Anton Schürmanns Reise über das Sustenjoch im Jahre 1881
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Anton Schürmanns Reise über das Sustenjoch im Jahre 1881

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON HUGO NÜNLIST, LUZERN

Aus dem handschriftlichen Nachlass A. Schürmanns zusammengestellt Vorwort Wir haben heute das Glück, sowohl im Sommer als auch im Winter übers Wochenende selbst vom Mittelland aus Bergfahrten unternehmen zu können, für die man früher wegen der Verkehrsverhältnisse drei bis vier Tage benötigte, so dass wir kaum noch nachzufühlen imstande sind, wie sehr sich Anton Schürmann, der ehemalige Stadtschreiber von Luzern, nach einem grösseren Ausflug sehnte. Das bezeugt seine Bemerkung im vorliegenden Handschriftenband:

« Ist es vielleicht einmal möglich, Urlaub zu bekommen? Gefragt habe ich nach den erhaltenen direkten und indirekten Abschlägen lang nicht mehr. Wenn man jedem Polizeimann, jedem Kanzlisten drei bis acht Tage Urlaub für Festbesuche gibt und dann den Stadtschreiber, wenn er einmal um zwei Tage, bittet, abschnarcht, so ist das nicht mehr der Standpunkt einer loyalen Amtsstelle, sondern es riecht nach etwas anderem. Ungefragt liess sich endlich unser Präsident, der leider an dem in Frage stehenden Ohr nicht gut hört, herbei, mir zu sagen, wenn ich hie und da einen Tag Urlaub wolle, so möge ich nur gehen, ohne zu fragen. Grundgütiger Himmel, wie lange Fäden hast du, um deine Goldkäfer anzubinden? Natürlich, Paragraph so und so eines Réglementes lautet ja, dass die Zuständigkeit eines Präsidenten nicht weiter als für einen Tag reiche. » Als Schürmann 1881 die obigen Zeilen verfasste, hatte er vier Jahre lang keinen mehrtägigen Urlaub erhalten, der für Besteigungen in Uri nötig war; daher die heftige Verbitterung. In diesem Jahr jedoch nahm der Stadtschreiber, « sich selbst überwindend », einen Anlauf. « Wirklich liess er ( der Präsident ) sich herbei, auf das Gesuch um ein paar Tage ein trockenes Ja zu sagen! » Die vier Tage Freizeit ermöglichten es ihm, Sustenjoch und Kartigeljoch zu überschreiten, wobei der Besuch des Fleckistocks ( 3416 m ) wegen schlechten Wetters abgebrochen wurde. Wie sehr er dennoch von den Erlebnissen gepackt wurde, ersieht man daraus, dass Schürmann allein über den ersten Teil der Reise - über das Sustenjoch - 132 Seiten schrieb, um die Eindrücke auszuschöpfen! Der Text musste deshalb gekürzt werden.

Es tut uns Nachfahren gut, bisweilen etwas von den damaligen misslichen Begleitumständen zu vernehmen, um nicht zu vergessen, wie genügsam alte Bergsteiger sein mussten, wie dankbar sie für eine einzige Bergfahrt waren und wie zufrieden sie sich sogar nach einem bescheidenen Jochübergang fühlten. Von solch seltenen Bergerlebnissen zehrten sie ein ganzes Jahr oder noch länger.

« Stücklistock oder Fleckenstock? Einer dieser beiden muss dranglauben. Es sind beide ungemein liebenswürdige Burschen, so eine Art nicht ganz ausgewachsene Finsteraarhörner, in etwas abgelegener Gegend sich aufhaltend, machen wenig von sich reden, wie eine gute Hausfrau, und bieten mancherlei montanistisch Interessantes, wie man aus der Lage zu schliessen berechtigt ist. Mein erstes war folgende Depesche an Ambros Zgraggen, Amsteg ( Silinen)1: .Wünschte den Stücklistock oder den Fleckistock zu besteigen. Wäret Ihr disponibel, wenn ich morgen mit erstem Schiff komme? Wenn Ambros nicht daheim, ersuche das Postbureau mitzuteilen, ob Furger oder ein Tresch zu Hause. ' Die Antwort Zgraggens lautete: ,Ich bin bereit. ' Die Abreise wurde festgesetzt auf den 16. Juli 1881. Nach Gesellschaft habe ich mich nicht umgesehen, nicht deswegen, weil ich den Wert eines freundlichen Begleiters nicht zu schätzen wüsste. Allein ich habe schon oft erfahren, dass diejenigen, welche im Winter voll Enthusiasmus über einen Bergausflug, im Sommer voll der ausgesuchtesten Entschuldigungen sind. Und an jeden mich anschliessen und meine wenigen Tage Urlaub seinen Meinungsverschiedenheiten oder seiner Bequemlichkeit opfern zu müssen, möchte ich nicht wagen. Also: allein! Ich habe noch nie Langeweile auf meinen vielen, einsam ausgeführten Bergreisen empfunden. Am Vorabend las ich noch einmal die vom Alpenclub herausgegebenen Beobachtungsnotizen und nahm mir manches vor, an das ich ohne dieses kleine, gute Vademecum mich vielleicht nicht rechtzeitig erinnert hätte.

