Auffallende Erscheinung in den Bergen
VON D. FISCHER, BADEN
Mit 1 Bild ( 74 ) Schon oft sind in den « Alpen » sonderbare Naturbeobachtungen erwähnt oder erklärt worden. Meist hatten Bergsteiger sie in ermüdetem Zustande gemacht. So erwähnt zum Beispiel André Roch im Aprilheft 1941, dass zwei Genfer Freunde nach 31 stündiger Bergfahrt auf die Aiguille Verte von Mer de Glace aus Strandschirme, Bauernhäuser und Restaurants erblickt hätten. Da aber in der Regel die einzelnen Touristen unabhängig voneinander das Gleiche zu sehen vermeinen, kann wohl nicht in allen Fällen einfach von individuellen Halluzinationen gesprochen werden, sondern eine entscheidende Rolle müssen die atmosphärischen Verhältnisse zur Erklärung solcher Erscheinungen spielen. Wenn z.B. der Kettenjura von der Lägern aus an einem Hoch-winterabend das Bild der Hochalpensilhouette bot, so war das eine Luftspiegelung, ähnlich einer Wüstenphantasmagorie.
Vom sogenannten Brockengespenst ist in der Julinummer 1956 wieder eine anschauliche Photographie erschienen; auch besteht darüber bereits eine ansehnliche Literatur. In der gleichen Nummer rief eine Notiz über die Neuanlage des Mountethüttenweges von Petit Mountet aus unwillkürlich eine Erinnerung an ein Erlebnis in mir wach, das ich vor vielen Jahren auf der bisherigen Route gehabt, und gleichzeitig an weitere auffallende Erscheinungen in den Bergen, die ich mir damals genau notiert hatte.
1. Der Grand Cornier als Neubau Es war am 27. Juli 1936, um 21 Uhr 30, auf dem untern Durandgletscher, am Fuss der Seitenmoräne, auf der das nachts geschlossene Bergwirtshaus Petit Mountet steht. Nach heikler Traversierung des Obergabelhorns, bei Lawinengefahr im obern Teil des Nordgrates und einem rasenden Weststurm auf dem Gipfel und in den vereisten Felsen des Arbengrates, waren wir im Abstieg nach Zinal begriffen. Nach vorher sehr unbeständiger Witterung war am Vortag schönes Wetter bei Föhnlage eingetreten, und in den Bergtälern muss es den ganzen Tag strahlendschön und heiss gewesen sein. Mein Begleiter hatte unbedingt noch zu Tal steigen wollen, und da auch ich lieber in meinem Hotelbett geschlafen hätte, als noch einmal in der Mountethütte zu nächtigen, und den Weg von einer früheren Zinalrothorntraversierung über Nord- und Westgrat einigermassen kannte, war unser Führer mit dem Abstieg zu zweit einverstanden, freilich nicht bedenkend, dass uns die Dämmerung und die rasch einsetzende Dunkelheit noch auf dem Gletscher einholen würde.
Ich lege gerade ab, um mit der Taschenlampe die Seitenmoräne nach dem Saumpfand abzusuchen, der hier irgendwo zum Restaurant Petit Mountet hinaufführen muss. Hocherfreut, noch rechtzeitig abgebogen und durch das Gewirr von Séracs, Eiswasserlöchern, Schutt und Blöcken ausgerechnet auf die Wegspur gestossen zu sein, schwinge ich den Rucksack wieder auf die Schultern und schaue in die Runde. Da - was ist dasDer Grand Cornier, der von hier aus die Dent Blanche bereits zum Teil mit seiner eisrinnendurchzogenen Nordwand verdeckt -, jetzt steht an seiner Statt da westlich über uns ein Riesengerüst wie an einem im Bau begriffenen Hochhaus, mit Stangen, Querverstrebungen und ragenden Kranarmen!
Schon auf dem letzten Wegstück war mir Moränenstaub in die Augen gerieselt, wenn ich seitlich schritt oder einen Blick rückwärts warf zu den Gipfeln und Gletscherpässen, wo die letzten Nebelwolken verflogen und Stern an Stern aufblitzte. Und im Schein des Laternenlichtes flimmert es beständig neben mir her. Auch plagt mich eine unheimliche, mir von einer Winterhochtour her bekannte Gefühllosigkeit in den Fingerspitzen! Dazu die Müdigkeit und mein linkes Schienbein, das schon am frühen Morgen von einem in Bewegung geratenen Block gequetscht worden, all diese Umstände bringe ich in Anschlag, um meinen Augen nicht ganz zu trauen. Aber ein Nicken der Bestätigung meiner Vision, wie es mein Kamerad spontan kundtut, es sogleich auch mit Worten begleitend, beweist mir, dass ich nicht allein stehe mit meiner so verwunderlichen Beobachtung: So oft wir noch hinschauen, immer bleibt das gleiche gigantische Gerüst vor einem Wolkenkratzer!
