Blätter aus dem Tagebuch eines Trägers
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Blätter aus dem Tagebuch eines Trägers

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( Handschriftlich abgefasst von Karl Küster, Bergführer, später langjähriger Zivilstandsbeamter, Waisenvogt und Gemeindeschreiber von Engelberg, geboren 2. August 1862, gestorben im Juni 1932 ) Abschrift: Paul Küster, Bürglen OWBilder / bis5 « Ich las im Amtsblatt, dass in Engelberg ein Führerkurs stattfinde. Das Programm könne beim Führer-Chef eingesehen werden. So entschloss ich mich, zu letzterem zu gehen und zu fragen, unter welchen Bedingungen ich den Kurs mitmachen könnte. Führer-Chef Hess gab mir alle Auskunft. Er animierte mich völlig für den Kurs und wusste meine Bedenken, ob ich überhaupt ein Führerpatent zu erreichen vermöchte, allseitig zu zerstreuen. Er versprach, mir seine Belehrung und Unterstützung zuzuwenden.

Sonntag, den 11.Oktober [dieJahreszahl fehlt - es mochte aber zwischen 1884 und 188g sein. Der Abschreiber], nachmittags halb vier Uhr, fand ich mich zur Antrittsversammlung im Gasthaus Alpenklub ein.

Herr Dr. Biely aus Frutigen als Kursleiter eröffnete die Versammlung. Er erklärte sich über das zahlreiche Erscheinen der Führer und Aspiranten freudig überrascht.

Der Herr Kursleiter sprach dann über den Zweck der Führer-Kurse. Diese seien eingeführt, die Leute, die sich dem Bergführerberufe widmen, für ihre Aufgabe zu bilden.

Die Aufgabe der Führer sei ja immerhin eine grosse und verantwortungsbewusste, indem sie darin bestehe, die sich dem Führer anvertrauenden Touristen in den Gefahren des Hochgebirges zu beschützen.

Um in einer Gebirgsgegend als Führer zu reisen, sei es nötig, dass der Mann die Wege kenne und auch gut die Karte zu lesen wisse.

Dann sei erforderlich, dass der Führer kräftig, gewandt im Steigen über Felsen und Gletscher sei und die Gefahren in den Bergen kenne. Um diese Eigenschaften zu erreichen oder zu verbessern, seien die praktischen Kurse da, bei denen die nötigen Anleitungen zur Sicherung auf den Bergen erteilt und geübt werden. Ein solcher praktischer Kurs sei für die Engelberger Führer projektiert.

Inzwischen langte dei'Führer-Chef mit dem Assistenten des Kursleiters, Herr Fürsprech Lussy, an, der dann auch die Führerschaft von Engelberg begrüsste und zu ihrem praktischen Kursprogramm beglückwünschte. Der Herr Kursleiter erteilte uns noch einige Anleitungen für unsere Marsch-Ausrüstung, mahnte uns zu gutem Gehorsam und Disziplin, dann lud er uns ein, am Abend, 8.30 Uhr, zu einer durch ihn geplanten Vorführung von verschiedenen Projektionsbildern aus den Berner Alpen in der « Bierlialp » zu erscheinen.

Auf Montag früh, 7.00 Uhr, wurde der Abmarsch angesetzt. Oder, wenn das Wetter schlecht sei, sollte um 8.00 Uhr mit der Theorie begonnen werden.

Die Zahl der Kursteilnehmer, abzüglich der « Alten », welche Dispens erhielten, wurde auf 23 angesetzt, unter Zurechnung von Durrer aus dem Melchthal und Christen von Wolfenschiessen, welche als « zugewandte Orte » einbezogen wurden.

Ein jüngerer Führer weigerte sich, ohne genüg-liche Entschuldigung, den Kurs mitzumachen.

Am Abend ging ich in die Bierli-Alp, um der Vorzeigung von Projektionsbildern zuzuschauen. Hauptsächlich interessierte mich, was unter « Projektionsbilder » verstanden werde.

Es wurde ein weisses Tuch von etwa drei Meter Breite und Höhe an der Wand befestigt.

Mein Nebenkamerad meinte: « Will der Herr Doktor uns schon heute Abend den Teufel an die Wand malen ?! » Ein Photographie-Apparat war aufgestellt, und es wurden kleine Blättchen hineingestossen. Auf diese wurde von hinten mit elektrischem Licht hineingezündet. So erschienen Bilder an der Tuchwand, fast in der ganzen Wandgrösse.

Die Bilder stellten viele Berge aus der Umgebung von Kandersteg und Blüemlisalp dar. Auch verschiedene kleine niedliche Seen und Häuschen an abgelegenen Orten wurden in den Bildern vorgeführt. Ein Fräulein hinter mir sagte, dass dies sehr romantische Gegenden seien.

Auch Jungfrau, Mönch und Eiger wurden gezeigt. Ebenso abphotographierte « Kletterer », Kutscher und Bergsteiger, worunter auch ein oder zwei Führer - alles zum Greifen nahe.

Die Bilder waren alle sehr schön und gefielen allen gut. Wenn eines oder ein anderes nicht gleich gut herauskam, so war es gewiss von Dr. Haslebacher, welcher bei der Projektion mithalf, verkehrt eingesetzt worden. Durch Umwenden wurden sie alle gut. Alle Zuschauer waren sehr befriedigt. Um io Uhr gingen die Kursleiter ins innere Zimmer, auch der Polizeidirektor, der inzwischen angelangt war, und ebenso der Füh-rer-Chef. Ich hörte noch eine Zeitlang, wie sie laut miteinander sprachen. Dann ging ich heim zum Schlafen.

Montag, den 12.Oktober, kam ich um halb acht Uhr ins Dorf. Ich nahm an, es werde um 8 Uhr die angesagte Theorie beginnen; denn das Wetter hatte ein sehr schlechtes Aussehen. Wirklich wurde davon gesprochen, den Vormittag für theoretischen Unterricht zu benützen und nachmittags einen Ausflug nach der Spannorthütte zu machen.

Um 8 Uhr erschien Josef Küster auf dem Platze. Als er die Abänderung des Programmes erfuhr, sprach er sich sogleich dafür aus, dass, wenn schon ein Besuch der Klubhütte gemacht werden solle, man ebensogut programm-mässig über das Wendenjoch gehen könne. Sein Wort fand Anklang. Es wurde auf g Uhr Aufbruch zum Wendenjoch bestimmt.

Um 9.00 Uhr war Abfahrt mit « Braeks » nach Herrenrüti. Gleichzeitig füllte sich das Tal mit Nebel. Das Wetter schien ein wirklich verzweifeltes Gesicht zu machen.

