Bergsteigererinnerungen. Erste Bergfahrt
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Bergsteigererinnerungen. Erste Bergfahrt

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Erste Bergfahrt.

Zillertal im Jahre 1880.Von H. F.

Nach nahezu zwölfwöchiger Irrfahrt erreichte uns der nachfolgende Bericht eines Mitgliedes der Sektion Blümlisalp des S.A.C., das gegenwärtig in Santiago de Chile weilt. Im Begleitbriefe schreibt der Absender, er zweifle, dass der Artikel « erscheinen könne, in diesem Falle solle das Manuskript unbedenklich im Papierkorb verschwinden ». Wenn die Veröffentlichung dieser Erinnerung auch nur mit den Initialen gezeichnet werden darf ( gemäss Wunsch des Verfassers; der eine oder der andere der Leser wird den Gelehrten erkennen können —, mehr wollen wir nicht verraten ), so wollen wir sie doch freudig zum Abdruck bringen, denn sie erzählt von schöner ErstlingsfahrtjVf. 0e.

Es war im Juni 1880, da sagte unser Vater: « In diesen Ferien geht 's nach Tirol. » So sollte dem damals noch nicht Fünfzehnjährigen, der fern von den Bergen in einer mitteldeutschen Großstadt aufgewachsen war, ein Traum zur Wirklichkeit werden, den er schon seit Jahren geträumt hatte.

Ich weiss noch genau, wie schon sehr früh in mir der Wunsch entstand, die Alpenwelt zu schauen. Wir hatten ein Märchenbuch, und darin stand eine traurige Geschichte von dem kühnen Jäger, den die Eisjungfrau lockte, und der auszog, um sie zu gewinnen, und nie mehr zurückkehrte. Dazu gehörte ein Bild — Motiv öschinensee in Sternennacht —, in dem See schwamm der tote Jäger, und über ihm stand, den einen Fuss auf seiner Brust, die Eisjungfrau, hob mit dem Arm ihren wallenden weissen Schleier und schaute mit eiskaltem Blick triumphierend auf ihn herab. Dies Bild hat die kindliche Seele tief gepackt und in ihr drei Saiten angerührt, die das ganze Leben hindurch geklungen haben: die Sehnsucht, die leuchtenden Höhen zu schauen, den Wunsch, dem kühnen Jäger gleich in ihre geheimnisvolle Welt einzudringen, und die nie ganz geschwundene Scheu vor den dunklen Mächten da droben, die bereit sind, dem Eindringling feindlich zu begegnen.

Dazu kam später ein Fund in der väterlichen Bibliothek: « Amthors Tiroler Reiseführer », den der Vater von seiner ersten und dazumal noch einzigen Alpenreise im Jahre 1871 mitgebracht hatte. Darin hatte der Verfasser, selbst ein unermüdlicher und begeisterter Wanderer durch die Tiroler Berge, die Schilderungen der Hochgebirgsfahrten mit allen Reizen und Schrecken des Abenteuers durchwoben; und wenn schon ötztaler Hoch-und Niederjoch wohlzuerwägende Unternehmungen waren, um wieviel mehr noch die grossen Gletscherpässe im Venediger-, Glockner-, Ötztaler Gebiet; und gar eine Glockner- oder Ortlerbesteigung war eine Aufgabe, die nur die Waghalsigsten angehen durften.

Schliesslich war da noch ein anderes Buch: von Berlepsch, « Die Alpen », in den sechziger Jahren im Tschudischen Verlag in der Schweiz erschienen.

Die Alpen - 1943 - Les Alpes.11 Das war etwas für Herz und Phantasie, fast so wie Karl May und Jules Verne, und — unbewusst — dem zukünftigen exakten Naturwissenschaftler mehr entsprechend als diese, denn es war Wirklichkeit, spannende und abenteuerliche Wirklichkeit. Da las man von Lawinen, Rüfenen, Bergstürzen, Gletschern, von Bannwald und Wettertannen, von kühnen Schmugglerpfaden, Saumpassweg und Alpenstrassen. Dann waren die Älpler in ihren harten Berufen — die Sennen, Wildheuer, Holzschi äger, Flösser, Säumer, Strahler, Jäger, die Mönche in den Hospizen — und schliesslich die Alpengipfel und der Drang und der Kampf des Menschen, durch alle Schwierigkeiten und Gefahren hindurch die höchsten Zinnen zu erklimmen. Dies wirklich gute — jetzt wohl vergessene — Werk las der Knabe mit heissen Wangen, hat auch der spätere Alpinist oft und oft mit Genuss durchblättert, und noch als altem Manne ist mir jedesmal warm ums Herz geworden, wenn ich den scharlachroten Band — aussen etwas abgeblasst und innen ein wenig vergilbt, aber mit unverändert blankem Goldschnitt und umweht vom feinen Dufte froher Erinnerungen — aus dem Schranke herausnahm.