Talzu tippelten wir, und erst nach mehrmaligem Läuten gelang es uns, den Hotelportier aus seinem ersten Schlaf zu wecken. Zu essen gab 's nichts mehr, nur eine Flasche Bier aufs Zimmer.
2. Ein Strich am Nachthimmel Um 23 Uhr 15 war ich mit Frau und Kindern am 19. Juli 1937 bei klarem Mondschein in Faulensee aufgebrochen, um über Aeschi und Bad Heustrich den Niesen zu besteigen. Das Wetter war schon längere Zeit schön und heiss, aber ziemlich unsicher gewesen Immer wieder türmten sich am Abend die drohenden Gewitterwolken, der folgende Morgen war jeweilen wieder wolkenlos.
Bereits hatten wir kurz nach Mitternacht den höchsten Punkt des Aeschibergs hinter uns und wandten uns in südwestlicher Richtung dem Kandertale zu. Der Mond war schon geraume Zeit hinter der Ostrippe des Niesen verschwunden.
Auf einmal fällt mir am flimmernden, völlig wolkenlosen Nachthimmel ein dunkler Strich auf, der sich von Süden weit nach Norden, immer schwächer werdend, schnurgerade in die Höhe zieht. Er geht vom Gipfel des Niesen, genau von seiner Spitze aus. Zufällig verläuft in gleicher Richtung über uns ein Telephondraht, so dass ich zuerst annehme, ohne es mir allerdings, bei Gegenlicht, erklären zu können, der Strich sei irgendwie sein Schatten. Ein paar Schritte weiter weist der Draht in eine ganz andere Richtung; dennoch bleibt die Erscheinung am fernen Himmel dieselbe. Wie in einem weichen Schimmer steht dieser nächtlichhelle Himmel rechts, westlich vom Strich, doch nicht etwa nur als Streifen oder konisch verlaufend. Bloss die Gipfelspitze in Verbindung mit dem Schein des verborgenen Mondes muss diesen Strich bewirken. Aber wie?
In den frühen Abendstunden des gleichen Tages, während wir alle im tiefsten Schlafe lagen, müde vom nächtlichen Aufstieg und dem heissen Tag, brach ein schweres Unwetter über die Gegend des Thunersees herein und verursachte in den Dörfern gegenüber von Faulensee, besonders in Gunten, grosse Überschwemmungsschäden.
3. Ungewollte Bildwirkung Diesmal war das Auffällige leicht zu erklären, schien mir jedoch nicht häufig, vorher vom Auge unbemerkt, erst auf einer Photographie sichtbar zu werden.
Kurz vor den erwähnten Ferien im Sommer 1937 hatte ich an einer Clubtour über den Krönten-ostgrat teilgenommen, mit Abstieg ins romantische Leitschachtal, wo aber die ( erst zwei Jahre später an der Landesausstellung vorgeführte ) Clubhütte des SAC noch nicht stand. Bald nach Sonnenaufgang machten wir bei der Lücke zwischen Männtli und Männtliser den ersten Halt. Die imposante Scharte verlockte mich zu einer Aufnahme mit meinem freilich sehr « bescheidenen » Apparat.
Als ich die betreffende Kopie beim Photographen näher betrachtete, was entdeckte ich da ?! Konnte ich mich doch nicht erinnern, dass ich irgendjemand hatte vor mir stehen oder sitzen sehen, als ich die Aufnahme gemacht hatte. Da stand nun aber einer, und neben ihm sass einer und trug sogar deutlich erkennbar ein Bergseil gerollt über der Schulter. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich freilich, dass es Schattenbilder waren und dass ich selber der Stehende war! Der Hang, auf dem ich stand, wie auch die sitzende Person, waren hinter dem Apparat gewesen, aber von der noch sehr tief stehenden Sonne als relativ scharfe Schatten auf die gegenüber aufragenden Felswände geworfen worden, ohne dass ich etwas davon bemerkt hatte. Das allerdings unerklärliche, auf einer Silhouette so helle « Gletscherseil », das war nichts anderes als die Folge eines ausgerechnet auf diese Stelle des Films beim Entwickeln gefallenen Wassertropfens! Doch hatte das Bild durch die ungewollte Belebung der Landschaft unzweifelhaft gewonnen.
4. Noch zwei optische Täuschungen und andere Enttäuschungen Zum Schluss einige drollige Erlebnisse auf meiner ersten, noch viel weiter zurückliegenden Walliser Tour; drollig freilich nur in der Erinnerung! Diese beiden optischen Täuschungen hingen allerdings nur mit meiner Unkenntnis und mangelnden Achtsamkeit zusammen.
Gegen Ende des Sommersemesters 1916 war es, mitten im ersten Weltkrieg. Zwischen lange Grenzdienste hatte ich einen Studienaufenthalt in Genf einschieben können, und zum Abschluss war bereits ein Abstecher ins Wallis mit zwei welschen Kommilitonen vereinbart. Aber militärische Einberufungen hatten für diese die Vorverlegung von Prüfungen zur Folge. So blieb mir nur die Wahl, entweder meine erste Bekanntschaft mit dem Wallis auf unbestimmte Zeit verschoben zu sehen, oder eben mit einer alten, entlehnten Siegfriedkarte und einem gleichfalls geliehenen Pickel allein in die Berge zu ziehen, obschon der Sommer anfangs Juli noch nicht so recht in die Walliser Hochtäler eingezogen war.
