Bergsteigen als ganzheitliche Betätigung
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Bergsteigen als ganzheitliche Betätigung

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON D. WERNER RICKENMANN, ZUMIKON

Als Bergsteiger wird man zwangsläufig immer wieder mit der Frage nach den Beweggründen seiner Tätigkeit konfrontiert. Es ist gewiss nicht leicht, die Ursachen des etwas unbestimmten Dranges zum Bergsteigen zu erkennen; sie sind komplexer Natur und sicher in jedem einzelnen Fall wieder anders gelagert. Trotzdem sei es mir gestattet, einige grundsätzliche Betrachtungen zum Thema Alpinismus anzubringen. Auf längeren Anmarschwegen haben wir jeweils genügend Zeit, solchen persönlichen Gedanken nachzuhangen, und im Laufe der Jahre haben sich die nachfolgenden Überlegungen herauskristallisiert.

Zu einer vertieften Erkenntnis können wir uns die historische Betrachtungsweise aneignen. Dabei zeigt sich, dass das Bergsteigen im eigentlichen Sinn seinen Ausgangspunkt in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat, in einer Zeit also, wo die naturwissenschaftliche Entdeckerfreude ein gesteigertes Tempo anschlug. Dementsprechend dehnte sich diese auch auf das Gebiet der Alpen aus. Anderseits war diese Zeit gekennzeichnet durch die Ausprägung des philosophischen Materialismus ( Feuerbach, Marx usw.ausserdem warfen während der industriellen Revolution die ersten Anzeichen einer zukünftigen Massengesellschaft ( Proletariatsbildung, Industriezentren ) ihre Schatten voraus. Damit könnte man das Bergsteigen verstehen als Reaktion gegen das materialistische Denken und als ein Mittel zur Bewahrung der freien Persönlichkeit. Abgesehen von einigen schlagwortartigen Erkenntnissen, erscheint also diese historische Betrachtungsweise wenig ergiebig.

Erfolgversprechender zur Analyse scheint mir die anthropologische Betrachtungsweise zu sein. Dabei haben wir von der Voraussetzung auszugehen, dass der Mensch ein Wesen ist, das aus Körper, Seele und Geist besteht. Die Untersuchung hat demnach zu zeigen, inwieweit diese drei verschiedenen Seinsbereiche beim Bergsteigen beansprucht werden.

Der körperliche, sportliche Aspekt beim Bergsteigen braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden. In früheren Untersuchungen ist dem Alpinismus unter sämtlichen Sportarten der erste Rang in einer biologischen Wertungsskala zuerkannt worden, und zwar in dem Sinne, dass bei anspruchsvollen Fahrten alle Organsysteme ( Bewegungsapparat, Kreislaufsystem, Atemtätigkeit, Nervensystem, Sinnesorgane, Stoffwechsel und innere Sekretion ) in maximaler Weise belastet werden. Es mag Sportarten geben, bei denen einzelne dieser Systeme kurzzeitig noch höher beansprucht werden mögen, in seiner harmonischen Ausgewogenheit aber steht der Bergsport wohl einzig da. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass es sich beim Bergsteigen um eine langdauernde, mehrstündige Beanspruchung handelt. Dass in bestimmten Grenzsituationen zur Rettung der Existenz vom Körper unter Umständen das Letzte abgefordert werden muss, ist bekannt. Aber auch unter normalen Verhältnissen kann das Erreichen eines Zieles, die Überwindung der eigenen Trägheit an die Willenskräfte die allerhöchsten Anforderungen stellen.

Bei seelischen Faktoren sind verschiedene Komponenten zu unterscheiden; das Naturerlebnis nimmt dabei eine Vorzugsstellung ein. Nirgendwo wie in den Bergen erleben wir auf kleinstem Raum einen derart intensiven Wechsel an grossartigsten Landschaftsszenerien. Eine Bergtour vermittelt uns Städtern wieder den Kontakt mit der Erde, dem Gestein, mit Schnee und Eis, mit der Vegetation und der Fauna. Das ästhetische Erlebnis ist zweifellos erstrangig. Im weiteren haben wir Gelegenheit, die kosmischen Rhythmen ( Tag/Nacht, Jahreszeiten ) intensiver mitzuerleben, ein Gefühl, das in unserer künstlich manipulierten Umwelt langsam zu verkümmern droht. Man schaut wieder einmal den Wechsel von einer mondbeschienenen oder auch dunklen Nacht über die Morgendämmerung zum hellen Tag, zudem in einer Stille und Einsamkeit, wie das infolge der zunehmenden Motorisierung in Mitteleuropa bald nur noch im Gebirge möglich ist. Infolge der Frei-lufttätigkeit sieht man sich den atmosphärischen Gegebenheiten in ihren sämtlichen Erscheinungsformen gegenübergestellt, vom strahlenden Wetter über Wind und Regen bis zu Nebel, Schneefall und Sturm. Im Verlauf weniger Stunden kann aussergewöhnliche Hitze in extreme Kälte umschlagen. Wir lernen damit das Leben in seiner Ursprünglichkeit wieder kennen. Im Biwak kommen wir uns wie Höhlenbewohner vor, und in der Hütte leben wir nach mittelalterlichen Massstäben. Ein weiteres bedeutendes Erlebnis, das uns in der heutigen verplanten Welt immer mehr abhanden kommt, ist dasjenige des Irrationalen. Es begegnet uns nicht nur im raschen Wechsel der Witterung, sondern auch in den Gefahren am Berg ( Steinschlag, Lawinen, extreme Verhältnisse ). Gewiss lassen sich diese Gefahren mit zunehmender Erfahrung weitgehend ausschalten, aber eine hundertprozentige Sicherheit lässt sich beim Bergsteigen niemals erreichen. Man ist mit dem Schicksal unter Einsatz des Lebens verbunden. Eine gelungene Tour ist jedesmal ein Geschenk der Gnade und lehrt uns Ehrfurcht und Bescheidenheit.

