Auf dem Roten Boden bei Zermatt. Eine Abendandacht
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Auf dem Roten Boden bei Zermatt. Eine Abendandacht

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Eine Abendandacht. Von Oskar Erich Meyer.

Es war ein Sommertag des Jahres 1922. Ich hatte über den Hohtäligrat das Stockhorn erstiegen und war allein über den Gletscher weitergewandert zur Cima di Jazzi. Die Spalten, die den erweichten Firn durchrissen, bannten, als ich zu Tale ging, mein Auge an den weissen Grund. Es war nicht die Stunde für Traum und Schau.

Dann stieg ich müde den Pfad von Gadmen zum Roten Boden hinauf. Hier rammt ich den Pickel in den erdigen Grund und legte den Rucksack ab. Und wie ich mich rückwärts wandte, begann meines Tages reichste Stunde. Jenseits des grauen Gletscherstromes, der mir zu Füssen lag, stiegen in den Abendhimmel Zwillinge, Lyskamm und Monte Rosa. Weiss ihre breiten Sockel, weiss ihre Zinnen und Grate. Und über das leuchtende Weiss goss die Sonne ihr sterbendes Rot. Nie sah ich die Berge so himmelnah, so überirdisch von innen erleuchtet.

Die Abendnebel, aus denen sie stiegen, lösten sie ganz von der Erde los. Und ihre schimmernden Schultern und Kronen durchragten den ewigen Raum. Der Erde Gestalt gewordener Traum, des Menschen letzter und erster Altar. Kein Götterbildnis, zu dem wir mit Tränen und Jauchzen, mit Bitten und Klagen kommen — die Stille jenseits der Leidenschaft, die letzte Einheit von Glück und Leid.

Einst stand ich auf euren Zinnen allen, getrieben vom Sturmwind der jungen Tat. Mein Pickel bahnte den silbernen Weg durch Spalten und triefende Türme aus Eis. Ich schritt auf eurer Grate Schneide und ruhte, von eigener Kraft berauscht, auf euren Zinnen im Sonnenschein.

Und dennoch war ich euch niemals näher denn heut. Ihr wiest mir das letzte Ziel und aller der Wege Sinn. Ihr gabt mir das letzte Leuchten jenseits von Tat und Traum.

Ihr gabt es nicht ohne Kampf. Ihr wolltet errungen sein wie Gott im feurigen Busch. Und wie das Leben der nur besitzt, der das Leben hinter sich liess; der hindurchschritt durch Stille und Leidenschaft, durch Glück und Not — ihr gebt euch dem nur ganz, der da ging durch Klüfte und Felsgewirr, durch triefenden Schnee und glutendes Eis, über Grate mit Gründen rechts und links, unter knisternden Türmen, über Wächten hohl wie der Tod.

Und ich gedachte der Jugend. Jeder der Berge, die mich umstanden, trug leuchtend den Schleier einer längst vergangenen Stunde, den Schleier aus Licht und Erleben, den keiner lüftet denn ich allein. Siehe dort drüben, silbern bebändert, das Matterhorn. Unberührt von zwanzig Jahren steht seiner Stirne Trotz. Und dennoch sah ich es damals mit heisseren Augen als heut, nun sich in Eis und Schnee mir der Berge reinste Schönheit erschloss. Und ich lüfte den Schleier und sehe den Berg mit des Jünglings Blick. Und ich ziehe im Geiste noch einmal, jung mit den Jungen von heut, das Tal der Visp hinauf, das Herz begeisterungglühend und die Seele von Whympers Worten voll. Oben, hinter der letzten Biegung des Tales, da stand das Horn.

Da stand das Horn und trat hervor. Trat hervor, dass mein Atem stockte. Die Dinge der Umwelt versanken. Blieb nur das Matterhorn und ich. Hoch über alle Whymperworte, hoch über alle Herzensglut stiess der Berg in den Himmel.

Und im Abenddämmer der Weg zur Hütte. Bei Morgengrauen ein Klimmen im Fels ., erdrückende, nie endende Mauern von Fels, steinfallgeritzt und schneedurchrissen. Die Moseleyplatte, das Eisdach der Schulter, die Seile des Gipfelkopfes. Und endlich die unwahrscheinliche Wirklichkeit: Das Eisenkreuz auf dem Giebel der Welt.

Es war wie ein Traum. Erst unten im Abenddämmer, als ich wohlig mit müden Knien über die Matten sprang, den Berg im Rücken, drohend und einsam und sternennah, besass ich untilgbar das Glück der Stunde.

