefst- und Höchststand des Stausees vor. Unter dem Druck des Wassers werden die Staumauern um mehrere Zentimeter verformt, bei Grande Dixence, einer Gewichtsstau-mauer, bis zu etwa 10 cm.

Präzision und Schnelligkeit

Auch nach 30 Jahren Arbeit bei EOS liebt Jean-Louis Roux seinen Beruf immer noch. Unabhängig, draussen und in den Bergen zu arbeiten, passt ihm ganz besonders. Wenn er nicht Staumauern « abhorcht », hilft er seiner Frau, die ein Restaurant am Fuss des Grand Muveran in Plans-sur-Bex führt, wo das Paar auch wohnt. Jean-Louis Roux kontrolliert an die zehn Staumauern im Wallis und im Kanton Waadt. Daneben überprüft er Bauten in instabilen Zonen im Zusammenhang mit ihrer Nutzung, also Druckleitungen, gewisse Siphons wie jener von Stafel am Fuss des Matterhorns, von wo das Wasser zur Grande Dixence geführt wird, und Hochspannungsleitungen. Auch wenn der Computer die Messungen erheblich erleichtert – dank Laptop können Vergleiche der Daten vor Ort vorgenommen werden – und die Auswertung der Messreihen vereinfacht, so spielt der Mensch noch immer die Hauptrolle. Die nötige Präzision – 0,5 mm Abweichung in der Höhe und 2 bis 4 mm in der Fläche – erfordert exaktes Arbeiten. Um genaue Daten zu erhalten, ist es wichtig, dass bei der Erhebung die Bedingungen wie atmosphärischer Druck, Umgebungstemperatur, Niveau des Sees so wenig wie möglich variieren. Deshalb müssen der Vermessungstechniker und seine Helfer die Messreihen in einer bestimmten Zeit abschliessen, was häufig lange Arbeitstage erfordert. Dank seiner Kenntnisse des Geländes und der Sonneneinstrahlung, die Jean-Louis Roux im Laufe der Jahre erworben hat, kann er die Zeit für die Messungen optimal wählen. Übrigens liefern Regentage die besten Resultate, weil dann die atmosphärisch bedingte Brechung des Lasers am Theodoliten am geringsten ist.

Auch körperlich gefordert

Dass seine Hilfsmittel Aufmerksamkeit erregen, erwähnt der « Staumauer-Arzt » nur so nebenbei. So kommt es vor, dass Wanderer aus lauter Neugierde die für die Triangulation verwendeten Refle-xionsprismen umdrehen und gewisse Fischer die Fixationsschrauben des geodätischen Materials benutzen, um ihre Leinen zu beschweren. Es sind aber letztlich nicht die Menschen, die seine Arbeit erschweren, sondern es ist die Natur. Bei Messungen im Winter kommt es nämlich oft vor, dass Roux zuerst stundenlang am Fuss der Staumauer die Pfeiler aus dem Schnee schaufeln muss, die als Referenzpunkte dienen. Aber diese kleinen Unannehmlichkeiten reichen nicht, um Jean-Louis Roux das Vergnügen an seinem Beruf zu vergällen, er wird weiterhin für uns die gigantischen Mauern überwachen. a Stéphane Maire, Commeire ( ü ) 1 Bei Gewichtsstaumauern reicht das Eigengewicht aus, um den Kräften des Wasserdrucks genügend Widerstand zu bieten. 2 Bogenstaumauern sind Mauern, deren gebogene Form ermöglicht, den Druck des Wassers auf die felsigen Talflanken zu verteilen.

Ein Staumauerwärter von Cleuson vor dem Instrument, das die Neigung der an der Kro-nenmauer befestigten Pendel misst und damit Rückschlüsse auf die Verformung der Mauer zulässt. Dieses Instrument heisst Koordiskop.

Ein Angestellter der Staumauer Les Toules nimmt Messungen vor. Tafel mit Erklärungen über die Messmethoden an der Staumauer Les Toules Eines der Koordis- kope der Staumauer Les Toules Fotos: Stéphane Mair e

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