Von der Herrenrüti aus erfolgte der Aufstieg durchs Leiterli nach der Bödmen-Alp, von dort, zwischen den Bächen, über die Windegg direkt hinauf. Oben, wo der Graswuchs aufhört, wurde Rast gemacht. « Auf Gorris Egg », heisse es da. So wurde gesagt. Niemand wusste, woher der Name käme. Wahrscheinlich wird hier einst ein Jäger mit Namen Gregor auf eine Gemse oder ein Murmeltier gelauert haben und das Egg nach seinem abgekürzten Namen so benannt worden sein.

Bei einem Znüni wurde der Kursleiter wieder gesprächig. Er hub an, es werde heute von einem ausgebildet sein wollenden Führer viel verlangt. Nicht bloss Samariter solle er sein, sondern auch Pflanzenkenner. Auch die Steinarten des Gebirges sollte er zu benennen wissen.

Von der Botanik wolle er ( der Kursleiter ) wegen der vorgerückten Zeit ( Oktober ) und der infolge des Herbstes bereits abgestorbenen Vegetation - wie er das nannte — nicht sprechen. Dagegen wolle er besonders uns jüngeren Trägern schnell etwas sagen über die Steinverhältnisse, wie er sie bis jetzt erblickt habe.Vom Firnalpeli hinauf seien die gelben Steinplatten alle Kalkfelsen, zum Teil schieferartig. Das vor uns liegende Titlis-Massiv scheine ebenfalls vorherrschend Kalkfelsen zu sein. Hier auf Gorris Egg sei eine Veränderung der Stein-Arten zu bemerken. Die Steine seien schon etwas « sandsteinartig » gebildet. Dies würde auch « Gneis » genannt. Genel Käri bemerkte, dass es da hin und wieder auch Blöcke vom Grassen-Granit habe. Wirklich wurde dann vom Kursleiter konstatiert, dass es hier auch granitartige Felsblöcke gebe. So hat er noch den Unterschied zwischen Stein und Stein, wollte sagen: zwischen Granit, Gneis und Kalkstein, beschrieben. Wir acht Aspiranten, wie man uns Träger nannte, wurden nun in zwei Gruppen geteilt und angeseilt. Uns wurde verordnet, rechts über den Firnalpeli-Gletscher zum Wendenjoch zu gehen. Fünf Meter Abstand solle Mann für Mann von dem anderen haben. So wurde uns gesagt. Die Führer hatten links in drei Parteien über Felsen und Gletscher zu gehen. Der Kursführer, am Seil mit Küster, folgte dem von uns angebahnten Pfad.

Bald kamen wir zwischen Spalten und Glet-scher-Schründe hinein. Ich meinte, es würde wohl besser sein umzukehren und den Weg zu wählen, den die Führer gegangen waren. Allein die Kursleitung wollte davon nichts wissen. Die Aufgabe sei gestellt, da hinaufzugehen, und die Schwierigkeiten seien nicht unüberwindlich. Wir umgingen einige Spalten, andere übersprangen wir und kamen so leidlich weiter. Auf einmal war eine grosse, breite, offene Spalte vor uns. Ein Vorwärtsgehen war unmöglich. Wieder machte ich den Vorschlag, in grossem Bogen die Spalte von der linken Seite zu umgehen. Die Kursleitung sagte, das würde zu viel Zeit beanspruchen. Wir müssten direkt über die Spalte zu kommen suchen. Wir suchten die am wenigsten steile Wand der Spalte und liessen uns am Seil hinuntergleiten. In ihrer Tiefe angelangt, gingen wir etwas seitwärts. Genel Käri voran. An der anderen Wand fing er an, Stufen zu hacken, um wieder in die Höhe zu kommen. Die Kursleitung rief uns zu, die Stufen müssten gut gemacht werden. Es sei darauf Bedacht zu nehmen, dass wir da wieder zurück gehen müssten.

- « Jeches, nur das nicht! Durch diese grässliche Spalte! » so dachte ich mir. « Man wird doch in den Bergen die besten Wege auslesen und nicht immer nur die schlechtesten gehen! » Nach einer kleinen halben Stunde waren wir glücklich aus der Spalte und wieder auf Schnee. Der war jedoch sehr weich, so dass die vordersten immer bis über die Knie einsanken. Wir wendeten uns dem Titlis zu, um eine sich nahende grosse Spalte zu umgehen. Am Rand, dem Felsen entlang, kamen wir an eine fast senkrechte Eiswand, von der aller Schnee abgerutscht war. Um wieder möglichst rasch auf gangbaren Gletscher zu kommen, mussten wir quer durch diese Wand gehen, « die Wand traversieren », nannte es der Kursleiter. Die ganze Wand emporzuklettern erschien mir diesmal auch zu lang und wäre wohl - bei diesem Neuschnee, der da lag - nicht ohne Lawinengefahr möglich gewesen. Wir traversierten also, Gustav Hess ging voran und hackte ganz schöne Stufen, breit genug, dass man mit beiden Füssen darin stehen konnte. Da erfolgte ein Zuruf der Kursleitung, ob Gusti denn ein Meitschi neben sich in die Stufen setzen wolle, dass er sie so gross mache. So gehe die Sache zu langsam. Es seien Stufen nur für das Hineinstellen eines Fusses zu machen und sie müssten nach einwärts gesenkt sein; dann würden sie auch genügen.

Au/dem Titlisgipfel, 24. August igo2. Herr und Frau Dr. Sie-veknig, Hamburg. Führer: C. Küster, Engelberg ( Mitte ) Pholo Archiv Paul Kusler Bald waren wir über die Wand hinüber und wieder auf flachem Gletscher. Das Wendenjoch lag in nächster Nähe. Nochmals mussten wir vorsichtig am obersten Grat oder Felsen über einen Berg-Schrund hinübergumpen. Dann waren wir oben und gelangten ohne erhebliche Schwierigkeiten über einige Steinblöcke zu den auf dem Wenden-Gletscher sich lagernden Führern. Der Führer-Chef meldete nun stramm dem Kursleiter, wie die Führer aufgestiegen und angekommen seien. Ich habe jedoch nicht alles recht verstanden.

Christen hatte einen Photographie-Apparat mitgebracht. Der wurde bald aufgestellt. Dann wurde unsere Lager-Gruppe durch den Führer-Chef photographiert. « Un - dö - droa », sagte er zu uns und gleich darauf: « FertigDas Bild ist gut! » Christen packte den Apparat, der etwas störrisch geworden war und sich nicht mehr recht zusammenlegen lassen wollte, wieder in den Sack. Nur soweit es ging. Die Hälfte liess sich nicht mehr einschieben und konnte sich am Ausblick weiden, der sich auf die schönen Berner Alpen offen hielt.