Die Fahrt über den See war angenehm. In Flüelen nahm ich die Post. Obligate Jagd wegen des Gepäckes und der Wagenplätze. In Amsteg Pferdewechsel, ein paar Minuten Halt. Zgraggen ist bereit mit Gletscherbeil und Ausrüstung. Leider werden wir auf zwei Wagen verteilt. Bei 22° R. und 1 Dezimeter Staub auf der Strasse geht es weiter. Überall wird an der Gotthardbahn mit Hun- derten von Arbeitern geschafft. Bei Wassen ist der Unterbau auf weite Strecken fertig und die Beschotterung in Arbeit. Noch einmal sehe ich die ganze Poesie der Gotthardstrasse - die Post mit vier Beiwagen unter Führung des wackern Alois Zgraggen ( aus der Klusschwer bepackte, sechs-spännige Güterfourgons, drei-, zwei- und zahlreiche einspännige Fuhrwerke. Dies alles wird nun eine andere Gestalt annehmen. Was werden die vielen Fuhrleute, Stallknechte, Schneeschaufler und Strassenknechte anfangen? Werden alle bei der Bahn angestellt? Schwerlich. Aber es war auch kein Unglück für die Gemeinde Weggis, als die Rigibahn gebaut wurde und Hunderte von Pferdehaltern, Knechten, Führern und Trägern plötzlich ihren Verdienst verloren. Für manche, namentlich ältere Leute, war es zwar ein schwerer Schlag, nicht aber für die Jüngern.

Das weltberühmt gewordene, einst als Urtyp von Abgeschiedenheit genannte Dorf Göschenen besteht aus drei Quartieren: der Arbeiterstadt, die jeder Beschreibung spottet, aus dem obern Teil 1 Sehr bekannter und geschätzter Bergführer, 1825-1904, genannt Karli-Breseler, der sechs Söhne und eine Tochter hatte. 1864 führte er die Erstbesteigung des Fleckistocks ( SW-Flanke ) mit Kaspar Blatter und den Baslern L. Fininger aus; 1865 gelang ihm die Erstersteigung des Stucklistocks ( S-Wand und SE-Grat ), wobei er mit J. Tresch ( Vater des M. Tresch des Schönen ) und Jost Zgraggen ( 1825-1888, Stamm Dubeli-Brosi ) die Basler Ed. Hoffmann/F. Hoffmann-Merian führte. Ambros Zgraggen war von 1873 bis 1883 auch erster Wart der Hüfiälpli Clubhütte der Sektion Pilatus SAC. Für das Amt eines Bauleiters jener Unterkunft hatte er 20 Franken erhalten. Einer seiner Söhne hiess Josef ( 1855-1910 ), der als tüchtiger Bergführer mehrere Erstbegehungen mit Carl Seelig. ( Zürich ) im Dammagebiet vollbrachte.

