Bergführer: Traumberuf oder Berufung?
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Bergführer: Traumberuf oder Berufung?

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Bergführer:

Traumberuf oder Berufung?

Toni Fullin, Flüelen

Blick von der Läged Windgällen über den tiefen Graben des Schächentales hinüber zum Schärhorn Wie schon so oft fahre ich dem Klausenpass zu, um zu klettern. Talwärts ziehende Älpler mit blumengeschmückten Viehherden erinnern mich daran, dass wieder ein Sommer zu Ende geht. Da und dort ein bekanntes Gesicht - nicht nur zu den Bergen, auch zu den Älplern hier habe ich ein besonderes Verhältnis.

Jetzt kehrt wieder die grosse Stille ein auf den Alpen. Es ist eine Zeit, die ich besonders liebe. Wie viele solcher Tage habe ich schon in der Einsamkeit meiner nächsten Heimatberge erlebt! Sie tragen nicht die klingenden Namen der berühmten Wände und Grate an der Furka und im Göschenertal. Statt Rummel und überlaufenen Routen finde ich hier, rund um den Klausenpass, denn auch Ruhe und Einsamkeit.

In Urigen treffe ich meinen Gast, Brigitte Schweitzer, eine ganz hervorragende Bergsteigerin. Ihre Ruhe und ihre Klettergewandtheit lernte ich diesen Sommer anlässlich einer Begehung des SE-Pfeilers am Reissend Nollen schätzen. Es ist schön, mit Brigitte zu klettern! Obwohl wir ein eher schweigsames Duo sind, verstanden wir uns auf Anhieb gut.

Heute möchte ich Brigitte eine der schönsten Routen an der Läged Windgällen zeigen, die SW-Rippe am Ostgipfel. Ein stolzer Weg, schöner noch als die Kletterei über den benachbarten Zentralpfeiler, in dessen Schatten er jahrelang stand. Erst als der unermüdliche Hans Kempf, ein grossartiger Kletterer und einer der Haupterschliesser der extremen Kletterwände in den Schächentaler Bergen, die Route neu ausrüstete, schien der Bann gebrochen. Mit verbesserter Linienführung am Einstieg sowie im obern Bereich beschreibt sie heute eine Traumlinie.

Auf Heitmannegg, einer idyllisch gelegenen Alpsiedlung, stellen wir unsern Wagen ab und rüsten uns für den kurzen Anmarsch zur eindrucksvollen Wand. Gepflegte sonnenverbrannte Alphütten zeugen von der Heimatliebe ihrer Besitzer. Eng zusammengerückt, Die Südwand des Hauptgipfels der Läged Windgällen; etwas rechts des vor einer Kulisse himmelhoch aufragender Berge, strahlen sie Herdwärme und Geborgenheit aus. Eben erreichen die ersten Sonnenstrahlen den Einstieg unserer Route. Einladend und freundlich leuchten die braunroten Felsen im Lichte der warmen Herbstsonne auf. Einmal mehr danke ich der Gunst des Himmels, die mich vor Jahren die Sicherheit einer guten Anstellung aufgeben und die Ungesi-chertheit des freischaffenden Bergführers wählen liess. Augenblicke wie der jetzige machen mein kleines Glück vollkommen!

Zum dritten Mal in diesem Jahr stehe ich am Einstieg der gewählten Route. Einmal war ich mit Gusti hier, dem alten Haudegen ( je äl- markanten Zentralpfei-lers die Südwestrippe ter er wird, um so besser klettert er ), dann mit meinem Sohn Mario sowie Peter, die beide immer zu haben sind, wenn es ums Klettern geht. Schön ist die Erinnerung an die gemeinsam erlebten Tage!

Schon die erste Seillänge verlangt ein ruhiges, ausgeglichenes Klettern. Rhythmisch gleiten Tritt und Griff vorüber, ein kleiner Überhang, die glänzenden Ösen der Haken, vier auf fünfzig Meter. Eins sind Körper und Geist, fast schwerelos geht 's zum ersten Stand hinauf.

Während Brigitte klettert, fliegt mein Blick zum Clariden, zum Ruchen und zur Grossen Windgälle hinüber. Ein Hermelinmantel aus blendend weissem Neuschnee verbirgt das hässliche Blankeis, lässt die Gipfel im Festkleid erstrahlen.

Zwei weitere Seillängen führen hinauf aufs grosse Band. Hier erst beginnt die eigentliche Rippe. Super-Fels, dolomitisch steil, und einmalige Kletterstellen - ein wahres Eldorado. Luftige Quergänge und steile Risse verbinden sich zu einer Linie von auserwählter Harmonie. Auch meine Seilgefährtin ist begeistert von der einzigartigen Kletterei, vom karrenartig verfressenen Gestein, dem !

Die Seillänge hinauf zum Wandbuch bildet den Höhepunkt des Tages. Im wackligen Schiingentand tragen wir stolz unsere Begehung ein. Fünfzehn Seilschaften erst sind im Büchlein eingetragen - und dies in den überlaufenen Alpen!

Eindrucksvoll ist der Blick zum benachbarten Zentralpfeiler hinüber. Wie eine Messerschneide sticht er vom Hintergrund, einem tiefblauen Himmel, ab.

Wie manche begeisternde Stunde habe ich schon dort drüben erlebt: bei der ersten Winterbegehung mit Beat ( schon lange klettert er nicht mehr ), anlässlich der Drittbegehung mit Wisi und bei einer wilden Solofahrt. Weit weg sind die Kameraden von damals. Geblieben ist mir nur ein Hauch von Erinnerungen, und doch waren es Augenblicke, die ich intensiv gelebt habe.

Noch eine herausfordernde Wandstufe, dann lassen wir den steilen Wandteil hinter uns. Die letzten zwei Seillängen der Südrippe, die sich wie eine Himmelsleiter im unendlichen Blau zu verlieren scheint, geniessen wir als willkommene Dreingabe. Lose liegen die buntfarbigen Seilstränge auf den grauen Gipfelplatten: Unser Weg, eine Route mit einer Vielzahl einzigartiger Kletterstellen, ist zu Ende.

Angesichts des herrlichen Herbsttages, den wir bei der Gipfelrast bis zur Neige auskosten, fällt es uns schwer, an Winter und Kälte zu glauben. Und doch wissen wir, dass sich schon bald eine weisse Decke auf die braunen Bergmatten legen wird, dass Schnee und Eis der Natur ihren Tribut abfordern werden.

Minuten des Schauens, der Besinnung, etwa auf die eigene Vergänglichkeit. Noch stehen wir im Sommer unseres Daseins, doch nichts ist so sicher wie Lebensherbst und -winter. Vom Frieden, von der Abgeklärtheit der Bergwelt möchte ich etwas hinabtragen in die Hektik und Unrast unserer Zeit, vielleicht auch hinüberretten in jene andern, noch fernen Tage.

Langsam kriechen die Schatten aus den Tälern, um von den noch sonnenwarmen Matten Besitz zu ergreifen. Sie eilen weiter, unerbittlich, das Licht zu löschen, in dem die hohen Gipfel noch erstrahlen.

Uns beginnt zu frösteln. In unsern Herzen aber lodert ein Feuer, das sich nicht so leicht ersticken lässt, solange nicht wie unsere Gedanken in den steilen Wänden weilen, in den abweisenden Plattenstufen, den luftigen Quergängen - fern von Tal, Schatten und Dämmerung!

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