Und nun sollte ich das alles zum ersten Male mit eigenen Augen sehennoch dazu früher, als ich zu hoffen gewagt hatte, Denn eine Reise aus unserer fernen Ebene nach den Alpen war auch 1880 noch etwas Besonderes, und ein Abweichen von den grossen Touristenstrassen und gar ein Eindringen in die Gletscherregion schien noch ein kleines Abenteuer.

So fuhren wir — mein zwei Jahre älterer Bruder und ich — nach Ferienbeginn den vorangereisten Eltern und Schwestern nach. Treffpunkt sollte Jenbach sein, im Inntal halbwegs zwischen Kufstein und Innsbruck gelegen. Von da sollte es in das Zillertal gehen und über das Pfitscher Joch nach Sterzing, am Südfuss des Brennerpasses.

Hinter Rosenheim sahen wir bei sinkender Sonne die ersten Berge, nicht nur Hügel, wie wir sie aus Thüringen und dem Harz kannten. Hoch, blauschwarz, schweigend standen sie gegen den blassen Abendhimmel; hier und da lag noch ein letzter goldener Sonnenschimmer auf Gräten und Gipfeln und segelnden Wolken. Bei Kufstein leuchteten unwirklich hoch und wild die bleichen Felswände des Kaisers aus der Dämmerung hervor. Dann kam die Nacht, und nur noch die grauen, rauschenden Fluten des Inns und seine weissen Kiesbänke unterbrachen das Dunkel und das Schweigen da draussen.

Jenbach 1 Aussteigen! Zum Bräu hinauf, wo die Eltern wohnten, war die Stunde zu spät. So wies man uns zum Gasthof gleich beim Bahnhof. Der trug den ungewöhnlichen Namen: « Zur alten Toleranz. » Bald sassen wir, in dieser Nachtzeit als einzige Gäste, zusammen mit der stattlichen Wirtin und der kaum weniger stattlichen Kellnerin bei Schinken und Jen-bacher Bier und standen Rede über Woher und Wohin. Dunkel lag das geräumige Gastzimmer, nur über unseren Tisch warf die Petroleumhängelampe ihr mildes Licht. In sein Bereich trat nunmehr, zur Ergänzung der Tafelrunde, ein bisher noch nicht wahrgenommener Gast, der K. K. Postillon, der zwischen Jenbach und Mayerhofen amtierte, stattlich anzusehen im gelben Frack mit schwarzen Aufschlägen und goldenen Doppeladlerknöpfen, glänzenden weissen Lederhosen, ebenso weissem Franz-Josephs-Bart und üppigem grauen Haar; erschien und trank und redete, jenes mehr als dieses. Und nach dem abschliessenden « Stamperl » Enzian in den K. K. schwarzgelben Magen leuchtete man uns dreien die Treppe hinauf, Postillon, Unter-primaner und Untersekundaner zusammen in einem Zimmer, und ein viertes Bett stand bereit für den Nächsten, der vielleicht noch kommen würde. Und es fiel unter vielem Räuspern und Schnaufen der schwarzgelbe Frack, es fielen die weissen Hosen, und es kam der Mensch hervor — ach, es war kein König noch in Unterhosen, nicht einmal mehr ein K. K. Postillon, sondern ein magerer, welker, alter Mann, so gar nicht mehr imposant. Dann machten wir die Augen zu, und im Einschlafen dachten wir, was doch eine Uniform aus dem Menschen macht. Und wir schliefen den tiefen, traumlosen Schlaf der Jugend, und als wir aufwachten, schien die Sonne ins Fenster, und draussen warteten strahlend und verheissend die Berge und das Leben.

Ich glaube nicht, dass die « Alte Toleranz » heute noch besteht; sie war wohl für das Publikum der neueren Zeit zu altmodisch. Aber damals war sie allgemein geschätzt und sogar amtlich begünstigt als Abfahrts- und Ankunftsstelle des K. K. Poststellwagens, damals das einzige öffentliche Verkehrsmittel für das Zillertal. Die Bahn kam erst zwanzig und das Auto erst vierzig Jahre später. Und so erfolgte denn auch vor ihr das Stelldichein mit den Eltern.