Zu Fuss wanderte ich von Sion bis nach Les Haudères. Von Militär und verstärkter Grenzkontrolle merkte ich damals nichts, im Gegensatz zum Sommer 1940, als ich in der gleichen Gegend weilte. Sehr einsam war es vielmehr, und relativ weit herunter lag noch Schnee. Der zweite Tag führte mich auf die Alpen Ferpècle und Briccola, immer näher der schaurigen Dent-Blanche-Nordwand, die erst einige Jahre später ganz durchklettert wurde. Noch am Abend des gleichen Tages stieg ich nach Arolla hinauf. Dort musste ich schweren Herzens der Versuchung widerstehen, mit einem jungen Einheimischen als Führer den damals noch « dankbaren » Mont Collon zu besteigen. Aber eine Extraauslage von zwanzig Franken konnte ich nicht verantworten.
Am dritten Tag hielt ich mich beim Anstieg zum Col de Riedmatten streng an die Mahnung, als Alleingänger ja nicht zu weit links, auf den Pas de Chèvres, zu halten. Durch das unmittelbar westlich von meiner Route begrenzte Kartenblatt in der Orientierung behindert, suchte ich daher den Pass, als der Weg sich in Geröll und Schnee verlor, etwas zu weit rechts, wo eine breite, sanft-geschwungene Scharte lockte, und ermüdete mich ganz unnötig im mehr und mehr aufgeweichten Schnee des Südhanges. Noch im rechten Augenblick entdeckte ich mit Bestürzung, dass mein so malerischer Sattel - eine überhängende Riesenwächte war! Also, mühsam genug, zurück. Jetzt erst bemerkte ich, dass geradeaus ein schmaler Zickzackpfad zwischen Fels und Gras zu einer schneefreien Lücke emporführte.
Im Abstieg von dem harmlosen Übergang zur Alp Seiion im obersten Val des Dix begegnete mir der einzige Mensch von Arolla bis Hérémence, ein fast unheimlich städtisch gekleideter, magerer Mann mit einem leichten Rucksäckchen und in Knöpflischuhen, der kaum grüssend eilig an mir vorbeischritt. Müde und trotz meiner Schneebrille vom Sonnen- und Gletscherglast geblendet, warf ich meinen schweren Rucksack vor einer Alphütte zu Boden und war eben im Begriff, mich auf einen vor der Türwand liegenden Baumstrunk zu setzen. Da - hob sich dieser jäh unter meinem Gesäss, mit scheusslichem Grunzen! Auf ein dunkel geflecktes Bergschwein hatte ich mich gesetzt.
Erst jetzt vermisste ich verschiedene Nahrungsmittel, wie Zucker, Konservenmilch und Suppenwürfel, was ich offenbar alles am Vortag an einem Rastplatz hatte liegen lassen. Darum musste ich davon absehen, in der damals noch tiefer als das heutige Steinhaus gelegenen Val-des-Dix-Clubhütte des SAC zu übernachten, vertröstete mich aber auf ein Berggasthaus, das auf meiner Karte weit oben im Val d' Hérémence verzeichnet war. Leider entpuppte sich dieses jedoch als Trümmerhaufen. Und im Hauptort des Tales mit seinen schwarzen Häusern und engen, kotigen Gassen, wo eine Romantsch sprechende alte Frau in ehrwürdiger Tracht mir den Geistlichen als sehr gastfreundlich schilderte, wies mich dessen rabauzige Haushälterin barsch ab. So musste ich noch einmal weiterwandern, denn die Pferdepost führte nur wenige Kurse; auch wäre sie mich wohl allzu teuer « zu sitzen » gekommen Endlich, beim Einnachten, kam ich in Vex an.
Da wundert man sich dann im Alter über schmerzende Füsse! Wie bequem hat es doch die heutige junge Bergsteigergeneration: Wie leicht rollt ihr das Geld, wie leicht rollt sie selbst und spezialisiert sich dafür auf allerlei sommerliche und winterliche Akrobatik, ohne mühsamen An-und Rückmarsch! Allerdings muss man ihr zugute halten, dass moderner Strassenbelag und ständig zunehmender Verkehr, Verstümmelung von Dorf- und Landschaftsbild durch verbreiterte Zufahrtsstrassen und Ableitung von Gewässern, Bau von Kraftwerken und Staudämmen, von Sessel-und Luftseilbahnen, dass all das einem gesunden Wanderwillen entgegenwirkt, der die vielen wechselnden Eindrücke vom alpinen Gelände und seiner Bevölkerung in Ruhe aufnehmen möchte. Denn noch nicht überall gibt es Höhenwege, wie der seit kurzem fertigerstellte Balfrinweg von Saas-Fee nach Grächen.