Bergsteigererinnerungen. Ein Abenteuer in der Verzasca
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Bergsteigererinnerungen. Ein Abenteuer in der Verzasca

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Karl Matter

( Aarau ) Ein Sonntagsausflug von Frasco-Verzasca aus zu einer auf idealer Aussichtskuppe gelegenen Alp des Vigornessotales ist durch besondere Umstände zu einem fünftägigen Abenteuer geworden, von dem ich hier erzählen will. Mit knapper Not bin ich dabei dem Schicksal entgangen, unrühmlicher Held des Rundfunks zu werden. So aufregend aber auch das Erleben war, um so stärker nur haften die Eindrücke jener Tage, um so heller leuchtet das ganze Erlebnis in der Erinnerung. Von den Monti von Gabione aus führt ein romantisches Weglein über schmale Felsbänder und in steilem Zickzack zu einer der höchsten Alpen der Verzasca, zur Alp Cognora empor. Dass es durch eine Lawine zerstört worden und die Alp aus diesem Grunde verlassen geblieben ist, habe ich nicht gewusst. Da ich nun schon eine beträchtliche Höhe gewonnen habe und die heikelsten Stellen hinter mir zu haben glaube, will ich meinen Weg nicht aufgeben.

So klettere ich denn an den Abbruchstellen des Pfades nahezu senkrecht, ohne eigentliche Griffe, in die Höhe, bis ich auf seine Fortsetzung stosse. Der Gedanke, auch wieder absteigen zu müssen, macht mir keine Sorgen. Nach meiner bisherigen Erfahrung scheint es mir selbstverständlich, dass ich mich auch wieder hinunterfinden werde, wo ich hinaufgekommen bin. In der Alp, die aus vier primitiven Steinhütten und ein paar Felshöhlen besteht, richte ich mich häuslich ein. Wasser finde ich in einem einige hundert Meter entfernten, unter einer Felswand verborgenen Naturbecken. Mit allen Sinnen aber gebe ich mich dem Genuss des einzigartigen Landschaftsbildes hin, das sich von dieser hohen Warte aus den staunenden Blicken darbietet. Kaum ein zweiter Punkt gewährt eine derartige Überschau des gesamten Vigornessotales.

Vigornesso heisst der oberste, hinter Sonogno gelegene Teil des Verzascatales, der für mich der Inbegriff der zauberhaften Tessiner Bergnatur ist. Die Sonne Die Alpen - 1944 - Les Alpes29 BERGSTEIGERERINNERUNGEN bleibt auf dieser Kuppe bis gegen 7 Uhr abends sichtbar, während sie in dieser Herbstzeit unten im Tal schon um die dritte Nachmittagsstunde verschwindet. Heute freilich deckt sich gegen Abend der Himmel zu, und ein scharfer und kalter Wind beginnt zu wehen, so dass man glauben möchte, das Wetter wolle sich zum Schlimmen wenden. Daher mache ich es mir in der Wohnhütte an einem kleinen Feuer gemütlich, darauf vertrauend, dass ich mit meiner Taschenlampe den Schlafraum, der höher oben unter Felsen sich befindet, auch in der Dunkelheit finden werde. Aber o weh, schon in dieser ersten Nacht muss ich eine schlimme Überraschung erleben. Als sie mir leuchten soll, glimmt meine Laterne in den letzten Zügen. So geschieht es denn, dass ich mich weder zu meinem Schlafraum noch zurück zur Wohnhütte finde und am Ende froh sein muss, eine kleine Felsenhöhle zu entdecken, die mich wenigstens vor den starken Windstössen einigermassen schützt. Von Schlafen ist natürlich keine Rede. Um die Füsse vor dem Einfrieren zu bewahren, muss ich sie in meiner halb liegenden, halb sitzenden Stellung ( aufrecht stehen kann ich in meinem Felsenloche nicht ) andauernd bewegen.

So wird mir die Nacht zur Ewigkeit.

In der Morgendämmerung werde ich gewahr, dass ich nachts in völlig verkehrter Richtung gegangen bin. Ich entdecke aber auch, dass ich meine Nacht in einem Schweinekoben zugebracht habe. Soll ich darüber lachen oder mich ärgern? Eine frohe Überraschung aber ist die Wahrnehmung, dass der nächtliche Wind die schwarzen Wolken verjagt hat, so dass ein neuer strahlender Sonnentag in Aussicht steht. Um die Mittagsstunde trete ich den Abstieg an, überzeugt, bis zum Abend bequem im Tal zu sein. Ich gelange auch ohne besondere Schwierigkeit bis zur untersten Wegunterbrechung. Hier aber will es nicht mehr glücken. Ich bringe den Mut nicht auf, das Äusserste zu wagen, als zu wenig Griffe für die Hand und kein Halt für den Fuss zu finden sind.