Tiroler Stellwagenfahrt! Wie wenig sagt das dem modernen Touristen, der gewohnt ist, im bequemen Postauto die Lande zu durchsausen, und wieviel bedeutete es uns Alten, wenn wir — im Besitze geruhsamen Tem-peramentes und Überflusses an Zeit — uns einem dieser ehrwürdigen Vehikel anvertrauten. Omnibusartig, hochräderig, leuchtend in geschichtlich geweihtem Thurn- und Taxisschen Gelb, mit breitem Kutschbock, dreisitzigem Bankett und dahinter dem geräumigen Bauch mit zwei acht- bis zehnsitzigen Längsbänken, so rumpelten sie in Zeitlupentempo einher, hielten an jedem Wirtshaus, und der Halt war grosszügig bemessen — der Wirt musste doch Zeit haben, für das Wohl von Mann und Ross zu sorgen, und Mann und Ross mussten doch Zeit haben, für das Wohl des Wirtes zu sorgen —, und so hatte auch der Tourist seinerseits Zeit und Gelegenheit, Land und Leute weitaus besser kennen zu lernen, als das heute zu geschehen pflegt. Im übrigen war er — der Tourist — in jeder Beziehung Nebensache — denn wann kam denn schon mal einer! —, und der Wagen diente im Grunde nur dem Ortsund Geschäftsverkehr der Einheimischen, und da war Eile mit Weile durchaus am Platz.

So waren auch heute der Vater und wir zwei im Bankett die einzigen Fremden, während der Bauch hinter uns sich allmählich füllte mit Manns-und Weiberleuten mit Körben und Kiepen und landwirtschaftlichem Gerät. Schliesslich knallte die Peitsche, die Zunge schnalzte, die « Ross » warfen sich ins Geschirr, und wir rollten der Zukunft entgegen, oftmals noch rückwärts grüssend, bis das wehende Tüchel der zurückgebliebenen Mutter in der Ferne verschwand.

Jetzt konnten wir uns der Natur widmen. Diese bestand vorläufig aus dem breiten, wohlbebauten Tal, war aber in der Mitte unterbrochen durch BERGSTEIGERERINNERUNGEN.

den schmalen, schwarzgelben Rücken unseres Freunden und Schlafkameraden, des Postillons, jetzt wieder ganz K. K., den federgeschmückten niedrigen Lackhut auf die grauen Locken gestülpt und mit der nachlässigen Gebärde des Befehlgewohnten die Rosse lenkend. Und angesichts dessen erhoben sich in uns Jungens, anknüpfend an die nächtliche Erkenntnis, erneut die Gedanken über Schein und Sein, über Form und Inhalt und Verwandtes. Und als es an der Zeit war — oder wohl auch ein nicht Unbeträchtliches über die Zeit —, kamen wir nach dem stattlichen Dorfe Fügen, Raststation und Restauration für K. K. und zivilistische Kehlen.

Schon war nach gebührendem Aufenthalt der Wagen wieder gefüllt, schon rückte sich der Schwager auf dem Bock zurecht, da ertönte eine helle Stimme: « Wart'noch a weng, Poschtillon! » Und eilends nahte sich ein Deandl, so bildsauber, als käme es gerade aus einem Defreggerbild, mit grünem Hütl und Goldquaste, buntem Nackentuch und bunter Schürze, mit einem Gesicht wie Milch und Blut und einem Gewicht von schätzungsweise nicht viel unter zwei Zentnern. Und da nirgends anders Platz war, schwang sie sich auf den Bock zum wohlgefällig schmunzelnden « Posohter ».

So war die Mitte des Naturbildes jetzt stark verändert. Der Postillon war zur Seite gerückt und behauptete kaum noch einen Drittel der Grundfläche, während das Deandl sich über reichlich zwei Drittel erstreckte; und während er schmal und schlank wie ein Turm in die Lüfte ragte, glich sie einer breithingelagerten Kuppel — Markuskirche neben Campanile. Und da nach dem Gravitationsgesetz die grössere Masse die grössere Anziehungskraft ausübt, war es nicht zu verwundern, dass unser lieber Vater sich mehr zu ihr als zum Postillon hingezogen fühlte. Bald befand er sich in munterem Gespräch mit ihr, und wir erfuhren, dass sie die Philomele sei, die jüngste der drei Schwestern Fankhauser aus Rosshag weit droben im Tal.