mit den Hotels und beim alten Reusszolltor aus Alt-Göschenen. Die Arbeiterstadt besteht aus niedrigen ein- bis zweistöckigen Gebäuden, aus allem möglichen Material zusammengeschweisst, wie in Luzern und Umgebung auch nicht eine Hütte zu finden wäre. Gemauerte, geriegelte, hölzerne Bauten mit und ohne Kamine, Fenster mit gläsernen, papiernen oder keinen Scheiben, Kinder mit drei, zwei oder auch nur einem Kleidungsstück, Frauen mit gelber Farbe, rabenschwarzen Locken und Augen, mit negerähnlichem Mund, auf der Strasse strickend, längs der Strasse nähend und plaudernd oder mit Waschen beschäftigt, Tunnelarbeiter, die soeben mit der brennenden Laterne am Gürtel oder in der Hand zurückgekehrt sind, Fuhrleute mit schwerbefrachteten Wagen, die unvermeidliche Dorforgel mit Gesangbegleitung in einer Spelunke, die am hellen Tag von einer Öllampe erleuchtet wird - und vor allem aus einer unsäglichen Unreinlichkeit. Alle ,überflüssige Flüssigkeit'der Küchen und Wäscherinnen wird unmittelbar auf die Strasse geschüttet, die Wäsche aber hängt wie in einer reichbeflaggten Feststadt unter und vor den Fenstern. Ein Tunnelarbeiter sitzt vor der Tür und verzehrt, mit der Frau plaudernd, aus einem Pfännchen mit den fünf Fingern schöpfend, vergnügt und fröhlich seine Minestra. Zwei Mädchen springen dem Vater entgegen, der über und über von Schmutz bedeckt aus dem Tunnel kommt, sie aufhebt und küsst.

Nach einem Bummel durchs Dorf fassen wir Wein, Brot, Käse und luftgetrocknetes Fleisch, und fort geht 's ins Göscheneralptal hinein, in welchem nicht viel ebener Grund, wohl aber noch schöner Wildheuwuchs an den Seitenhängen zu sehen ist. Am Weg zirpen grosse Heuschrecken, rote und blaugeflügelte, und das Heu duftet wie auf einer Alpe. Umsonst suche ich nach Kristallen; die Sandbalm ist bekanntlich geleert1. An den Mauern des Weges finden sich nur Quarzadern und hie und da auch Kristallfragmente. Weit mehr aber interessiert mich der Hintergrund des Tales: Rhonestock, Dammastock, die Winterberge und der prächtige Dammagletscher. O mich zwickt 's in den Füssen, und mit Gier verschlinge ich diese blauen Firnhänge. Es ist lange Jahre mein sehnlichster Wunsch gewesen, zur Göscheneralp zu kommen. Er wird auch heute noch nicht erfüllt2.

Abscheulich heiss ist es, 26°, windstill, und unzweifelhaft wird hinter einer dieser Felswände ein Gewitter gebraut. Nach einer Stunde verengt sich das Tal, vor prächtigen Tannen - Mastbäumen für Ostindienfahrer. Man schaut sich unwillkürlich um, wo jetzt noch ein Ausweg sei, und entdeckt deren zwei. Der eine führt der Reuss entlang zur Göscheneralp, der andere aber, ein verwahrloster Bergweg, biegt rechts ab, einen Abhang hinan, einen steilen Wald durchdringend, in dem verworrenes Wurzelgeschlinge manchen Stiegentritt ersetzt, ins Voralptal. Nach einer Halbstunde Aufstieg grüsst, mit gewaltigem Donnern über eine Felswand herabstürzend, ein Wasserfall, der Abfluss des Brunnenfirns, den die Dufourkarte den ,Schiessenden Bach'nennt. Das Voralptal öffnet sich bald etwas; allein die erhoffte schöne Abendbeleuchtung löst sich im Westen auf. Die Berge haben sich in schwere Wolkenmassen gehüllt, die uns langsam entgegenwallen. Im Hintergrund beginnt es zu regnen. Noch vor einer Stunde blendender Sonnenschein und jetzt kalter Luftzug vom vergletscherten, nebelbedeckten Talhintergrund.

Bei der Alphütte Flachensteinen steht auf weiter, ziemlich ebener Fläche einsam und gross eine Arve. Sonst nirgends ein Baum, nur hier auf dem Schutt eines eingestürzten Felshorns thront in angeborner Majestät ein Vertreter jener Nadelholzart, die dem eisigen Hauch der Gletscher zu trotzen gewohnt ist. Sie sieht verwittert aus, manche Äste sind dürr, alle knorrig, und nur an den 1 Es handelt sich nach Dr. Karl Gisler ( « Geschichtliches, Sagen und Legenden aus Uri », 1911 ) um eine der grössten Kristallhöhlen der Schweiz und der Alpen überhaupt. Sie soll über 50000 kg geliefert haben und ist heute ausgeräumt. Der Top. Atlas nannte den Berg St. Balmstock, auf der Landeskarte heisst er nun Gandschijen.

2 Schürmann besuchte als Sechzig jähriger erstmals die Göscheneralp anlässlich der Überschreitung des Sustenhorns vom Steingletscher ins Kehlenalptal im Jahre 1892, veranstaltet von der Sektion Pilatus unter Führung von Ambros Zgraggen. Darüber schrieb er ebenfalls einen Manuskriptband.