Und so überrascht mich die Nacht, als ich erschöpft meine Kletterversuche aufgeben muss. Kurz entschlossen mache ich mir auf ebenerem Wegstück ein Nachtlager zurecht. Unter mir die langen Alpengräser, im Schlafsack von Decken umhüllt, verbringe ich in der schönen, milden Alpennatur eine überaus angenehme Nacht. Gestärkt nehme ich am Morgen meine Kletterversuche wieder auf, leider ohne grösseren Erfolg wie am Tag zuvor. So entschliesse ich mich denn, wieder zur Alp Cognora emporzusteigen, um zu versuchen, über die Gratscheide zwischen den Gipfeln Mezzogiorno und Cima Bianca ins Tal von Osadigo und hinunter nach Chironico und der Leventina zu gelangen, hatte ich doch diesen Übergang vor Jahren schon einmal gemacht. In der Alp lasse ich für alle Fälle ein paar Zeilen über meine Absicht zurück. Auf dem Grat hat man erst über mächtige Felsblöcke hinunterzuturnen, bevor man den Abstieg auf bequemeren Felsbändern fortsetzen kann. Ich erinnere mich, dass man sich nach rechts halten muss, um einen Ausgang aus der unwirtlichen Steinwüste zu finden. Nun sind aber diesmal alle zu passierenden Felsbänder mit einer starken Eiskruste über-.

zogen. Da ich ohne Eispickel bin, sehe ich mich gezwungen, diesen Abstiegsweg aufzugeben. So suche ich auf der entgegengesetzten linken Seite nach einer Möglichkeit, über die Felswände hinunterzukommen. Dabei gelange ich auf heikein Felsbändern immer höher hinauf, bis ich am andern Ende des Grates zu Füssen der Cima Bianca, wo ein loses topographisches Signal liegt, einsehen muss, dass mein Suchen vergeblich und ein Hinuntersteigen auf dieser linken Seite für mich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Was aber nun? Inzwischen ist es Abend geworden. Von unten, ob von der Alp Casca oder den ferneren Monti von Osadigo kann ich nicht unterscheiden, höre ich erstaunlich deutlich die eigentümlichen Lockrufe, mit denen die Hirten ihre Ziegen zusammen-rufen. Mir aber bleibt keine andere Wahl, als die Nacht hier oben auf dem Grat zu verbringen. Also gilt es, eine Lagerstelle ausfindig zu machen. Zum Glück findet sie sich denn auch. Hinter einem hohen Felsen bin ich einigermassen gedeckt gegen die starken Stösse des Nordwindes, die nachts wieder aufflackern. Unter meinem Körper ist freilich heute kein weiches Gras, sondern harter nackter Fels. Dazu ist die Bewegungsfreiheit arg eingeschränkt, da mein Grat nur eben die doppelte Breite meines Leibes hat und nach Westen zum Vigornesso senkrecht abfällt. In der klaren Nacht bin ich dem Himmel nah wie noch nie, so dass die Sterne und die Mondsichel in märchenhaftem Glänze erstrahlen. In dieser Nacht, die mir in jeder Einzelheit ihres Erlebens unvergesslich bleiben wird, bedarf ich keiner Uhr von Menschenhand. Am Sternenhimmel kann ich auf das genaueste die Stunde der Nacht ablesen. Und als das in seiner ganzen Pracht sich offenbarende Sternbild des Orion über dem Mezzo-giornogipfel emporsteigt, da weiss ich, dass der Morgen nicht mehr ferne ist. In voller Romantik bricht so mein vierter Tag der abenteuerlichen Bergfahrt an. Ist schon am Tag vorher meine Ernährung aus Mangel an Lebensmitteln spärlich gewesen, jetzt wird sie es erst recht. Dennoch lasse ich den Mut nicht sinken. Und als die Sonne einen neuen strahlenden Tag ankündigt,...

wer wollte da verzweifeln?