In Tirols Tälern wechseln auf kurze Entfernungen die Bevölkerungs-typen sehr stark, wie jedem auffallen muss, der etwas herumkommt. Die vorwiegend alpinen Stubaier und Eisacktaler mit ihrer kleinen Statur und die teils blonden, teils dunklen dinarischen Riesen im Kalsertal am Grossglockner sind zwei Extreme. Im unteren Zillertal findet sich noch der dunkle, untersetzte bayrische Typus, weiter oben aber begegnet man schlanken, blonden, hochwüchsigen, auffallend schönen Menschen, die — zum mindesten der Laie — als stark nordisch beeinflusst anzusehen geneigt ist. Die Familie Fankhauser, in Rosshag eingesessen, waren Prachtsexemplare dieser Art, insbesondere die drei Mädel: die Kati, nachmals Wirtschafterin der Berliner Hütte, die Rosi, nachmals als Rosi Eder die Herrin im Dominikushaus, und die Jüngste, unsere Philomele. In Mayerhofen, wo die Fahrt endete, sass sie mit uns am Kaffeetisch, und am späten Nachmittag zogen wir gemeinsam talauf.

Das breite Tal verengte sich, mehr und mehr rückten die Wände zusammen, kühler und dunkler Schatten nahm uns auf, und dann kam die Klamm — Hochsteg, Karlsteg, donnernde Wasserstürze über wilde Felsen, dämmernde Schluchten, mächtige bärtige Tannen am Rand des Abgrundes festgeklammert, darüber im schmalen Ausschnitt die Gipfel der Berge, funkelnd im Abendsonnenschein. Doch, was war mit dem Vater? Er sah nicht die Felsenriffe, er sah nur die Philomele, und wanderte fröhlich plaudernd mit ihr fürbass. Damals, wo uns Jungens die wilde Pracht der Klamm so ganz erfüllte, haben wir das nicht verstanden. Erst in reiferen Jahren wurde uns klar, welche weise Lehre der Vater uns geben wollte in seiner stillen Art, die weniger durch Worte als durch Beispiel wirkte, nämlich: Werdet keine blöden Gipfelfresser, sondern freut euch der Schönheiten der Alpen, wo und in welcher Gestalt auch immer sie euch entgegentreten.

In der Dämmerung kamen wir zu dem kleinen Weiler Ginzling. Wir blieben hier über Nacht. In den vier vorhandenen Fremdenbetten lagen schon andere. So schliefen wir im Gastzimmer auf der Ofenbank, ein für uns verweichlichte Städter etwas hartes Lager. Um so bereitwilliger erhoben wir uns am nächsten Morgen zum Abmarsch vor Tau und Tag.

Und nun kam etwas Wundervolles und Unvergessliches: Sonnenaufgang in den Bergen, für uns Knaben das erstemal! Das Tal liegt fahl im Schweigen, nur die Bäche rauschen, bald dumpf, bald metallisch, und der kühle Morgenwind singt leise in den Gräsern. Dann läuft auf einmal eine durchsichtige Helle über den Firngrat da droben, der eben noch so stumpf und tot erschien, und plötzlich blitzen seine weissen Wellen glühend auf, und die Glut läuft weiter, und auf einmal ist der ganze Berg wie von geschmolzenem Golde Übergossen. Dann wallen die leuchtenden Ströme zu Tal, es entzündet sich das Spiel von Licht und Schatten und Farbe, und nun stehen wir selbst in Wärme und Licht, mit tausend Diamanten blitzt der Tau in den Gräsern auf, und ein Chor unzähliger Insekten erhebt seine Stimme zum Preis und Gruss des lebenspendenden Gestirns.

Die Firnkrone da droben! Immer wieder zog es den Blick hinauf zu ihr. Und wie ich so schaute, da kam mir Hölderlins « Schicksalslied » in den Sinn, das wir vor kurzem in der Schule gelesen hatten:

Ihr wandelt da droben im Lichte Auf weichem Boden, selige Genien; Glänzende Götterlüfte rühren euch leicht Und die seligen Augen blicken in stiller Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben auf keiner Stätte zu ruhen, Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen Blindlings von einer Stufe zur anderen Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen Jahrelang ins Ungewisse hinab.

Da droben wandeln, mit seligen Augen in unendliche Weiten und Tiefen blicken — ja, das müsste göttlich sein! Wohl deshalb äusserte mein Vater den Gedanken, man könnte das Reiseprogramm durch eine Besteigung des Schwarzensteins erweitern —, eines der vielen Dreitausender im Südkamm der Zillertaler Alpen, der in dem Rufe stand, leicht und ungefährlich zu sein...