Christen fragte mich, wie es gegangen sei. Ich gestand ihm offen, dass ich dafür halte, wir seien den schlechtesten Weg gegangen. Den würde ich ein anderes Mal mit den Herren nicht mehr mitmachen, sondern dort durchgehen, wo die Führer gegangen sind. Christen erwiderte hierauf: « Ja was! Ännäfir, durch die Felsen, wo ich und der Führerchef gegangen sind, isch äs ai rächt gruisig gsy. » Es ist möglich, dass dort, wo Fürsprech Lussi mit ein paar Führern gegangen sind, die Situation etwas besser gewesen ist. Christen meinte, es wäre schon unten, durchs Firnalpeli, besser gewesen, dem Kühweg zu folgen, als über die stotzige Windegg zu klettern.

Es macht mir den Eindruck, dass man in den Bergen nicht gleich das erste Mal sagen kann, welches der leichtere Weg sei, da ja überhaupt keine Wege sind. Ich und Christen sind da nicht einig, ob der Weg über die Felsen oder über die Gletscher der schlimmere ist.

So wanderten wir, uns über die bisherige Leistung gemütlich unterhaltend, etwas abwärts über einen steinigen Abhang auf ein Egg zu, wo ein kleines Seeli liegt.

Ich ging mit dem grösseren Haufen diesen Weg, während eine Abteilung mit dem Kursleiter direkt über den Gletscher ging, nämlich über den Urathspass direkt auf Steinalp am Susten zu. Auf dem von uns eingeschlagenen Weg zeigte uns Förster Hess, ein älterer, stämmiger Führer, überall den Pfad, zeigte uns, wo es - links oder rechts -besser gewesen wäre, den Weg einzuschlagen. So wird sich jeder das nächste Mal auf den besten Stellen zurechtfinden.

Vom erwähnten Seeli ging 's links durch die Vorbetli-Alp direkt auf die Strasse des Sustenpasses. Diese sei von Napoleon vor 105 Jahren als Heerstrasse gebaut und bis über die Sustenpasshöhe gegen das Meiental weitergeführt worden. Eine neue Strasse ist, wie die Pfähle und Zeichen es schliessen lassen, wieder ausgesteckt.

Auf der Strasse wanderten wir dann bis zur Steinalp, wo uns das freundliche Wirtshaus gastlich empfing. Der Herr Kursleiter war mit seiner Abteilung eine Viertelstunde vor uns eingetroffen. Frau Jossi, die am Morgen mit der Jungfer Marie von Meiringen gekommen war, hatte uns ein gutes Abendessen bereit, das uns auch sehr schmeckte.

Nach dem Abendessen mussten wir Aspiranten uns alle an den Tisch setzen, wo die Kursleiter und der Führerchef sassen. Wir wurden nun einzeln befragt über die verschiedenen Verhältnisse in den Felsen und Gletschern, wie wir Hindernisse überwinden könnten. Jeder hatte eine Aufgabe zu lösen. Ich war der letzte. Ich glaube, dass ich alle an die Träger gestellten Fragen so ziemlich hätte beantworten können. Allein, gerade just an mich wurde die Frage gestellt: « Wie und warum entstehen die Gletscherspalten? » Ich meinte, der Gletscher werde von der G'frörni zersprengt. Die Antwort sollte aber nicht genügen. Auch jene nicht, dass die Spalten von unterirdischen Erdbeben herrühren könnten. Nach einigem Plagen kam der Kursleiter selbst mit der Antwort; er erklärte uns, dass die Spalten infolge der stetigen Bewegung der Gletscher entstehen. In klarer Form und Weise sagte er uns, was die verschiedenen Vorkommnisse sind und sein können, wie Hindernisse bewältigt werden, wie man sich überhaupt sichert oder sichern kann. Er wies ebenso hin auf Schneeblindheit und deren Behandlung durch Waschen mit Schwarz-The oder Wasser mit etwas Salz, Kamillenthe oder lauer Milch mit Wasser.

Bei diesem Vortrag merkte man gut, dass der Herr Kursleiter Item Nettling in den Bergen ist, sondern die Berge sehr gut kennt und über grosse Erfahrung verfügt.

Gesundheit, Kraft, Ruhe und Vorsicht sollen einem Bergführer zu eigen sein, um Touristen durch schwierige Berge zu führen. So sagte er. Auch soll ein Führer sich über die Leistungsfähigkeit des von ihm zu führenden Touristen überzeugen, bevor er ihm schwierige Touren empfiehlt. Das könne geschehen, wenn er mit ihm leichtere, sog. Versuchs-Touren, gemacht habe, bei welchen ein richtiger Führer bald die Leistungen eines Touristen zu taxieren imstande sein sollte.

Der Führer-Chef verdankte die sehr lehrreichen Ausführungen des Kursleiters. Dann packte er - als guter Jäger - einiges selbstgeschossenes Geflügel aus, das während gemütlicher Unterhaltung gründlich vertilgt wurde.

Gerne hätte ich noch einige Worte gesprochen, aber ich wusste nicht, wie ich die Anrede an die Gesellschaft gestalten sollte. Der Kursleiter sagte nämlich: « Verehrte Herren », Herr Lussi sagte: « Meine Herren ». Der Führerchef drückte sich aus: « Ihr Herren ». Ich wusste daher nicht, wie es für einen Träger passend wäre. So schwieg ich, schlürfte gemütlich meinen schwarzen Kaffee und kaute am Stumpen.

Dienstag, 13. Oktober. Nachdem der Regen die ganze Nacht gequetscht hatte, zeigte sich das Wetter am Morgen wieder recht unfreundlich. Über den Steinberg-Gletscher wehte ein starker Wind — mit Schneeschauern, was den Aufbruch verzögerte. Um 8 Uhr zeigte sich durch den Nebel etwas blauer Himmel. Von den älteren Führern wurde die Möglichkeit prophezeit, dass bei dem starken Winde der Tag doch noch teilweise hell sein dürfte.

Es wurde sofortiger Aufbruch beschlossen; dabei war es jedem freigestellt, den Übergang über die Sustenlimmi oder den Sustenpass zu wählen.

Herr Dr. Biehli übernahm die Leitung über die Sustenlimmi, Herr Lussy die Leitung über den Pass. Der letztere Weg wurde also vom ältesten Führer gewählt. Ich Schloss mich der Mehrheit über die Sustenlimmi an. Unser Weg führte gegen den Steinlimmigletscher hin, am Rande desselben hindurch, gegen das Thierberghorn. Links, vom Gletscher umgeben, war ein Felsen, « Bockberg » genannt. Bei der Steinalp, unterhalb des Gletschers, fanden wir eine Menge Edelraute, mit denen wir unsere Hüte besetzten. Herr Kursleiter sagte uns, dass diese Pflanzen gesammelt, gedörrt, zu The verwendet werden könnten und Heilkraft besitzen.

Ein Führer meinte, dass ein Absud von diesem sogenannten Wermuth sehr bitter sei. Früher sei er von frommen Personen an gewissen Fasttagen als Zumischung zum Wein getrunken worden.

Durch den Thierberg hinauf ging Küster voran. Ein Stück weit watete dann der junge Hess voraus. Während dieser Zeit merkte man, dass er rascher ging. Indes, glaubte ich, hatte Küster für andauernde Steigung ein besseres Tempo.