Enden grünen die Nadelbüschel üppig fort. Tannbart hängt reichlich an den Zweigen und erinnert daran, dass ihre Jugendzeit längst vorbei ist.

Es will Abend werden. Es regnet. Wir verdoppeln unsere Schritte. Trüb wälzt der Talbach seine Wellen daher. Wir kommen zu einer Viehherde. Dem breitem Weg folgend, eilen wir am rechten Ufer aufwärts, um bald die Hütten von Wallenbühl zu erreichen. Da endlich, unmittelbar vor dem Gletscher, entdecken wir, dass es unmöglich ist, zu den Hütten auf dem linken Ufer zu gelangen. ,Jä, Ambrosi,Ja, es ist früher es Briggli da gsy! ' sagt Zgraggen. Der Bach strömt reissend stark, doch keine Brücke ermöglicht hinüberzukommen. Sei es! Umgekehrt bis zur vordem Brücke, dann wieder taleinwärts. Damit ist kostbare Zeit vergangen, und wir haben uns ziemlich müde und nass gelaufen. Zahlreiches Vieh weidet in strömendem Regen im Freien. Wir sehen es im Dunkel nicht mehr, aber hören das Herdengeläute. Endlich verkündet das Bellen eines Hundes die Nähe menschlicher Wohnungen. Wallenbühl, 2088 Meter, ist eine jener Wildalpen, die so recht abgelegen im Herzen des Gebirges die Merkmale der Hochgebirgslandschaft vereinigen. Freundlicher Empfang; aber etwas bedenkliche Gesichter. Es sind fünf junge Männer hier, und die Hütte ist, wie dies unglücklicher Weise Brauch auf den Urneralpen ist, viel zu klein für die eigenen Leute, geschweige denn für Gäste. Indessen wird man sich behelfen.

Nachtessen aus landesüblichen Milchspeisen - gekochter Reis mit Käse, der gar nicht übel schmeckt, und sehr feiner, aromatischer Zieger - kurz, wir sind gut geborgen. Aber, ich meine fast, Schiller hätte den Spruch ,Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar'doch ungeschrieben gelassen, wenn er heute abend mit uns auf Wallenbühl übernachtet hätte. Unsere Lagerstätte schmiegt sich ungemein schön an einen nackten Felsen. Das Heu ist etwas feucht und noch neu. Zu Füssen ein stehendes Brett. Die Schuhe werden beiseite gestellt, und wir stopfen Heu unter die Fussohlen. Pferdedecke und darüber der Rock geben hinlänglich warm. Aus dem Nastuch wird eine Nachtkappe hergestellt; denn über uns klafft eine Öffnung von 2 Dezimeter Höhe, so dass der Hauch vom Gletscher her erfrischend eindringt. Auf dem Heulager sind also sieben gesunde Männer eingepökelt. Hier lehrte mich Ambros den Spruch, Jetz goh-n-i is Häuy und goh-n-i zur Rueh und deck mi mit eme Chiedräck zue; und chund de Tyfel und will er mi näh, so müess er emol z'erscht der Chiedräck näh. ' Etwa um 9 Uhr tritt einer der Sennen vor die Hütte, ein Ziegenfell um die Schultern geworfen, einen Milcheimer über den Kopf gestülpt, und ruft in feierlichen Choraltönen den Abendsegen, ein Nachtgebet ähnlich jenen auf Oberlauelen, Bründlenalp und Bernetsmatt im Maderanertal. Sowie der letzte die Decke über sich gezogen, wird die Unterhaltung abgebrochen, und wenn nicht der eine oder andere schwer geschnarcht hätte, so wäre das Lager noch leidlich gewesen. Dieser Umstand aber hat mich, der gewohnt ist, allein zu schlafen, fast zur Verzweiflung gebracht. Während der Nacht kommen mehr als einmal Gewitterregen und halten mich in beständiger Angst, sie könnten irgendwo den Weg zu uns finden. Mich erbarmt das Vieh, das schutzlos auf weiter Alpe im Freien, dem Regen preisgegeben, sich irgendwo zwischen den Steinen niederlegt und am Morgen heiser zur Hütte trottet. Was würden unsere an warme Ställe gewohnten Kühe dazu sagen, wenn sie solche Regennächte draussen zubringen müssten!

