Begegnung mit Tieren
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Begegnung mit Tieren

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von R. Streiff-Becker

( Zürich und Glarus ) Auf freier Wildbahn einer Gemse auf buchstäblich handgreifliche Nähe zu gelangen, ist nur beim Zusammentreffen besonders günstiger Umstände möglich. Ein solcher Glücksfall war mir vor rund sechzig Jahren beschieden. Wir, drei junge Burschen, wanderten früh morgens von Glarus über Schwanden durchs Niederental, um den Kleinkärpf zu besteigen. Eine Leglerhütte existierte damals noch nicht, geschweige denn die Seilbahn vom Kies zur Garichte. Weil ein starker Föhn blies, hielten wir uns im Windschutz auf der Nordseite des Grates, der sich vom Unterkärpf zum Kleinkärpf hinaufzieht, am oberen Rand der Block-und Schutthalden über Winterschneeflecken. Der Schnee war gut gangbar und weich, so dass wir lautlos vorwärts kamen. Ich war als erster etwas voraus bis zu einer Stelle, wo der Grat eine scharf begrenzte, etwa zwei Meter breite Scharte aufweist und den Blick nach Süden zum Grosskärpf freigibt. Fast erschreckt hielt ich inne, denn in der Lücke stand vor mir, mit dem Rücken gegen mich, ein starker alter Gemsbock so nahe, dass ich ihm den Hintern hätte tätscheln können. Er schaute sichtlich sehr gespannt nach Süden hinunter. Durch die Lücke brauste mit Gewalt der Föhn, so dass das Tier mich weder riechen noch hören konnte. Ich gab meinen Kameraden das Zeichen zum Stillhalten. Da wendete der Bock langsam seinen Kopf, erschrak, wie auch ich. Wir schauten uns einem Moment gegenseitig in die Augen. Ich fürchtete, überrannt zu werden, doch sprang der Bock südwärts scharf um die Ecke. Ich hörte nur noch Steine poltern und sprang rasch nach. Da sah ich tief unter mir auf dem Kärpfgletscherchen zwei Touristen, die zu mir hinaufschauten und sich wohl wunderten, dass an Stelle der Gemse plötzlich ein Mensch oben in der Gratlücke stand. Es war mir nun klar, weshalb die Aufmerksamkeit der Gemse so intensiv nach Süden gerichtet war, der Föhn trug ihr den Duft der Touristen zu. Diese Begegnung blieb so scharf in meiner Erinnerung, dass sie alle anderen an jene Bergtour verwischt hat.

Die zweite Begegnung, von der ich erzählen will, spielte sich wieder im Kärpfgebiet ab, und es mögen wieder etwa sechzig Jahre seither vergangen sein. Unser Ziel war die harmlose, aber immer lohnende Schönau ob Haslen. Beim Aufstieg zum Niederental holten wir einen kleinen, etwa zehnjährigen Buben ein, der allein vor uns herlief. Als er uns wahrnahm, wartete er sichtlich auf uns und begann gleich ein Gespräch. Man konnte auch hier sagen: « Wess'das Herz voll ist, dess'geht der Mund über. » Auf unsere Frage: « Wo willst denn du so allein hin, Bübchen? », kam die Antwort: « Zur Ennetseewenalp, wo unser ,Schägg* ist. » Dann erklärte er uns, warum er so allein den weiten Weg von Bilten dahinauf unter die Füsse genommen habe. Der « Schägg » war im Stall des Vaters in Bilten zur Welt gekommen, war selbstredend ein Wundertier an Schönheit und Güte und wurde sein Liebling. Das Kälblein wuchs schneller heran als der Bub und musste schliesslich zur Sommerung auf die Alp gebracht werden. Doch das Heimweh nach dem « Schägg » zehrte am Büblein, das dem Vater keine Ruhe liess, bis dieser endlich sagte: « Nun, so gehe doch deinen Schägg auf der Alp besuchen, musst aber allein gehen, ich habe keine Zeit. Du wirst gewiss unterwegs jemanden treffen, der dir den Weg weist. » So geschah es auch. Da wir ungefähr dasselbe Ziel vorhatten, begleitete uns der Bube, immer munter plaudernd. So näherten wir uns der Alp, die östlich von der Schönau liegt. Von weitem sahen wir viel Rindvieh im Grase liegen und sagten dem Buben, dass da vorne die von ihm gesuchte Alp liege. Der Bube schaute scharf hin und rief dann laut: « Schägg! Schägg! » Da sahen wir, wie eines der Tiere plötzlich den Kopf hochhob, rasch aufstand und sich in die Rufrichtung stellte. Da schrie der Bub hocherfreut: « Das isch dr Schägg! » und rannte gegen das Tier, stolperte und fiel über Alpenrosenbüsche, stand hastig wieder auf, immer rufend « Schägg! Schägg! » Das Tier streckte erregt seinen Schwanz hoch und begann auch gegen den Buben hinzurennen. Die Begegnung war nun wirklich herzergreifend. Der Bube umarmte den Hals und Kopf, weinte vor Freude, und das Tier beleckte mit seiner Zunge den Jungen über und über. Der Bub blieb bei seinem « Schägg ». Wir setzten unsern Weg zur Schönau fort, tief beeindruckt von diesem schönen Beispiel echter Freundschaft zwischen Tier und Mensch.

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