Briefe eines Bergkameraden
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Briefe eines Bergkameraden

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Im Juli 1922 fuhren wir an einem prächtigen Abend ins Linthtal hinein mit der Absicht, den hohen Turm von der Ortstockfurkel aus zu besteigen. Im Zuge kamen wir mit einem Einzelgänger zusammen, dessen offenes, sympathisches Gesicht uns auffiel. Entgegen unserem Grundsatze, keine Unbekannten auf Kletterturen einzuladen, nahmen wir ihn als Dritten in unseren Bund auf. Wir sollten es nicht bereuen.

Als wir am Sonntagmorgen zeitig auf der Ortstockfurkel standen, strahlten die Glarnerberge in ihrer schönsten Pracht. Obwohl wir alle drei im Klettern nicht sehr geübt waren, nahmen wir den Turm frisch in Angriff. In den abschüssigen Wänden war es uns nicht immer geheuerlich zumute, aber wir trotzten den Schwierigkeiten und streckten schliesslich jubelnd unsere Köpfe über den Gipfel hinauf zum nicht geringen Schrecken eines dort rastenden Glarners, der uns mit einem vertrauten « Ihr meineirie Choge » empfing. Wie herrlich war die Rast nach getaner Arbeit auf dem luftigen hohen Turm! Der Abstieg über die Ehrismatt bot keine Schwierigkeiten, der Weg hinunter nach Braunwald und Linthal war eine eigentliche Erholung. Der Tag hatte genügt, um drei junge bergfreudige Menschen, die ein paar Stunden ihr Schicksal demselben Seil anvertraut hatten, zusammenzukitten.

Zwar hätte man dies vorderhand kaum behaupten können, denn bis zum Mai 1923 hörte ich nichts mehr von dem neu gewonnenen Bergkameraden, aber dann kam ein Brief, der das Herz höher schwellen liess, aus New York.

„ .Hans Mölteli.

Ihr glücklichen Augen, Was je ihr gesehen, Es sei wie es wolle, Es war doch so schön!

New York, 6. Mai 1923. Mein lieber Bergkamerad!

Vor mir liegt Dein Brief vom 29. August v. .T ., und mit aufrichtigem Bedauern stelle ich fest, dass ich Dir so lange nicht geantwortet habe und wohl auch nicht konnte. Ich hoffe aber, Du wirst es mir verzeihen und begreifen, wenn Du etwas mehr von meinen seitherigen Erlebnissen vernimmst.

Ich erinnere mich stets mit Freuden an den hochgestimmten, sonne-vollen Tag auf dem hohen Turm.

In der Zwischenzeit bin ich nach Amerika übersiedelt, aber vorher habe ich noch Abschied genommen von meinen lieben Schweizerbergen. Dazu benützte ich das Clubfest in Zermatt, an dem es aber leider tief hinunter schneite. Die turistischen Hoffnungen wurden damit auf den Nullpunkt gedrückt. Am Montag verschwanden fast alle Bergsteiger, aber am Dienstag blaute wieder ein ungetrübter, prachtvoller Himmel über Zermatt. Mein Herz weitete sich zum Bersten, aber nun war ich allein, denn selbst mein bester und treuster Freund war nach Hause zurückgekehrt, weil man ganz bestimmt der Ansicht war, dass an eine Hochtur während mindestens einer Woche nicht zu denken sei. Aber ein ungestümes Herz und ein bedrängter Führer bringen doch noch etwas fertig. Hermann Perren, vom Hotel gleichen Namens, war der einzige von den vielen Führern, die ich sprach, welcher mir einen Vorschlag machen konnte, zwar zaghaft nur, aber doch einen Vorschlag: die Dufourspitze mit Ski! Ich habe mich sehr lange mit diesem Gedanken auseinandergesetzt, geprüft und erwogen, bis ich mit Perren davon sprach, aber dann allerdings sassen wir binnen Stundenfrist im Wagen der Gornergratbahn. Ich hatte die Ski seiner Tochter.

In der Betempshütte stiegen unsere Pläne, wir beschlossen die Traversierung bis zum Lyskamm, eventuell noch weiter über Kastor, Pollux und Breithorn. Ich hatte nämlich Perren von meiner Urirotstock-Skitur erzählt, und das hat uns dann ein wenig den Kamm geschwellt.