Das Erlebnis der Kameradschaft beim Bergsteigen ist in seiner affektiven Bindung total, weil man mit dem Gefährten durch das Seil auf Leben und Tod verbunden ist. Es zeigt sich auch immer wieder, dass sich die Bergkameradschaften als dauerhafte Freundschaften im Leben bewähren.

Das Bergsteigen ist zudem eine ausgezeichnete Schulung für unsere Willenskräfte. Wo ein Rückzug unmöglich ist und wo die Existenz vom Durchhalten abhängt, wird es zur Lebensfrage. Als Lohn ernten wir das Erlebnis des Kampfes mit den Elementen, den Naturgewalten und den speziellen Verhältnissen. Schwierige Situationen, wo wir ganz auf uns selbst gestellt sind, verlangen den letzten Mut. Zusammenfassend können wir zu diesem Abschnitt also feststellen, dass uns das Bergsteigen auf emotionalem Gebiet eine Fülle der verschiedensten Eindrücke vermittelt.

Damit gelangen wir zur Betrachtung der geistigen Grundlagen. Die korrekte Vorbereitung einer Bergtour beginnt mit dem Literatur- und Kartenstudium. Durch das Verarbeiten von Schilderungen früherer Fahrten, durch die Beschreibung im Clubführer und durch Hinweise von Kameraden können wir uns ein Bild machen über Charakter, Schwierigkeitsgrad, Routenführung und Länge der bevorstehenden Tour. Dann handelt es sich darum, diese Anforderungen in Beziehung zu setzen mit unserer jeweiligen Kondition und Leistungsfähigkeit. Die Frage, ob man einer bestimmten Tour gewachsen ist, erfordert für jeden Alpinisten -je nach seinen technischen Fähigkeiten - ihre individuelle Beantwortung. Ob es sich nun um eine leichte oder um eine schwierige Tour handelt, entscheidend ist dabei, dass man sich innerhalb der Grenze der eigenen Leistungsmöglichkeiten befindet, wobei eine gewisse letzte Reserve nur nützlich sein kann. Selbstverständlich ist es besonders genussvoll, Touren durchzuführen, die unsere Kräfte bis zum äussersten beanspruchen. Ebenso wichtig ist die Auswahl der Kameraden; auch sie müssen der Tour gewachsen sein. Falls eine Tour nicht selbständig ausgeführt werden kann, haben wir uns der Führung eines Erfahrenen, eines Bergführers, anzuvertrauen. Bei der Detailplanung haben wir den adäquaten jahreszeitlichen Zeitpunkt und die entsprechende Ausrüstung festzulegen. Es folgt dann die Routenwahl im einzelnen unter Berücksichtigung sämtlicher objektiver Gefahren. Die Beurteilung der jeweiligen Verhältnisse in bezug auf Vereisung, Schneebeschaffenheit usw. vom Tale aus erfordert bereits eine längere Erfahrung. Dasselbe gilt für die Bewertung der Wetterlage und ihre voraussichtliche Entwicklung. Sodann ist für jede Tour eine ungefähre Marschtabelle in ihrer besten tageszeitlichen Fixierung aufzustellen. Während der Tour erfordert die bestmögliche Routenwahl unsere fortgesetzte Aufmerksamkeit Fort-laufende Standortbestimmung auf der Karte ist unerlässlich, Orientierung mit Höhenmesser und Kompass kann notwendig werden. Die Einhaltung der Marschzeiten ist zu kontrollieren, die Wetterentwicklung und die Gefahrenquellen sind unausgesetzt zu beobachten. Durch Veränderungen in der Kondition der Seilschaft, durch Wetterverschlechterung oder schlechte Verhältnisse am Berg kann man gezwungen werden, die Lage neu zu überprüfen. Eine Routenänderung kann sich aufdrängen. Es sind unter Umständen Entscheide von grosser moralischer Tragweite zu fallen. Ein Rückzug ist immer noch ehrenvoller als eine infolge Sturheit oder falschen Prestigedenkens herbeigeführte Katastrophe. Schliesslich tragen wir auch die Verantwortung unseren Angehörigen und uns selbst gegenüber. Die Verhältnisse am Berg sind das letztlich Unwägbare; sie können und dürfen stärker sein als wir, und dann haben wir uns ihnen zu beugen. Hingegen können die Fehlentscheide, die infolge falscher Beurteilung des Schwierigkeitsgrades oder unserer Fähigkeiten entstehen, mit zunehmender Erfahrung auf ein Minimum reduziert werden.