10 Uhr. Oben am Thierberg wurde gerastet. Es wurden Karten und Kompass hervorgenommen, um den Weg, d.h. dessen Richtung, festzustellen. Kaum war die Richtung fixiert, hob sich der Nebel und zeigte sich die Sustenlimmi von der Sonne beschienen. In entgegengesetzter Richtung waren auch die Steinlimmi und der Giglistock zu sehen.

Wir banden uns an die Seile und gingen quer über den flachen Gletscher mit wenig Steigung auf die Limmi zu, ohne dass sich erhebliche Schwierigkeiten durch Spalten zeigten.

Führerkurs Engelberg, unterhalb des Schlossberges Der Schnee wurde ziemlich stark umhergetrieben, so dass wir teilweise ganz in Schneewolken eingehüllt waren. Ich bemerkte, dass unser Kassier seine linke Hand stark in die Tasche steckte, und dachte, dass er wohl den Geldbeutel festhalte, dem die Wirtin im Sustengasthaus mit ihrer Rechnung eine erhebliche Erleichterung gebracht hatte. Der Kassier befürchte in der Folge wohl, der Wind könnte ihn fortblasen. Bald wurde ich jedoch durch bedeutendes « Klumsen » in den Fingern gewahr, dass es auf dieser Höhe bei dem Winde sehr kalt ist. Ich fühlte mich bewogen, auch die Hände in den Sack zu stecken und bald darauf die Handschuhe anzuziehen.

12 Uhr. Auf der Sustenlimmi wehte der Wind eisig und ziemlich stark. Ich möchte lieber sagen, Hli.ilu Arilliv Paul Küster es stürmte zeitweise, während zwischenhinein die Sonne durch die Wolken oder den Nebel drang.

Wir kamen auf einen scharfen Felsengrat, dessen andere Seite eine senkrechte Wand auf den Gletscher abwärts zu bilden schien. Wir wandten uns nach rechts, wo die Schneewand am weitesten hinaufzugehen schien. In diesem Moment schlug mir ein Windstoss den Hut ab, der in hohem Wirbel über den Grat flog. Herr Kursleiter und zwei sich ihm zugesellte « Mächte » gingen direkt über die von uns als unpassierbare Wand gehaltene Seite ab, dorthin, wo ungefähr der Hut gefallen war. Ich staunte: es war fast, als ob die Leute hier einen Weg kannten. Den Hut fanden sie nicht. Sie sagten, er sei wohl durch den Wirbelsturm weit in die Felsen hinaufgeweht worden. Ich und Hurschler meinten, den Hut liegen zu sehen. Ich gingihm nach, bekam ihn aber nicht mehr und verband daher mit meinem Nastuch meinen Kopf.

Ich ging nun dem Kursleiter und seinen zwei Begleitern nach in der Hoffnung, bei diesen mehr zu lernen als bei meinen Kameraden. Die drei Mann gingen direkt über den Gletscher und alle Spalten, die mir zwar etwas verschneit vorkamen, hinab. Ich eilte rasch nach, um wenn nötig um Hilfe zu rufen. Ich war nämlich nicht am Seil. Auf einmal machten sie halt... es waren bloss noch ihrer zwei.

Auf meine Frage, was es gegeben habe, wurde mir gesagt, dass einem Führer die Kappe in eine Spalte gefallen sei. Diese werde nun vom Herrn Kursleiter herausgeholt.

Ich hatte mich vorher geschämt, dass ich der Kursleitung infolge Fahrenlassens meines Hutes Umstände und nutzlose Bemühung verursacht hatte. Daher freute es mich, dass diesmal die Mühe des Kursleiters, der sich um solch eigentlich geringfügige Kleinigkeiten seiner Anvertrauten bemühte, mit Erfolg belohnt wurde.

Rasch ging 's nun abwärts bis unten an den Gletscher. Von dort wendeten wir uns etwas nach rechts und stiegen über eine Schutt- und Grashalde hinab, um die neue Klubhütte am Chälengletscher zu besuchen. Hier zeigte Herr Kursleiter wiederum seine Gewandtheit im Absteigen. Mir und noch zwei anderen war es nicht möglich, mit ihm Schritt zu halten. Christen meinte, mit allen Herren könnte man unmöglich so schnell absteigen.

Bald war die schöne Klubhütte in Sicht. Herr Kursleiter machte noch einen Rutscher auf der Grashalde. Weil ich glaubte, es wäre nicht ganz freiwillig geschehen, machte ich ihn nicht nach. Um i Uhr kamen wir in der Klubhütte an.

Die Hütte fanden wir sehr wohnlich. Zum Bleiben war sie für unsere Gesellschaft wohl zu klein, da wir - trotz guter Kameradschaft - uns nicht alle holden Sinnes sind. Es wurde inspiziert, ob wir alle gesund und heil eingetroffen waren, was sich bestätigte.

Bald jedoch zeigte es sich, dass der Kursleiter an drei Fingern infolge kleiner Hautschürfungen blutete. Schnell wollten wir ihm einen Verband anlegen, was er jedoch ablehnte. Das war der Lehre ganz entgegen, die uns im Samariterkurs gegeben worden war: dass Blutungen sofort zu stillen gesucht werden sollen, indem das Blut, als der edelste Bestandteil des menschlichen Körpers, erhalten und geschont werden müsse und Blutver-luste nur schwer zu ersetzen seien. Der Kursleiter erklärte, dass man kleinen Blutungen in den Bergen einfach keine Beachtung schenken solle oder dass man die blutenden Stellen nur mit etwas Schnee betasten solle. Das Bluten höre bald auf.

Auch Sepp Küster blutete ziemlich an einem Ohr. Er wurde nach der heutigen Theorie behandelt. Den Rockkragen könne man dann wieder abwaschen.

Auf meine Frage, was es diesem gegeben habe, hiess es, dass er mit der Kappe in eine Spalte gefallen und vom Seil am Ohr etwas gerieben worden sei. Diese kleinen Abwechslungen waren nicht geeignet, die humorvolle Stimmung der Gesellschaft abzuschwächen. Fritz hatte unterwegs noch einen schönen Stein gefunden, an welchem, wie er und ich glaubten, einige Diamanten wuchsen. Es wurde uns gesagt, dass der Stein Kalkspat genannt zu werden verdiene, da sich an ihm einige kleine gutgeformte Kristall-Steine gebildet hatten.

Pflichtgemäss wurden nun unsere Namen eingetragen und auch der von uns getrennt Wandernden gedacht.