Am Morgen haben wir dann nur bis zum Sattel des Monte Rosa zehn Stunden gebraucht auf den Ski. Wir hatten eben keine Felle, und alles andere ist ja nur geringer Notbehelf. Ich hatte bald herausgefunden, dass Perren kein eigentlicher Skifahrer ist, auch erzählte er mir, dass er schon manches Jahr die Bretter nicht mehr an den Füssen gehabt habe. Trotzdem beschlossen wir, an der Traversierung festzuhalten, also Eisen an die Füsse und die Ski auf den Sack.

Es ist 2 Uhr. Um 4 Uhr sind wir bei ganz kurzer Rast auf der Dufourspitze, wo ich bei pfeifendem Winde und beissender Kälte kaum eine Aufnahme machen kann. Der Weg ist unendlich mühsam und erfordert des tiefen Schnees und teilweiser gwächtenartiger Verwehungen wegen die allergrösste Vorsicht. Dazu drückt schwer der Sack mit den Ski und dem dreissig Meter langen Seil, das ich zur Abfahrt über den Grenzgletscher mitgenommen habe. Solange wir Fels unter den Füssen haben, kommen wir noch ordentlich vorwärts, aber im Schnee... Mühsam, mit schwer pumpendem Herzen erkämpfen wir Zoll um Zoll den steilen, exponierten Schneefirst zur Zumsteinspitze, im weichen, pulverigen Schnee immer wieder zurücksinkend. Aber wir kommen hinauf und überschreiten die Kuppel so rasch es die erschöpften Herzen gestatten. Uns drängt, denn schon drohen Dämmerung und Kälte. Bange schauen wir zur Signalkuppe, was wartet uns dort bei mondloser Nacht?

Da greift uns das Verhängnis durch die Kälte schon an der Zumsteinspitze an. Wir wollen im weichen Schnee die Eisen wieder mit den Ski vertauschen, aber siehe, Schuhe, Riemen, Eisen bilden eine einzige, festgefrorene, steinharte Masse. Die Finger sind in den längst durchnässten Handschuhen steif und kraftlos. Kostbarer denn je verrinnt Minute um Minute unter erfolglosem Mühen, ein banger Fluch presst sich über die Lippen, ein unbekanntes Angstgefühl überfällt und erzittert die Brust, schleicht über den schweiss-gebadeten Rücken, versteift das Kreuz — das Verhängnis ?!

Da fährt eine wilde Energie aus mir heraus, mit Zorneslauten fasse ich den Pickel, so oder so, die Eisen müssen weg. Was zu vollbringen die Finger zu schwach sind, das schaffen nun Arm und Pickel. Die Eisen gehen weg, und mit aller Energie und Kraftanstrengung werden die Ski aufgeschnallt, mit wilder Hast der Sack gepackt und aufgebrochen. Noch ist Perren nicht so weit, aber er strengt alle Kräfte an. Die Handschuhe sind steinhart gefroren, ich fühle keine Kräfte mehr, sie zu bewegen, die Finger können die Stöcke nicht halten. Ich drehe die Stöcke mittels der Riemchen in die Hand ein, nochmals ein Zuruf an Perren, dann los, vorwärts, nur vorwärts, zur sichtbaren Hütte, zur Zuflucht. Schon stampfe ich wieder in der Gnifettilücke aufwärts, als Perren endlich nachkommt. Der Körper will sich trotz allem Kraftaufwand nicht mehr erwärmen, es wird wieder steiler, und auf dem gefrorenen Schnee gleiten die Bretter rückwärts. Da schnalle ich sie entschlossen weg und stecke sie tief in den Schnee, Perren tut dasselbe. Mit Fellen wären wir bald oben, aber um Schnüre und Riemen anzubringen ist bei dieser Kälte absolut keine Zeit, also lieber Schnee stampfen als wieder stehen und frieren, denn unsere Kräfte sind noch nicht erschöpft. Wahrscheinlich wird uns der Schnee tragen. Ja, Perren trägt er, aber mich nicht, ich verwünsche mein Körpergewicht. Perren kommt rasch vorwärts, er schaut nicht mehr um und drängt zur Hütte. Ich habe wieder eine unglaubliche Mühe. Durch die dünngefrorene Schicht sinke ich tief ein, nur mit grösster Mühe bringe ich die Füsse wieder aus den Löchern. Perren droht zu verschwinden, ein ohnmächtiger Grimm erfasst mich, noch ruft er etwas, es klingt wie Freude. Da kommt mir ein rettender Gedanke. Wuchtig schreite ich zurück zu meinen Ski und fasse die Stöcke, sie als Stütze gebrauchend, wird mich vielleicht die Decke tragen. Das ist auch so. Möglichst rasch, immer vorsichtig stützend, geht es vorwärts. Ich glaube die Stelle erreicht zu haben, wo Perren mir zurief, und plötzlich verstehe ich seine Freude, denn vor mir liegen gute Stufen. Auch ich juble, das hatten wir zu hoffen nicht gewagt, also muss zum mindesten der Hüttenwart anwesend sein, denn sie sind frisch gehackt. So kann ich meinen Pickel ruhig am Sack hängen lassen, auch mich drängt es rasch vorwärts. Ich habe einen besonderen Grund zur Eile, meine Finger. Ich habe kein Gefühl mehr in der linken Hand, ich habe eine wehe Angst, sie zu verlieren. Und doch habe ich wieder ein tief innerliches Vertrauen, dass mir meine heissgeliebten Berge das nicht antun können. Sie taten es auch nicht, sie warnten mich nur, und sie hatten Recht.