Am Morgen sind wir vor Tagesanbruch auf den Beinen. Es hat etwas abgekühlt, aber noch wehen die Lüfte lau. Mir scheint, der Aufstieg zum Fleckistock dürfte gelingen, wenn nicht ein tückischer Kobold seine Streiche spielt. Nach dem Essen erhalte ich die Antwort: ,Gämmer, wos d'r eppä mäiniddie alte gastfreundliche Sitte, bei der der Älpler jedenfalls nicht zu kurz kommt. Abmarsch 5 Uhr. Schon vor dem Ende des Gletschers wird rechts abgeschwenkt. Erst kahle Alpe, borstiges Gras, abgeschliffene Platten mit unverkennbaren Spuren, dass der Gletscher einst höher 2 Die Alpen - 1968 - Les Alpes17 gestanden. Dann wendet sich der Steig zur Terrasse, die ,auf den Flühen'genannt wird. Dieser Teil des Aufstiegs trägt eine reiche Alpenflora. Die Terrasse soll noch mit Vieh befahren werden. Es steht wirklich hier oben noch ein Stall. Allein der Zugang ist jedenfalls nur für Galtvieh und mag bei Nässe und Schneefall nicht ohne Schwierigkeit sein. Still, wer pfeift? Ah, Munggen! 6-8 Stück einen Steinwurf unter uns. Ein Paar jagt sich herum, andere stehen vor den Löchern. Sie haben uns noch nicht wahrgenommen, und ich habe Gelegenheit, die muntern Tierchen bequem durch das Fernrohr zu betrachten.

Eine Zeitlang geht es nun über einen kleinen Gletscher nicht besonders steil hinan zu einer vom Gipfel herabsteigenden Felsrippe. Schon lange habe ich mit Missbehagen am Sustenhorn gesehen, dass sich Nebel angehängt, dunkle dicke ,Bis'- oder ,Augste'-Nebel. Jetzt hängen solche Nebel-lasten auch an unserm Fleckistock. Wir befinden uns auf 3000-3100 Meter. Was tun? Schlimm, zu Gewitter geneigt, sehen sie nicht aus, und Ambrosi erklärt sich bereit, mich trotz dem Nebel zu führen. Er überlässt mir, nach Gutdünken zu entscheiden. Ich beschliesse, nicht weiter vorzurücken. Gründe: Ich will auf einem Gipfel Aussicht haben und mich freuen an der Mannigfaltigkeit des Baues der Alpen. Eine kleine Anwandlung von Bergkrankheit, die selbst Ambros an mir wahrnimmt, hat an diesem Rückzugsbefehl keinen Anteil. Ungern trete ich in dieser Höhe den Rückweg an. Allein die Manie, um jeden Preis einen Gipfel zu besteigen und die Anwesenheit droben niederzuschreiben, diese Manie beherrscht mich nicht. Wenn ich voraussichtlich nur einen kleinen Fleck Boden und ringsum nur Nebel sehe, so ist ein solches Ergebnis die Zeit nicht wert, die auf die Besteigung verwendet werden muss. Diese Zeit will ich lieber auf das Sichtbare verwenden als auf das Unsichtbare.

Nach einem kurzen Imbiss treten wir den Abstieg an. Ein Ritt auf dem Stock über Schnee fördert uns rasch. Wieder eine Anzahl Marmotten. Ich glaube bemerkt zu haben, dass Ambros mit heimlicher Befriedigung diesen günstigen Stand des Wildes wahrgenommen Wir finden auch Kri-stall-Muttergestein. Unter ein paar Runsen und einer Schutthalde betreten wir wieder Schnee, später glattes Eis. Meine Reisetasche ist zwar nicht besonders schwer, aber ich versuche doch nicht,, die Fusseisen anzuschnallen. Meine Bergschuhe genügen auf dem Gletscher wohl. Unweit vorher haben wir eine Gruppe Edelweiss gesehen. Was früher vielleicht nur die Mädchen eines Bergdorfes schön gefunden und zu Rosmarin und Nelken ins Mieder gesteckt, das trägt heut'alle Welt am Hut oder gepresst in einem Buch. So wird das ,Edlezum Alltäglichen, ja zur Sache des Klein-handels. Die Edelweiss-Sammler zerstören gründlich die Ansiedlungen dieser Pflanze, aber ich habe niemals davon gehört, dass sich jemand um die Wiederanpflanzung bekümmert hätte.