Herr Kursleiter sprach dann einige Worte über die Hüttenordnung. Die Hütten seien mit grossen Opfern vom Alpenklub zur Bequemlichkeit und zum Schütze der Touristen gebaut worden. Sie sollten auch für diesen Zweck benützt werden. Es solle Ordnung darin geübt und gehandhabt werden. Man solle auch gegenüber anderen Gesellschaften oder Gruppen, mit denen man in Hütten zusammenkomme, freundlich sein. Ferner sei es Pflicht der Führer, dass diese Freundlichkeit solchen nicht vorenthalten werde, die ohne Führer reisen. Mit etwas Verträglichkeit lasse sich auch mit diesen in der Hütte gesellschaftlich leben.

Ein Führer bemerkte dazu, dass es dem Anscheine nach bereits zwei Klassen von führerlos reisenden Touristen gebe. Mit jener Klasse, die eigentlich Herren seien, sei es gewöhnlich, wie es der Herr Kursleiter sage. Es gebe eben auch eine Klasse, welche die Führer gering schätzen würden und dies diese auch fühlen lassen. Das finde er für sehr « gewöhnlich », aber das seien eben auch keine gebildeten Herren.

Nun wurde noch die Eintragung von Touren und Zeugnissen, eventuell auch Beschwerden im Führerbuche besprochen. Durrer wies nun sein Buch zur Probe vor. Herr Kursleiter meinte, dass die Eintragung gewöhnlich etwas schablonenhaft erfolgen würde. « Zufrieden - zufrieden - zufrieden. Nichts Weiteres zu bemerken », las er, « sehr zufrieden - ah, da kommt noch das Zeugnis einer Dame: Ich habe Herrn Durrer als einen sehr liebenswürdigen Mann kennengelernt », so las er weiter und klappte das Buch zu. Er bemerkte hierzu, das sei wohl der höchste Grad von Auszeichnung, die ein Führer erreichen könne. Ich fragte Durrer, wie die Dame heisse und ob sie jung gewesen sei. Durrer sagte, dass ihm mehrere Damen solche Zeugnisse geschrieben hätten. Er wisse nicht genau, von welcher der Herr Kursleiter das Zeugnis gelesen habe.

An Hand der Karte, die Durrer mitbrachte, orientierte man sich, wo wir uns befanden. Ich glaube, es wurde der Kanton Uri herausgefunden.

Herr Durrer berichtete dann noch von einer wunderschönen Höhle, die sich bei der Tannenalp befinde. Sie heisse Vickenloch. Unweit des Einganges geniesse man einen prachtvollen Blick auf Engelberg. In diese Höhle könne man vier Stunden lang hineinkriechen, bis man am Ende sei. Bald könne man aufrecht gehen, bald gebückt, bald am Seil. Da seien interessante Felsengänge, dabei guter Luftzug u.s. w.

Wir staunten, dass wir so etwas, das in unserer Nähe war und uns doch nicht bekannt, uns von er Bergführern. Mitte: C. Küster, Gruppe von Wieden ca. igo4 Pholti Archiv Paul Küster anderen beschreiben lassen mussten. Wenigstens kam mir vor, dass einzelnen Führern, die unsere Gegend ziemlich ganz zu kennen wussten, dies nicht sehr genehm war. Einer wagte zu fragen, wie lange die Höhle wäre. Herr Durrer antwortete, er sei auf 415 Meter weit vorgedrungen. Der Führer fragte nun, ob seine Gruppe damals, ziemlich weit drinnen, wo ein Felsen den Gang einzwängt, über oder unter diesem Felsen durchgekrochen wäre. Es sei dort oben und unten ein Durchpass, durch den ein Mann sich durchzwin-gen könne. Durrer konnte sich der Stelle nicht mehr erinnern. So wurde die Diskussion über Höhlenforschung beendet.

Noch ein Imbiss und ein Schluck, dann wurde zum Autbruch geblasen. Ich und noch einer sollten die Hütte etwas reinigen, d.h. wischen. Trotz allem Suchen fanden wir keinen Besen. Wir mussten daher mit « Blasen » und auf andere Weise den Güsel zur Türe hinausspedieren. Nach vollendeter Reinigung und Schliessung der Hütte sprangen wir rasch nach und hatten bald einige überholt. Zu bemerken ist noch, dass bei diesem Springen, das sich in rasender Eile vollzog, der junge Hess, die Stöcke in beiden Händen haltend, einen bemerkenswerten Fall tat, bei welchem der Stil seines geliehenen Pickels in drei Stücke zerbrach.

Also Aufbruch von der Klubhütte um zwei ein Viertel Uhr. Der Abstieg ging durch den Weg, rechts auf den Chälengletscher, von dort links ab durchs Tal hinaus, auf die Göscheneralp zu. Waser war mit unseren Karten vorausgesprungen. Deshalb konnten wir die Orte und die Berge nicht näher benennen.

Halb vier Uhr: Ankunft in der Göscheneralp. Beim Hotel Dammafirn machten wir Rast, um von da an gemeinsam und geschlossen zu wandern. Das Haus, mit Engelberger Verhältnissen verglichen, war ein niedriges, kleines Hotel — und geschlossen.

Der Gemeindepräsident war von unserer Ankunft nicht benachrichtigt worden. Darum wurden wir auch nicht offiziell begrüsst.

Bald kam Küster mit Herrn Doktor sehr rasch daher. Ein Führer meinte: « Ja, die gehen vorbei und warten nicht, bis alle da sind. » Wirklich war es so. Wir sahen die beiden später bloss halbstun-denweit voraus. Und dann erst wieder, als sie um halb acht Uhr mit Wagen in Wassen ankamen.

Der Weg durch das Göschenental ist wohl etwas lange, aber nicht rauh. Hinten im Tal hat es viele wässerige Torf-Flächen. Auch das nicht stark ausgedehnte Wiesland schien feucht zu sein. Von der kleinen Häusergruppe aus ist der Blick auf den Damma- und Chälengletscher wirklich schön. Auch die umliegenden Berge waren für uns recht heimelig anzuschauen. Sogar der junge Hans meinte: « Ja, schön ischt äs da im Tal. Aber im Winter möchte ich doch nicht bleiben », fügte er bei - weil nämlich um die Häuser die Holzbeigen fehlten. Ein schöner Ausblick bot sich uns auch auf den Damma-Gletscher und gegen den Damma-Stock und Rhonenstock hin. Der Gletscher kommt sogar sehr nahe bis ans Hotel und an das « Dorf ». Christen liess sich beim Gasthaus zum Ochsen einen Cognac geben. Dafür wurden 30 Rappen verlangt, was ihn viel dünkte. Nachher meinte er, stark sei das Getränk schon gewesen. Es hätte ihm einen förmlichen Rausch gebracht. Er sah nämlich einen Gaden, der von Schnee oder Lawinendruck schief gestossen war.

Aus dessen Anblick Schloss er auf seine Betrunken-heit.