Zunächst wanderten wir bis zum Gehöft Rosshag, dem Stammsitz der Familie Fankhauser, allwo wir einen lebhaften, blondbärtigen Bergsteiger trafen, von dem die Philomele sagte: « Dos ist oaner von die Zsigmondybua'm, die soan allweil umeinand in unsere Berg '. » Das war mein erstes Zusammentreffen mit Emil Zsigmondy, dem Vorbild aller Führerlosen meiner Generation. Ich habe später, im Winter 1884, ein paarmal mit ihm und Professor Karl Schultz, seinem Begleiter auf der letzten Bergfahrt, am Biertisch gesessen in Leipzig, wo er vorübergehend an der chirurgischen Klinik arbeitete. Im Sommer darauf stürzte er an der Meije zu Tode. Ich erinnere mich noch, wie ich die Kunde erhielt. Wir kamen von der Presa nella und trafen unten im Val di Genova einen deutschen Herrn mit dem Führer Josef Matzagg aus Trafoi am Ortler, wegen seines mächtigen rotei Bartes « der Fuchs » genannt. Der sagte es mir, und mir schien, als senkte sich auf die Welt, die eben noch so hell geleuchtet hatte, ein grauer Schleier. Zwanzig Jahre später habe ich auf dem Wege zu dem Berge, der ihm zum Verhängnis wurde, sein Grab in St. Christophe besucht.

In Breitlahner, dem letzten Örtchen im Tal, da wo es sich in den Schwarzenstein- und den Pfitscher Grund gabelt, stiess zu uns, des Schwarzensteins wegen, einer der blonden, schlanken, sangesfrohen Männer des Tales, Siegfried Schneeberger, und dann ging 's hinein in den Schwarzensteingrund, der Berliner Hütte entgegen.

Der Gang dorthin begann mit dem « Grawander Schinder », wie man im Zillertal mit anderen Seinesgleichen ein steiles, schlechtes und beschwerliches Wegstück nennt. Ich glaube nicht, dass es allein unsere Ungeübtheit war, die uns die Überzeugung beibrachte, dass er seinen Schindernamen redlich verdiente. Jedenfalls war er von einer Art, wie sie der moderne Tourist im Zeitalter der « Erschliessung » der Alpen, im besonderen in den Ostalpen, kaum mehr finden wird, sicher nicht als Hüttenweg. Wer heute den damaligen ähnliche « Wege » kennen lernen will, der muss schon wenig begangene Pässe aufsuchen im Dauphiné, im Wallis, Tessin oder Bündner Land. Das Land war eben noch nicht für die Touristen da, sondern für die Eingeborenen, und denen war es auch so recht.

Unvergesslich ist mir die Traverse oberhalb längs des Zemmbaches. « Am Abgrund leitet der schwindlige Steg », tief unten rauschen und schäumen in der Klamm die Wasser, jenseits glitzern im Sonnenglanz die steilen Platten der vom Greiner herabschiessenden Felswand, von oben leuchtet der Schnee herein und ringsum das Rot der Alpenrosen — just das Bild, wie ich es mir erträumt hatte. Dann weitet sich das Tal, und inmitten der sich allmählich entfaltenden Gipfelrunde leitet der Weg über die Schwarzensteinalp hinauf zur Berliner Hütte.

Die war noch nicht das Hotel der späteren Jahre mit Büro, Speisesaal, Trinkstube, Speisekarte, Einzelzimmer und dergleichen mehr, sie war eben nur eine Hütte aus rauhem Stein mit Kochraum und Pritsche für acht Personen, soeben fertiggestellt als die einzige in der ganzen grossen Zillertaler Gruppe, in der gegenwärtig wohl an die zwei Dutzende stehen. Da lagerten wir nun, und wir Jungen schauten zum ersten Male das Hochgebirge, die zerrissenen, im Innern blauschimmernden Ferner, die rinnendurchfurchten Firnhänge, flimmernd im blendenden Mittagslicht, die Hunderte von Wasserfäden, die zu schäumenden Bächen zusammenflössen, die wilden Felswände und die grauen Schuttströme unter ihnen, die grünen Matten, die vielen unbekannten Blumen mit Farben, so gesättigt, wie sie die Ebene nicht kennt, die braunen Leiber der Kühe, und über allem die in das Himmelsblau ragenden Gipfel, noch nicht Begriff und Name und Erinnerung, sondern nur Offenbarung, Verlockung und Verheissung. Langsam darübersegelnd weisse, geballte Wolken, Kämme und Wände umspielend, entstehend und wieder zerfliessend. Und wenn man die Augen schloss, da blieb und wurde noch eindringlicher vernehmbar das Tosen der Bäche, das Rauschen und Singen des Windes, das Kollern fallenden Gesteins, das Krachen brechenden Eises, das Klingen der Kuhglocken und das Summen des Insekten Volkes. Wunderbar!

( Schluss folgt. )

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