Es ist nahezu 10 Uhr, als wir die gastliche Margheritahütte erreichen, wir sind also achtzehn Stunden ohne jeden grösseren Halt unterwegs gewesen.

Das Thermometer zeigt morgens 7 Uhr bei unserem Aufbruch noch 15 Grad Kälte. Wir finden unsere Ski wieder vor und fahren bei ungünstig wechselndem Schnee zum Lyskamm. Immer noch herrscht eisig kalt der Ostwind, die Sonne vermag uns kaum zu erwärmen. Ich äussere Perren meine Bedenken wegen meinen Fingern. Da streckt er mir ein Paar Skisocken hin und zeigt mir, wie man sie praktisch als Handschuhe verwenden kann. Nun fühle ich mich geschützt und zu allem entschlossen. In Normalzeit erreichen wir den Gipfel, trotzdem alles gehackt werden muss; Perren legt seinen ganzen Stolz ein dabei.

Dann kommt, was ich mit Spannung erwartet habe: die Abfahrt über den Grenzgletscher. Im oberen Teil ist sie mühsam, der Schnee ist ungünstig. Perren will den gewöhnlichen Weg einschlagen, aber dafür bin ich entschieden nicht zu haben. Wieder Schnee stampfen, die Bretter auf den Schultern, über stundenlange Geröllfelder, nein, das will mir nicht passen. Er fügt sich ungern, es sei nicht möglich durchzukommen, aber wir wollen es erst versuchen, und es geht. Perren fährt voraus, ich folge mit ganzer Seillänge nach. Was wir hier fast spielend überwanden, mutet mich heute wie ein Wunder an. Das hat das lange starke Seil getan, zwei wackere Kameraden verbindend und sichernd. Es ist bestimmt nur das Seil, das uns Kraft gab zu Entschlüssen, die zu fassen wir sonst nie gewagt hätten. Es geht über Blöcke, Spalten, schmale Bänder, Schneebrücken, Steilhänge, kurz über alles, was man auf einem so wild zerrissenen Gletscher finden kann. Perren sagt: Die andern Führer werden nicht glauben, dass wir da durch sind. Über dem Ganzen liegt ja eine verräterische Decke Neuschnee.

Ohne Halt geht es vorwärts, an bösen Stellen einer den andern sichernd, auf harmloserem Feld langsam abfahrend. Perren kennt ja den Gletscher, seine Tochter hat mir erst auf dem Bahnhof erzählt, dass er bei jenem Unglück in den neunziger Jahren auf dem Grenzgletscher dabei war und selbst vier Stunden in einer Spalte lag, wo er durch Erfrieren vier Fingerspitzen verlor.