Dreiviertel vor vier gingen wir von der Göscheneralp weg. Wir wanderten nun rasch fürbass gegen Göschenen zu. Da und dort waren Wegzeichen mit Stangen und zerrissenen Fahnen zu sehen. Die waren wohl angebracht zur Orientierung bei starkem Schneefall. Gesprochen wurde wenig. Wir beabsichtigten, Küster und den Herrn Kursleiter einzuholen, was uns aber nicht gelang. Ein Bach, der sich links aus einem noch höher gelegenen Alptale durch die Steine gegen unser Göschenental wälzte, nahm vorübergehend unsere Aufmerksamkeit in Anspruch.

Wir vermuteten, dass sich hier das Voralptal mit der dort liegenden Alp und Klubhütte befinden könnte, was sich weiter unten durch Weg und Wegweiser bestätigte. Hin und wieder begegneten wir in dem zufolge der späten Jahreszeit etwas verödeten Tal einigen Ziegen, die, langbehaart, von weisslicher Farbe, mit schwarzen Hälsen und grossen Hörnern, als eigene Rassenart ziemlich schweren Schlages hier gehalten werden. Den Eutern nach zu schliessen, meinte Christen, würden sie jedoch nicht mehr viel Milch geben.

Je weiter wir ins Tal hinauskamen, desto mehr sahen wir vereinzelte Häuschen und Ställe. Endlich schien uns der Weg in ein grässliches Tobel direkt in den Bach hinein zu führen. Eine hochan-gelegte Brücke aufdem natürlichen Felsen, mit einem Mittel-Pfeiler, führte uns an das linke Ufer des Baches, wo der Weg gleich bei der Brücke nach dem Voralp-Tal abzweigt.

Ich fragte mich, ob diese Brücke nicht fast so hoch liegt wie diejenige von Kerns nach dem Flüeli, welche als die höchste Brücke der Schweiz gilt. Der Blick nach unten ins Wasser war hier auch sehr tief, die Brücke jedenfalls sehr interessant gebaut, auch wenn dabei nicht viel feinere Technik verwendet wurde.

Auf der anderen Seite der Brücke bemerkte ich eine kleine Kapelle, welche meine Aufmerksamkeit wegen ihrer Bauart auf sich zog. Im Gegensatz dazu, wie man bei uns die Kapellen schlank und schmal ausführt, war diese von ziemlicher Breite und wenig tief. Ich guckte rasch durchs Gitter, von welchem Heiligen das Bild sein möchte. Ein Bischof mit Stab, ein Buch in der Hand, mit drei goldenen Nüssen darauf. « Das ist ja der heilige Nikolaus », sagte Felder. « Bald werden wir wohl zu den drei Jungfrauen kommen, welche ausgesteuert werden sollen. » Zweimal kamen noch, rasch aufeinanderfolgend, Brücken, welche uns auf kurze Strecken über den Bach und wieder zurück führten. Dann wurde die Gegend des Göschener Tales zähmer, die Matten boten einen grünen Anblick. Die Häuser und Güter wurden fortwährend stattlicher. Der Blick auf die Ortschaft, auf das Dorf, blieb nunmehr offen. Da und dort arbeiteten die Leute auf dem Felde: Kartoffeln ausmachen, Mist zerlegen u.s.f.

Mit solcher Arbeit waren auch drei Dorf-Schöne unweit der Siedlung beschäftigt. Ich nannte sie so, weil Herr Kursleiter am Abend in der Theorie über das Bemerkenswerte des Tages diese drei Mädchen erwähnt hatte. Zwei davon seien schön, eine wirklich sehr schön zu nennen, hatte er bemerkt.

Jakob sagte auch, dass diese drei Mädchen wohl nicht immer draussen im Mist stehen, sondern, den Kleidern nach, wohl im Sommer in einem Hotel gearbeitet hätten.

Um 5.30 Uhr erreichten wir Göschenen. Unsere Nachfragen nach Küster und Herrn Kursleiter waren erfolglos. Man sagte uns, dass einige mit der Bahn abgefahren seien. Nachdem wir gewartet hatten, bis die letzten und Christen da waren, tranken wir ein Bier auf « Gut Wetter » für Morgen, trottelten gemütlich nach Wassen und kamen um 6.30 Uhr an. Wir wurden vom Quartiermeister empfangen und im Ochsen einlogiert. Bald ging 's zum Nachtessen. Dieses war bereits gerüstet und der Tisch sauber gedeckt. Die Suppe schmeckte fein. Es gab genug. Die gute Wirtin hatte jedoch bei der Berechnung und Zerlegung der Fleischklötze wohl eher an eine Bewirtung von zimpferlichen Institutsfräulein als von hung- rigen Bergführern gedacht. Item, bei uns rechnet Gottlieb gewöhnlich, recht viel und Starkes zum Essen zu verabfolgen, damit die Leute nachher recht viel trinken, wobei dann Verdienst sei.

Diese List kennt man im Ochsen scheints nicht, freut sich aber dennoch, wenn getrunken wird, und findet sich dabei gern auch gemütlich. Wir freuten uns des schönen Tages, des Wetters, das sich bereits ganz aufgeklärt hatte, und erzählten uns gegenseitig die schönen Eindrücke des Tages.

Viel geheimnisvoller taten unsere Kameraden, die über den Sustenpass gewandert waren. Aus ihren Reden vernahm man, dass sie 's recht gemütlich gehabt hatten. Im « Alpenrösli » im Meiental muss es recht lustig gewesen sein. Sie sprachen da unter sich von einem Meitschi, von einer Kuh, von Müggensuppe und von Ansichtskarten und lachten immer so geheimnisvoll. Wenn das Wetter gut bleibt, gehe ich im Herbst einmal nach dorten und frage, was da eigentlich gegangen sei.

Nach dem Nachtessen setzte die Kursleitung den Abmarsch auf morgens 6 Uhr des folgenden Tages fest und erklärte, dass infolge des anstrengenden Tagesmarsches für heute die Theorie wegfalle. Er berührte kurz die interessantesten Vorkommnisse und alles Erwähnenswerte und wünschte uns eine gute, geruhsame Nacht.

Inzwischen hatte sich ein Mann in eine Ecke des Saales gesetzt, der zur Unterhaltung einige Stücke auf der Handorgel vorzutragen beliebte. Bald kam Leben in die Gesellschaft. Ich wollte mich drücken und ins Bett gehen. Allein der Führerchef kommandierte: « Mithalten! » Ich folgte gerne, wollte aber den Führern nicht im Wege sein, d.h. nicht mit denselben um die Meitschi streiten. Bald bemerkte ich, dass die Meitschi lieber mit uns jungen Trägern tanzten als mit den bärtigen Führern. Ich liess daher auch eine extra Flasche Wein auftragen und tanzte, mit Christen abwechselnd, mit Elise in einem fort alle Tänze. Elise war auch sonst sehr unterhaltend und gesprächig. Ich merkte bald, dass sie mir ziemlich nachhielt, und meinte, Christen tanze so grobhöl-zig. Christen hinwieder sagte, dass zwei Hambur- gerdamen, mit denen er alle Donnerstage den Sommer hindurch in der Eintracht in Wolfenschiessen habe tanzen müssen, viel besser getanzt hätten, als Elise es könne.