Der Wallenbühlfirn ist nur etwa 2l/2 Stunden lang, kaum eine Viertelstunde breit und fällt vom Sustenjoch ( 2657 m ) bis zur Zunge ( 2082 m ) nur um 575 Meter. Das fast ebene Dahingleiten hat zur Folge, dass in der Mitte wenig Spalten sind und sich ein See gebildet hat, gegen 300 Meter lang und ziemlich breit, wie ich einen solchen auf einem Gletscher noch nie gesehen habe. Ein Sportsmann könnte sich einmal das Vergnügen leisten, auf dem Binnensee im Segelboot herumzufahren wie auf einem Eismeer. Wir sind auf der linksseitigen Guffer ( Schutthalde ). Soweit sie offen liegt* zeigt sie das Gestein des Fleckistockes: Gneis und Hornblendeschiefer. Die Gegend ist ausserordentlich öde. Man hat das Gefühl, viel weiter weg von den Menschen zu sein, als man es in Wirklichkeit ist. Der obere Hüfigletscher, der Brunnigletscher und jene am Bristen und Pizzo Centrale erwecken bei weitem nicht diesen Eindruck. Man sollte in solchen Gegenden nicht Stunden, sondern tagelang verweilen können. Ich würde nicht müde mit Beobachten und Untersuchen.

Ambrosis scharfe Augen haben Gemsen entdeckt. Am Fusse des Stücklistocks ziehen sich schmale Felsbänder hin, auf denen vier Gemsen ruhig weiden, zwei alte und zwei junge. Felsköpfe und Runsen entrücken von Zeit zu Zeit die Tiere unserm Blick. Ambrosi scheucht sie auf einmal durch ein lautes ,Ho ', worauf sie rasch den Weg über Fluhsätze und Geröll nehmen. So schnell wie sich diese Gemsen in den Falten des Berges entziehen, so schnell flieht die Freude, die wir in glücklichen Stunden geniessen. Ich habe dies oft und oft erfahren. Nachdem sich der Gletscher, schmäler werdend, gar nicht steil hinaufgezogen, erreichen wir einen 3-4 Meter breiten Kamm, der den Stücklistock mit dem Hintern Sustenhorn verbindet, das Sustenjoch, 2657 Meter. Um auf dem Grat zum Wein und trockenen Brot noch etwas Schnee zu haben, müssen wir solchen 5-6 Meter hinauftragen. Es herrscht, wenn nicht vollständige Windstille, so doch ein ganz leidlicher Zustand, der nur hie und da durch einen scharfen kalten Windstoss unterbrochen wird, der von den Eisfeldern der gegenüberstehenden Bergkette, vom Titlis bis zur Krönte, weht. » Nachdem Schürmann die Aussicht eingehend beschrieben und in einem Verzeichnis 26 sichtbare Gletscher vermerkt hat, fährt er fort: « Der Faden der Erzählung geht bisweilen in die Brüche wegen meiner Abstecher in mancherlei Gebiete. Gleichviel, ich lasse mich gehen; es muss sich ja niemand an mir ärgern. Wir sind hier so sehr im Innern der Gebirgswelt, dass nicht einmal Erlenstauden, die sonst manchen Alpenbach einfassen, geschweige denn Tannen sichtbar sind. Aber warum sind die Nachrichten über das Sustenjoch so spärlich? Keine Reisebeschreibung erzählt etwas Näheres davon als die Lindts, der die Ersteigung des Fleckistocks durch Raillard und Ratsherr Fininger ( Basel ) vom 21. Juli 1864 schildert. Ihr Angriff von Wallenbühl aus hatte an Regenwetter gescheitert, wonach sie von der Sustenstrasse und dem Kalchtalfirn aus einen neuen Vorstoss bei schönem Wetter unternahmen. ,Nun galt es ', so lesen wir im SAC-Jahrbuch 1865 ,die sich in erschreckender Höhe vor uns auftürmende Felswand zu erklettern; das Gestein war sehr verwittert und locker, so dass man sich nicht immer fest darauf verlassen durfte; auch musste alle Vorsicht angewendet werden, dass nicht die zuletzt Gehenden von den sich stets lösenden Steinen getroffen würden. Wir gebrauchten hiezu eine volle Stunde und erreichten um 7 Uhr die Höhe des Sustenjoches das bereits vor mehreren Jahren von unserm vielgereisten Herrn G. Studer überschritten worden1. ' Diese Felswand müssen wir nun abwärts steigen, was bekanntlich nicht sehr angenehm ist. Ich freue mich innerlich über den gänzlichen Mangel an Schwindel, und gern hätte ich der Freude durch einen Jodel Ausdruck gegeben, wenn es in solcher Lage erlaubt wäre. Übrigens ist es der nämliche Ambros Zgraggen, der mit den beiden Baslern diese Kletterpartie vor bald 20 Jahren ausgeführt hat. Ich will mich nun entschädigen für den entgangenen Fleckistock. Um halb drei Uhr brechen wir zum Kalchtalfirn auf. Die bröckelige Felswand fällt steil ab, aber mit südlicher Senkung, so dass die Schichtenköpfe vorstehen und der Abstieg sich nicht übel macht. Ambros laviert mich über die Bänder hinab. Das Seil bleibt abermals weg. Wir rücken ruhig, schweigend, nahe aufgeschlossen vor. Hie und da eine Gruppe Gletscher-Ranunkeln, ein weiss oder rot blühendes Kissen Silène acaulis. Der Boden ist trocken, ein grosser Vorteil; nach Regenwetter wäre dieser Abstieg nicht zu wagen. Wir sind beide sehr gut aufgelegt, und ich finde Gefallen. Kein Misstritt, alles schön nach Wunsch. Eine treppenähnliche Terrasse nach der andern wird zurückgelegt. Hie und da muss allerdings geklettert werden, Gesicht auswärts, die Reisetasche abgehängt. Aber es geht alles regelmässig; ich habe mir zuvor eine viel schlimmere Vorstellung gemacht. In weniger als einer Stunde sind wir auf dem Kalchtalfirn angelangt.