Dann sah ich uns sitzen, den Freund und mich, auf den Gipfelblöcken der Dufourspitze des Monte Rosa. Kein Lüftchen geht. Es flimmert vor Wärme um Stein und Schnee. Der « kalte Berg » ist uns wohlgesinnt. Wir gemessen die Stunde, wie man nur auf Bergen geniesst oder im Winterwald auf zischendem Ski: unbeschwert von armer Gedanken Fracht. Schön ist das Leben an sich. Wir recken die braunen Arme im Sonnenlicht, wir lauschen dem Brodeln des Wassers im Kochgeschirr und gemessen, wie Könige verschwenderisch, die weisse Welt über viertausend Metern. Wir baden in Licht und Luft, halb schon gelöst von der Erde.

Dann raffen wir mit rauhen Händen unser Gerät zusammen. Ohne die Wehmut des Abschiedschmerzes. Denn herrlich geschwungen hält uns der Berg seine neunzinkige Gipfelkrone entgegen. Leitern von warmem Fels führen in die Scharten hinab. Und schwindlige Schneiden aus Schnee leiten zum nächsten Gipfel hinüber. So geht es hinab und hinauf, von Verlangen zu neuer Erfüllung. Es raschelt das Seil über rauhes Gestein und spannt sich schwebend über schneidende Grate aus Schnee. Links fällt der Blick dreitausend Meter tief über einen Schild von schimmerndem Eis auf den Schutt des Macugnagagletschers. Wir aber schreiten dahin auf des Schildes Kante und freuen uns des sicheren Tritts. Und endlich den letzten Hang zum letzten Gipfel hinan. Der Abend ist still und feierlich. Nur über die Flanke des Lyskammes poltert fallendes Eis. Vor den verglühenden Horizont stellt sich mit breit ausladender Schulter der Schattenriss des Matterhorns. Dicht daneben ahmt die Dent d' Herens den Umriss verkleinert nach. Unter uns stürzt aus weitem Sammelbecken der Grenzgletscher seine Eiskaskaden, schon blau überschattet, zu Tal. Wir steigen noch immer im Licht, steigen und stehen vor dem Dach einer Hütte, die sich ängstlich mit langen, stählernen Tauen an den Gipfelgrund klammert: die Capanna della Regina...

So sass ich und dachte der Jugend. Höher flammte der Fackelschein der sterbenden Sonne. Leiser wurde das Rauschen der Gletscherbäche im Grund. Nur noch Minuten, dann sinkt dieser Tag in den Schacht der Erinnerung. Und wie Minuten werden die Jahre gehen, und andere Geschlechter werden kommen, die die Berge anders lieben als ich. Andere Geschlechter, die den Bergen näher sind als meine Zeit. Meine Zeit, die erst lieben kann, wenn sie die Natur vergewaltigt hat, mit Hütten, Häusern, Wegen und Eisenbahnen. Geschlechter, welche die Hingabe kennen: das Aufgehen im Gegenstande der Liebe.

Wie schnell geht die Zeit! Sah ich nicht Edward Whymper noch in der Strasse von Zermatt? Sah ich nicht noch das alte Kirchlein, die Gräber von Douglas, Hudson und Hadow an die Mauer geschmiegt, und auf der anderen Seite den massigen Stein mit dem Namen Michel Croz? Bin ich nicht heut schon ein Fremder fast im neuen Zermatt? Ein Fremder den Menschen und ihrem Werk? Verbunden allein noch dem ewigen Eis und dem Berg? Seh ich den Berg nicht selber schon anders als damals vor zwanzig Jahren vom Dache des Matterhornes, obwohl mein Fuss mich auch heut noch wie damals auf jeden der Gipfel trägt? Schnell geht die Zeit...

So schnell, dass ich vergebens die Klänge der Seele beschwöre, die den Jüngling führten auf den Gipfel des Gabelhornes und durch die Lawinenzüge der Dent Blanche. Sieh, wie die Jugend flieht! Leise verlöscht das letzte Rot auf den Zinnen des Monte Rosa. Da nehm ich den Pickel, den braunen Freund, und schreite vom Roten Boden, in den, ach wie oft, in vergangenen Jahren mein Nagelschuh flüchtige Spuren grub, schreite in Abendandacht, in Ehrfurcht vor eigener Jugend, vor aller Jugend, in das verdämmernde Tal, während Gabelhorn und Dent Blanche dort drüben die düstern Wände vor die verglühende Sonne stellen.

Feedback