Auf einmal erscholl der Ruf des Kursleiters: « Elise, Elise, Elise! » Endlich entschloss sie sich, mit der Bemerkung: « Ich komme grad wieder. » Sie fragte nach dem Begehren des Herrn. Dieser nahm sie bei der Hand, besah ihre Fingernägel, streichelte ihren Handrücken und wusste sehr zärtlich zu tun. Ich bemerkte, dass sie ausreissen wollte. Allein sie konnte nicht weg, bis sie einen Tanz mit ihm gemacht hatte, worauf sie sich schleunigst wieder bei mir einfand. Herr Kursleiter wurde nun auch recht lustig, und wir überliessen ihm rücksichtsvoll hie und da ein Mädchen zum Tanze. Die Gunst der Elise, auf die er es hauptsächlich abgesehen hatte, konnte er aber nicht erreichen. Dagegen ersuchte sie mich, sie bald wieder einmal zu besuchen oder ihr doch wenigstens einmal zu schreiben.

Auf einmal sagte der Führer-Chef: « Wollt ihr denn durchtanzen bis am Morgen? Es ist halb drei Uhr und darum Zeit, zu Bette zu gehen. » Dies ermahnte uns, auf etwas Ruhe zu denken. Ich spazierte dann mit Elise noch eine Stunde im Freien auf der Strasse und legte mich nachher auch hin.

Um 5 Uhr wurde geklopft zum Aufstehen. Ich war der letzte, der zum Frühstück kam. Ich bekam daher auch nichts mehr als eine halbe Tasse schwarzen Kaffees. Milch war keine mehr da. Ich glaubte, die anderen hätten'alle Milch getrunken. Allein auch sie behaupteten, nur je eine Tasse bekommen zu haben. « Es gibt bald Milch », sagte das schwarze Mädchen in der Küche. Allein, es gab sie nicht. Alle waren zum Abmarsch fertig und gingen. Nur mit der Aussicht, etwas Milch zum Kaffee zu erhalten, wollte ich nicht warten. Ich hätte riskieren müssen, den Weg allein nicht mehr zu finden. 6.30 Uhr war Aufbruch in Wassen. Der Weg zum Gornerental war schlecht und stei- nig. Bald lag ich der Länge nach am Boden, bald war ich auf den Knien. Aber es gab kein Unglück.

Um 8 Uhr kamen wir auf die Höhe, wo das Reservoir zur Wasserfassung des Elektrizitätswerkes von Gurtnellen, am Ende des Gornerentales, sich befindet. Von hier ging 's, langsam ansteigend, durchs Tal hinein. Ich fand den Weg sehr angenehm. Mich und verschiedene andere brachte die Steigung etwas zum Schwitzen, obschon wir nicht sehr rasch vorankamen. Ich hatte doch vor der Tour kein Bier getrunken. Den Grund des Schwitzens wusste ich mir nicht zu erklären. Etwa in der Hälfte machten wir Rast und Frühstückspause.

Herr Kursleiter erklärte, dass die Führer des Berner Oberlandes es vielfach in Übung hätten, auf ihre Dischinirplätze ( Dejeuner ) zu gehen, bis etwas gegessen werde oder zu essen gereicht würde, gleichviel, welche Zeit man brauche, um dahin zu kommen. Es sei dies ein schlechter Brauch, dem nicht nachgelebt werden sollte. Je nach 2 V2 bis 3 Stunden Zeitunterbruch soll man auf Touren wieder etwas geniessen, um den Körper kräftig und leistungsfähig zu erhalten. Nach einem gehörigen Imbiss und einstweiliger Stillung des Durstes ging 's weiter. Die Steigung wurde stärker. Endlich kamen wir auf Schnee. Es wurde befohlen, die Schneebrillen anzulegen, mit der Bemerkung, dass die Schneebrillen für längere Schneetouren besser sehr dunkel sein sollten. Namentlich blaue, wie ich eine trug, würden als Gletscherbrille nichts taugen.

Wir nahmen nun die Weg-Richtung zwischen dem Zwächten- und dem Schneehühnerstock hinauf. Ein schmaler, steiler Schneehang zog sich bis zum Grat empor. Ich hatte Furcht wegen Lawinengefahr, da hinauf zu gehen. Allein man tröstete mich, dass dies um diese Jahreszeit nicht so gefährlich sei. Kaum hatte ich dies überlegt, mussten wir schon wieder links durch Felsen klettern. Das war mir angenehm. Fast zuoberst kamen wir durch ein sogenanntes Kamin. Diese Stelle wurde von Christen als sehr schwierig bezeichnet. Auf dem Grat, beim Glatten-Firn, gab 's nochmals Rast. Wir wurden in Reih und Glied am Seil photographiert. Nachher wurde uns freigestellt, direkt nach der Schlossberglücke zu gehen oder noch etwas zu unternehmen. Uns Jüngeren wurde die Besteigung des Grossen Spannorts empfohlen. Auch der Herr Kursleiter kam dorthin mit.

Ich und Arnold wollten nun den Aufstieg nach dem Kleinen Spannort versuchen. Wir gaben aber diesen Versuch auf, da die Felsen ganz verschneit und vereist waren. Inzwischen hatten die anderen die Spitze des Grossen Spannorts erreicht. Nach kurzem Aufenthalt machten sie kehrt, um wieder abzusteigen. Wir beobachteten sie und bemerkten, dass der Herr Kursleiter und noch zwei andere sich zuoberst bei den Felsen auf einmal nach rechts wendeten und in ein steiles Kamin einstiegen. Wie es ihnen ergangen ist, weiss ich nicht. Doch bemerkte ich die drei Leute wieder wie Spinnen auf einem Schneegrat daherkommen. Von dort erkletterten sie einen Felsenzacken vom Spannort, oder, wie sie sagten: sie « machten » eine neue Spitze.

Durrer und Christen waren nun wieder am Fuss des Grossen Spannort angelangt. Letzterer ohne Hut und Kappe. Ich erkundigte mich, was ihm passiert sei. Er erklärte, der Kursleiter hätte ihnen erklärt, wie es auf hohen Bergen von über 3000 Metern manchmal windig sein könne. Deshalb plaziere man die Hüte im Rucksack und lege Kappen auf, die man bei sich habe. Er, Christen, hätte seinen Hut nicht riskieren wollen und habe denselben beim obersten Felsen unter einen Stein gelegt und nun dort leider vergessen. Er habe halt den Apparat im Sack und darum den Hut nicht hineinbringeiikónnen. Für die angebotene Belohnung von Fr. r. holte ich den vergessenen Hut in 20 Minuten. Ich habe meiner Lebtag noch nie leichter und schneller einen Franken verdient.