Dieser ist im obern Teil ziemlich steil, also gerade recht zu einer Schlitten- oder Rutschpartie, so sehr ich mich anfänglich dagegen gesträubt habe, nachdem ich heute tüchtig geschwitzt. Dann machen wir bei einer Quelle Halt. Wir plaudern lange von vergangenen Zeiten. Seit ich mit meinem 1 Gottlieb Studer ( Bern ) mit Heinrich Glaus, 1840.

unvergesslichen Freund Xaver Schöpfer und Ambros Zgraggen am 20. August 1877 vom Cristallinatal ( Medels ) zurückgekehrt, habe ich nie mehr einen Tag und eine Nacht ausserhalb Luzerns zubringen können. Der Freund ist seither gestorben, und auch Ambrosi ist nicht frei von Weltschmerz. Der eine Sohn ist totgefallen am Brunnigletscher, der andere durch einen Sturz über die Stiege schwer verletzt, so dass er weder dem Vater folgen noch je wieder einen Berg besteigen kann! Damals ein so glückliches, lebensfrohes Kleeblatt und heute nur noch ein defektes zweiblättriges1!

An jenem Abend ( beim Piz Medel. N. ) lag eine Ruhe und ein Friede über diesem einsamen Bergtal, die vollkommen stimmten zu jener Befriedigung, mit welcher jedes gelungene Werk seinen Urheber belohnt. So einen Abend geniesse ich heute wieder, und ich glaube, es liegt eine ganze Welt von Segen und Heilkraft in dieser Stimmung. Ein Gefühl der Kraft und Stärke, nicht der Abmattung, bemächtigt sich des Mannes, wenn er rings die noch sonneglühenden Berghäupter, den Gletscher, auf dem er soeben niedergestiegen, die scharfen Hörner sieht, die er morgen umarmen will.

Ich wünschte in dieser Stunde einen Kreis von Freunden gleicher Gesinnung um mich gelagert, um meinen Gefühlen Ausdruck zu geben und sie und mich zu neuen Taten zu ermuntern. Aber wo sie finden? Mein Treiben auf den Bergen findet wenig oder keine Nachahmer in meiner Umgebung. Nicht dass es nicht noch manche gäbe, die Freude an der Bergwelt empfinden; allein, Wissensdurst haben sie keinen, laufen, wie wenn sie mit brennendem Petrolium Übergossen wären, und schenken keinen Blick den kleinen Dingen, aus denen die grosse, herrliche Alpenwelt zusammengesetzt ist und die sie uns in allen drei Naturreichen so freigebig darbietet.