Den vorliegenden Ausführungen entnehmen wir also, dass das Bergsteigen eine Menge von Überlegungen und Denkakten erfordert, die es in ihrer Gesamtheit zu würdigen und gegeneinander abzuwägen gilt. Es geht bei den Entschlüssen darum, das Risiko so klein wie möglich zu halten. Ähnlich wie bei einem operativen Eingriff ist auch bei einer Bergtour das Risiko nie gleich Null; durch gewissenhafte Vorbereitung und Durchführung kann es jedoch verschwindend klein gehalten werden. In diesem Sinne stellt das Bergsteigen enorme geistige und moralische Anforderungen.

Wir haben somit alle drei menschlichen Wesensbereiche in ihrer Beziehung zum Bergsteigen durchmessen und dabei festgestellt, dass jeder einzelne von ihnen in beträchtlichem Masse ausgelastet wird. Durch diese Strapazierung sämtlicher drei Seinsbereiche ergibt sich damit eine der menschlichen Natur maximal entgegenkommende, harmonische Tätigkeit. Der moderne Mensch hat seine ursprünglichen Berufe als Bauer oder Handwerker, Berufe, welche in diesem Sinn am ehesten als harmonische Betätigungen angesehen werden können, weitgehend aufgegeben und benötigt in seiner Freizeit unbedingt den entsprechenden Ausgleich. Es ist mir indessen keine Sportart bekannt, die es in bezug auf die erhobene Forderung mit dem Bergsteigen aufnehmen könnte. Allein schon der Ausdruck Sport ist beim Alpinismus fehl am Platz, weil das sportliche Element daran nur eine einzelne Komponente ist und daher auch Wettkämpfe undurchführbar sind. ( Beim Schauklettern für Presse und Fernsehen handelt es sich um eine Degenerationserscheinung; der echte Alpinist will nur vor sich selber bestehen und benötigt den Beifall des Publikums nicht. Desgleichen besteht die Gefahr, dass die moderne Technik, der man beim Bergsteigen eigentlich ausweichen möchte, sich vorab im Extremalpinismus wieder Eingang zu verschaffen versucht. ) Das Bergsteigen ist demnach wie kaum eine andere Tätigkeit dazu berufen, die im Menschen vorhandenen Anlagen des Denkens, Fühlens und Wollens zur vollen Entfaltung zu bringen. Und noch in einem andern Punkt umfasst es eine weitere Dimension: das Bezugssystem beim Bergsteigen ist die Vertikale. Diese weist in die Höhe und damit ins Metaphysische.

Zum Abschluss noch einige hygienische Aspekte: Die Ärzte beobachten in letzter Zeit eine rapide Zunahme der Zivilisationskrankheiten ( Nervenkrankheiten, Magengeschwür, hoher Blutdruck, Rheuma usw. ). Aus den Untersuchungen des Hamburger Klinikers Prof. A.J.ores geht hervor, dass die erwähnten Krankheiten beim Primitiven sowie in der Frontsituation des Krieges kaum beobachtet werden können. Beim Frontkämpfer äussert sich somit - abgesehen von der Fragwürdigkeit des Krieges überhaupt - das Ausschöpfen der menschlichen Möglichkeiten durch körperliche Betätigung, Zielsetzung und Geborgenheit im Verband in einer verminderten Krankheitsanfälligkeit. Unsere heutige Berufsarbeit ist vorwiegend monoton und wird den im Menschen vorgeprägten verschiedenartigen Fähigkeiten in den wenigsten Fällen gerecht. Desgleichen ist die Freizeitbetätigung im Zeichen der fortschreitenden Technisierung weitgehend passiv. Ihre Verwandlung zu einer aktiven Teilnahme ist daher ein dringendes Erfordernis unserer Zeit. Dass das Bergsteigen den erwähnten Forderungen in geradezu idealer Weise entgegenkommt, geht aus der vorliegenden Untersuchung hervor. Die Bemühungen der modernen Medizin verlagern sich immer mehr von der Therapie zur Prophylaxe. Massvoll betriebener Alpinismus spielt deshalb auch eine hervorragende Rolle als individueller gesundheitserhaltender Faktor.

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