Braucht es einen neuen Nationalpark? Pro und Kontra zum Projekt
Wohl zum letzten Mal wird in der Schweiz im Juni über ein Projekt für einen zweiten Nationalpark abgestimmt. Wie der gescheiterte Parc Adula ist auch der Parco Locarnese umstritten. Cindy Fogliani hat im Tessin für «Die Alpen» Stellungnahmen eingeholt.


Ich bin sehr glücklich, dass der SAC heute den Nationalpark Locarnese unterstützt. Was den Parc Adula betraf, war die Situation ja ganz anders. Der SAC erklärte auf der einen Seite, die Berge zu lieben und zu schützen, und in diesem Zusammenhang wurde erst kürzlich eine Spendenaktion durchgeführt. Auf der anderen Seite sprach sich der Club gegen ein Vorhaben aus, das dem Schutz des Alpenraums gewidmet war. Ich habe das als widersprüchlich empfunden, und ich stimme vor allem nicht mit der Auffassung überein, dass die Bewegungsfreiheit der Personen schwerer wiegt als die Rechte der Tiere und der Natur. Das gilt zumindest für Projekte wie Naturparks, wo die Einschränkungen im Vergleich zur gesamten alpinen Gebirgskette und zum darüber hinaus zur Verfügung stehenden Spielfeld nur einen sehr kleinen Teil betreffen. Im Falle des Nationalparks Locarnese entspricht die Kernzone 2% der Fläche des Kantons. Man kann hier immer noch Sportarten wie Bergwandern und Bergsteigen ausüben und Alpwirtschaft und Berghütten betreiben. Wenn man wirklich von einem Tribut sprechen muss, dann erscheint mir dieser sehr gering. Denken wir daran, dass ein Nationalpark der neuen Generation, wie der Park Locarnese einer sein wird, nicht den gleichen vollständigen Schutz wie jener im Engadin geniesst. Er ist für den Menschen und für die Natur gemacht. In den Kernzonen des Nationalparks Locarnese werden die vorhandenen Ökosysteme geschützt sein. In jedem Fall haben wir zehn Versuchsjahre, um die Validität des Projekts zu prüfen. Danach können wir es gegebenenfalls anhand der gesammelten Erfahrungen neu formulieren oder unterbrechen. Ich denke, dass ein Park uns dank den Kernzonen die Möglichkeit schenkt, die Dinge auch für das Wohl unserer Kinder an den richtigen Platz zu rücken und damit anzuerkennen, dass nicht der Mensch, sondern die Natur an erster Stelle steht.
Ich finde es widersinnig, dass einige Kletterbereiche in der Kernzone liegen. Eine Ausnahmeregelung erlaubt den Zugang, geht aber nicht näher auf die Erschliessung neuer Routen beziehungsweise auf die Reinigungsarbeiten oder die Instandhaltung der Routen ein. Ich befürchte auch die Schliessung der Bereiche im Falle von Verstössen durch die Nutzer oder wenn eine besonders empfindliche Flora oder Fauna vorhanden ist. Bedenkenswert ist auch, dass das Projekt nicht zum Schutz der Natur, sondern zur Förderung eines beschränkten und erlesenen Teils der Wirtschaft im Talboden entstanden ist, die von den bereitgestellten Millionen begünstigt wird. Angesichts dieser Überlegung scheint es noch absurder, eine Tätigkeit einzuschränken, die seit Jahrzehnten mit dem Gebiet verbunden ist und zahlreiche passionierte Interessenten in diese Gegend zieht. Ich bin ein Verehrer der Nationalparks und bin mit grosser Begeisterung in zahlreichen Parks und Naturreservaten der Welt geklettert, wo es keinerlei Einschränkungen der Bewegungsfreiheit gibt, wie sie im Nationalpark Locarnese vorgesehen sind. Bei diesem Vorhaben spricht man von einem Park der neuen Generation. Aber die Verordnung der Kernzonen weicht nicht sehr von jener des Schweizerischen Nationalparks ab, der jetzt Naturreservat genannt wird. Die Region ist ausserdem klein und vom Menschen geprägt. Die Kernzonen sind aufgesplittert, um zahlreiche Interessenkonflikte zu vermeiden. Trotz all diesen Anstrengungen finden wir eine der Kernzonen in Arcegno entlang der Strasse in einem Gebiet, das nicht nur Kletterer, sondern auch Radfahrer, Familien, Tierbesitzer und Kastaniensammler frequentieren. Für mich ist es klar, dass das Projekt und das Gelände auf einen Regionalpark und nicht auf einen Nationalpark nach Schweizer Konzept hinauslaufen sollten. Ich bin zudem davon überzeugt, dass die Regionen auch vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus betrachtet sehr gut ohne einen sogenannten Nationalpark weiterleben können.