Das Mayental, von Fernigen aufwärts, führt den Namen Grossalp, zum Unterschied von Kleinalp südlich der Spannörter. Wir sind hier noch immer im Gebiet der Glimmerschiefer; aber es ist nicht der grossblättrige, glänzende Schiefer, wie wir ihn bei Luzern erratisch finden, sondern eine rauhe, sandsteinähnliche, wohl ziemlich Ton führende Masse, die aber das Gute hat, dass sie leichter verwittert und die Fruchtbarkeit des Talbodens fördern hilft. Merkwürdig, dass nicht nur die Alpenrosen weisslich blühen, sondern auch die Heidelbeeren, in gesunden und grossen Stauden, weisse, reife Früchte zeigen. Wer hat je reife, süsse, milchweisse Heidelbeeren gesehen? Die Erde wäre würdig, chemisch untersucht zu werden.

Beim Winterheimwesen Gorezmettlen oder Gurzmettlen tritt der erste Wald auf. Mich beschäftigt hier wieder einmal die Herkunft der Ortsnamen, und der gute Ambros hätte alles mögliche wissen sollen. Nein, das gerade nicht. Aber er ist doch verwundert über die vielen Fragen. Nebst Namen deutschen Ursprungs kommen im Mayental einige vor, die unverkennbar fremder Abstammung sind, vielleicht von romanischen Ureinwohnern: Kartigel, Fedi, Susten, Titlis, Wichel-plank, Judsfad ( Jutz ist auch Geschlechtsname in den Kantonen Uri und Luzern ), Gorezmettlen, Rienstock, Eisten, Bahnen, Butzen, Gehren2.

Allmählich bricht der Abend an, als wir im .Hauptort'des Tales, in Mayen, bei der Kapelle anlangen. Wir kehren bei Ratsherr Regli ein, bei dem ich schon am 22. Juli 1863, von Erstfeld über die Spannortlücke und den Rossfirn kommend, genächtigt habe. Bis zum Nachtessen Bummel durchs Dörfli, das aus einem Dutzend Häusern und Ställen und einem neuen Schulhaus besteht, das manchem andern Dorfe Ehre machen würde. Hohe Stuben und grosse Fenster. Der Minister 1 Im Hinblick auf den Tod am Brunnigletscher irrte sich Schürmann. Es handelte sich um den ältesten Sohn Ambros Zgraggens, um Johann ( 1853-1869 ), der am 7.Februar 1869 auf dem Wirzenstäfeli ( westlich oberhalb Silenen und nördlich des Arniberges ) verunglückte. Als 1870, ein Jahr nach dem tragischen Unglück, der fünfte Sohn geboren wurde, nannte Ambros ihn wiederum Johann ( 1870-1946 ).

2 Die Landeskarte schreibt heute Juzfad, doch die Herleitung von « juzen = jauchzen » ist nicht einwandfrei. Einige der angeführten Namen dürften eher keltischen Ursprungs sein.

für öffentliche Bauten verdient eine Ehrenmeldung! Beim Läuten der Betglocke flattern eine Anzahl Fledermäuse aus dem Türmchen der Kapelle. Wir kehren zurück und verbringen den Abend bei gedörrtem Fleisch und Urserenkäse. Der freundliche Gastwirt gibt bereitwillig Auskunft über die Umgebung. Ich entscheide: Morgen gehen wir über den Kartigelgletscher ins Rohrtal und nach Wassen. Ambros ist 's zufrieden.

Am Morgen werden die gesammelten Pflanzen in zwei Zigarrenkistchen mit feuchtem Moos verpackt und nach Wassen geschickt, damit sie beizeiten im Stadthaus, nicht bei mir daheim, ankommen. Auf der Adresse steht deutlich: ,Grüne Pflanzen. Sogleich zu öffnen! ' Weil man im Stadthaus nicht lesen kann, so spediert man die Kistchen mit den grünen Pflanzen in den Keller hinunter und überlässt sie dem Schicksal, bis ich sie am dritten Tag danach verdorben vorfinde. Stadtratsweibel Schnieper heisst das Genie. Ein Stoffel ist er, eine Stöffelin sie, seine Frau - Tochter eines Gärtners! » Nachwort. Der Heimreise über das Kartigeljoch widmete Schürmann sogar 157 handgeschriebene Seiten und bewahrte in diesem Band einen Rundblick von J. Schneiter auf: « Aussicht vom Mittagstock bei Wassen im Jahre 1881 », den Fahrplan von 1881 der Schiffe des Vierwaldstättersees, die Aufstellung der Reisekosten sowie eine Bewilligung zum Betreten der Arbeitsplätze an der Gotthardbahn, ausgestellt von Oberingenieur Gerlich.

Feedback