Es gilt jetzt bloss, einen Ausweg aus meiner Gefangenschaft zu finden. Die schwarzen Vögel, die jedesmal mit ihrem hässlichen Schrei über meinem Haupt erscheinen, wenn ich in einer schwierigen Lage bin, sie sollen mich nicht bekommen. Ein erfreulicherer Anblick sind für mich die zum erstenmal beobachteten schneeweissen Vögel mit ihren purpurenen Hauben, die hier oben in den Felsen nisten. Zunächst versuche ich, über die am Tage zuvor begangenen Felsbänder auf meinen Weg zurück zu gelangen, muss es aber bald aus Mangel an Wagemut aufgeben. Jetzt mache ich den Versuch, durch periodisch wiederholtes starkes Rufen mich in den nicht gar fernen Monti von Osadigo bemerkbar zu machen. Wähnte ich doch, man müsse mich dort hören, wo ich am Abend den Hirten und in der Nacht die Gotthardzüge von den so nahe scheinenden Tunnels von Giornico her so deutlich gehört hatte. Als aber die BERGSTEIGERERINNERUNGEN Mittagsstunde naherückt, ohne dass sich ein menschliches Wesen zeigt, da weiss ich, dass ich mir selber zu helfen habe. Da ein direkter Abstieg zur Alp Cognora von meiner Gratstelle aus unmöglich ist, prüfe ich die letzte noch verbleibende Möglichkeit, dem Grat entlang wieder auf dessen Mezzogiorno-seite und so in meinen Aufstiegsweg zu gelangen. Freilich muss ich bei dieser Traverse derart gewagte Sachen unternehmen, wie ich sie mir vorher nie zugetraut hätte.

Aber es gelingt, und um die dritte Nachmittagsstunde bin ich wieder in meiner Alp Cognora. Hier hilft ein Tee den müden Lebensgeistern wieder auf, bin ich doch durch den lang währenden Wassermangel dem Verschmachten nahe gewesen. Zu meinem Kummer muss ich feststellen, dass die Alp in meiner Abwesenheit Besuch gehabt hat. In der Tat ist gleichen Tages mein Gastwirt mit drei Männern auf der Suche nach mir zur Alp emporgestiegen, nach Kenntnisnahme meines zurückgelassenen Berichtes aber gleich wieder umgekehrt. Jetzt probiere ich noch, nach Sonogno, das von meiner Bergkuppe aus gut sichtbar ist, durch Lichtsignale meine Notlage kund zu tun. Und als ich bei einbrechender Nacht auf meine Zeichen vom Tal her eine Lichtantwort erhalte, da glaube ich sicher zu sein, dass man mich unten verstanden hat. So versinke ich denn beruhigt auf dem vortrefflichen Heulager, dessen Zugang ich mir diesmal gesichert habe, sofort in tiefen Schlaf, aus dem ich erst am späten Morgen völlig erfrischt erwache. Ernähren kann ich mich allerdings nur noch mit kargen Resten in Wasser getunkten Brotes. Auch dieser fünfte Tag beschert mir einen leuchtend blauen Himmel. Auf das Erscheinen meines Helfers wartend, vertreibe ich mir die Vormittagsstunden mit nochmaligem andächtigen mich Versenken in das einzigartige, wunderbare Landschaftsbild. Aber wieder geht es dem Mittag entgegen, und der sehnlich Erwartete bleibt aus. Da wird mir denn endgültig klar, dass ich einzig und allein meiner eigenen Kraft zu vertrauen habe. Und so nehme ich mir vor, lebend oder tot den Abstieg zu erzwingen. Und siehe da! Mit diesem Mut der Verzweiflung gelingt das Wagestück. Wohl kostet es äusserste Anstrengung und rücksichtslose Überwindung. Aber ich komme heil den gefürchteten Hang hinunter. In Sonogno, wo ich um die vierte Nachmittagsstunde eintreffe, ist mein erster Gang zur Post, um mit Telephon und Telegraph meine glückliche Ankunft im Tal bekanntzugeben. Es ist auch höchste Zeit dafür. Eine Stunde später wäre ich durchs Radio als vermisst ausgekündigt worden. Mein zweiter Gang aber gilt dem leiblichen Wohl. Denn dafür zu sorgen ist gleichfalls hohe Zeit. Eine weniger angenehme Überraschung bereitet mir, dass ich überall im Tal auf mein Abenteuer hin angesprochen werde. Jedermann weiss von der erfolglosen Suchaktion, sogar der Führer des Postautos, das mich Erschöpften nachher nach Frasco mitnimmt. Beglückend ist für mich dagegen der rührende Empfang, der mir in meinem Gasthof zuteil wird. Aber als allerschönste Folge dieses Abenteuers darf ich die folgenden zwei Errungenschaften betrachten.

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