Wir machten uns dann schleunigst auf zur Schlossberglücke und von dort zur Klubhütte.Von den ersten war dort bereits ein The bereitet, den wir uns schmecken liessen. Hier bemerkten wir, dass Lussy mit einem Verband um den Kopf am Tische sass, was uns erschreckt hätte, wenn sein gewöhnlich gutes Aussehen und sein Humor gefehlt hätten. So aber glaubten wir, dass der ihm passierte Unfall - er war durch einen herabrollenden Stein an die hohe Denkerstirn getroffen worden - keine üble Nachwirkung haben werde.

Die alte Dorfstrasse von Engelberg am Ende des ig. Jahrhunderts. Rechts ein Stück von der « Bierlialp ». Aus: « Alt Engelberg » von Fritz Hess; Verlag Josef von Matt, StansPhulo Archiv Paul Küster Nun hiess es: « Christen, den Apparat auspacken! », damit die Hütte mit der Gesellschaft photographiert werden könne. Allein, Christen war nicht da und überhaupt nicht zu finden. Gleich ob der Klubhütte war er noch bemerkt worden. Endlich, nach langem Suchen, sahen wir ihn gegen das Alpenrösli auf Niedersurenen zuwandern. Unsere Kameraden gingen nun auch partienweise nach Niedersurenen, während der Kursleiter mit seinen zwei Begleitern noch immer nicht angekommen war.

Halb sechs Uhr war schon vorbei, und die drei 1Ausschnitt aus dem Tillis-Panorama von X. Imfeid, Sarnen Druck v.J.J. Hofer, Zürich Aus dem Archiv der Zentralbibliothek Zürich 2Die Spannort-Clubhütte des SAC um die Jahrhundertwende Aus: Schweizer Heimatbücher 11811ig, ig64: « Das Buch von Engelberg » von Félicitas von Reznizek, Engel- Leute waren noch nicht da, während wir bereits drei Stunden hier auf sie warteten. Wir mussten schon daran denken, es könne etwas gegeben haben. Zudem hätten wir gehofft, in der Hütte von Herrn Kursleiter noch einige belehrende Worte zu hören. Statt dessen beratschlagten nun die älteren Führer, wie eine eventuelle Hilfskolonne den drei Zurückgebliebenen nachzusenden wäre. Drei Führer sollten vorn nach dem Spannortjoch und drei Führer den Aufstieg nach der Schlossberglücke unternehmen. Je ein Mann sollte in der Mitte zwischen der Hütte als Verbindungsmann für Signale bleiben.

Schon fing es an zu dunkeln. Die Gesichter der Anwesenden wurden ernster. Das leichtsinnige Ausbleiben war nicht erklärlich. The und Proviant wurden eingepackt. Bereits sollte der Abmarsch erfolgen, als endlich die drei Bergfexen, welche noch die Adler-Spitze besucht hatten, unterhalb der Schlossberglücke bemerkt wurden. Rasch kamen sie zur Hütte. Wieder war ein aus-geliehener Pickel gebrochen und verloren. Sonst war anscheinend alles heil. Rasch ging es durch die Dämmerung über den Geissrücken hinab. Der schmale Grat kam mir hin und wieder eklig vor. Links und rechts war der steile Abhang. Da gehe ich nachts nicht wieder. Meine Hosen litten dabei auch. Überhaupt: dieser Abstieg, das späte Zurückkommen, das verzottelte Wandern, all dies ärgerte mich, so dass alle vorher erhaltenen guten Eindrücke mich momentan verliessen.

Auf Niedersurenen trafen wir Christen. Der jammerte, weil er die Hütte verfehlt hatte, und nun, wenn er einmal diese Hütte besuchen sollte, nicht wisse, wo sie sei und wo man in sie hinein-gehe.

Mit bestellten Breack-Wagen ging 's dann rasch oder vielmehr nicht rasch von der Herrenrüti nach Engelberg, wo wir um 8.00 Uhr ankamen. Nach allseitigem: « Gute Nacht, Auf-Wiederse-hen! » - « Morgen um 8.00 Uhr ist Abschluss », erfolgte die Trennung.

Donnerstag, morgens 9.00 Uhr, war wieder Zusammenkunft im Alpenklubsaal. Herr Polizei-Di- 3 Das Innere einer SAC-Hütte. Herausgegeben als Postkarte mit den Vermerken: Postkarte — Carte postale Weltpostverein — Union postale universelle Dopisnice — Correspondenzkarte - Levelezö-Lap Karta korespondencyjna - korespondentni listek Bnefkaart - Cartolina postale - post card Brefkort 0 TKPblTOE ni/lCbMO ( russisch ) Photo E. Goetz. Luzern Archiv Paul Küster, Bürglen ( OVVI rektor von Sarnen war angelangt, um der Schluss-Prüfung beizuwohnen. Eine solche fand indessen nicht statt. Es wurde von der Kursleitung nur im allgemeinen bemerkt, dass sie von der praktischen Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit der Engelberger Führer einen guten Eindruck erhalten haben. Das Kartenlesen sei infolge des misslichen Wetters und der knappen Zeit etwas vernachlässigt worden. Jeder Führer, der die Primarschule gut absolviert habe, wisse aber Auskunft auf der Karte. Die Linien geben die Höhe an. Je mehr oder weniger sie auseinander gezeichnet seien, seien die Steigungen der Abhänge verschieden. Die dunkelsten Schattierungen seien Felsen. Die kleinsten Punkte « Gufer » oder Schutthalden mit grossen Stein-Ablagerungen. Andere Punkte bedeuten Wald. Nach der Karte könne man sich in einer Gegend, die man nicht gut kenne, orientieren.

Der Führer-Chef bemerkte, dass auch der Kompass zur Karte gehöre, womit die Himmelsrichtung bestimmt werde.

Dillier sagte zu mir: « Wenn d'Sunnä scheint, weiss ich die Himmelsrichtung ohne Kompass. Und wenn der Nebel liegt und ich den Weg nicht weiss, nützt auch die Karte nicht viel. » Dem Herrn Polizeidirektor wurde diese Kar-ten-Lese-Theorie offenbar langweilig. Ich glaube fast, dass er Dilliers Ansicht auch zugenickt hätte.

Item, er rief die Kellnerin herbei und bestellte einige Liter Wein auf seine Rechnung. Es folgte nun auch eine gemütliche Abschiedsfeier. Dann wurde von der Kursleitung der Polizeidirektion versprochen, ihr Bericht und Anträge für die Patenterteilung zuzusenden. » 4Bergführer K. Küster, Engelberg, mit Dame auf Gletschertour ( etwa um igoo ) Photo Archiv Paul Küster, Bürglen ( OW ) 5Hinter Tierberg ( Susten ) Photo Lisa Gensetter, Davos-Dorf 6Lagerplatz vor der Steilwand des Nuptse ( j88o m )

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