Der ganze Gang kam mir vor wie Präzisionsarbeit, das war wirklich Geisteskraft, verbunden mit Körperkralt, was uns über die bedeutenden Schwierigkeiten hinwegführte. Unsere beste Hilfe war aber das Seil. Weniger denn je begreife ich heute, dass man sich auf gewissen Gletschern nicht anseilt und sein Ende in einer Spalte findet.

Es ist etwas über 6 Uhr, als wir nicht weit von der Hütte den Gletscher verlassen und somit die Ski nur noch wenige Meter zu tragen haben. Wir haben also vom Lysjoch weg ungefähr vier Stunden gebraucht. Wir bleiben noch in der Betempshütte mit der Absicht, anderntags Kastor und Pollux zu besuchen. Das Wetter schlägt jedoch in der Nacht um, und in dichten Nebel gehüllt ziehen wir abwärts über den Gornergletscher, Zermatt zu. Hier bildet unsere sommerliche Skitur, in Verbindung mit den ungünstigen Umständen, eine kleine Sensation. Ich bin noch ganz befangen vom Zauber der Ereignisse, und so schnell wie möglich enteile ich Zermalt, um den vielen müssigen Fragern und Komplimenten aus dem Weg zu gehen.

In Sitten waren meine Kameraden höchst erstaunt. Ich konnte ihnen nicht genug Einzelheiten erzählen, und sie nahmen lebhaften Anteil an meiner Freude. Ich war wie trunken vom Glück des Erlebten, und meine Freude schien sich auf meine Kameraden zu übertragen, es wird mir ein unvergesslicher Abend sein. Ich befand mich noch im gleichen Zustand innerlicher Befangenheit, als ich am andern Morgen meinen Kameraden die Hand drückte. Auf Wiedersehn nächstes Jahr! Noch einmal klingen die Gläser, grüssen strahlende Augen — der Zug rollt — noch tönen fröhliche Rufe, winken die Hände — behüte dich Gott, schöne Erde!

Zwei Monate später betrat ich den Ozeandampfer zur Fahrt übers Meer. Damals wusste ich es noch nicht. Ich habe zwar auf dem Lyskamm Perren der Empfindung Ausdruck gegeben, dass ich nun mein Heimatland verlassen dürfte, denn ich habe seine Schönheit in hehrstem Glänze genossen. Ich habe es in hohem Masse kennen gelernt, Land und Leute, und wahrhaft lieb gewonnen, so dass es nie seinen Ehrenplatz in meinem Herzen verlieren kann. Und trotzdem habe ich es verlassen müssen, müssen, weil ich mich scheinbar nicht in das gewöhnliche Alltagsleben einordnen konnte. Ich hätte mich ja wohl lieber sesshaft gemacht, um einen nützlichen Platz auszufüllen. Aber vielleicht muss ich immer wandern und immer diesen Stachel drängender Unruhe im Herzen empfinden. Vielleicht ist das auch nur das Resultat einer verfehlten Berufswahl und findet dennoch seine Lösung.

Mein Monte Rosa-Erlebnis hat mich auf der ganzen Meerfahrt beherrscht, es zwang mich zu Vergleichen, und da hat das Meer versagt. Es hat mir auch den Rückgrat gestärkt im Kampf um den Alltag. Hier tritt er ja schärfer und rücksichtsloser ans Licht, und es bekommt einem wohl, dass man gross und kräftig ist und dass das Selbstvertrauen in Taten wurzelt.

Am Ostersonntag fand ich mich bei strahlender Sonne am Meeresstrand und lauschte dem ewigen Rauschen, und mein Herz füllte sich mit Ruhe.Vor Jahresfrist stand ich auf dem Titlis und dieses Jahr überm Ozean. Also gehen meine kühnsten Kinderträume in Erfüllung, und ich lerne die Welt kennen. Damit kommt ja vielleicht auch die Ruhe.

Zurzeit brennt aber ein Flämmchen in meiner Brust, das manchmal hell auflodert und das ich lieber löschen möchte. Es sind die Rocky Mountains einschliesslich Alaska mit dem fast 7000 m hohen Mount McKinley. Aber das Gebiet ist ungeheuer gross, und die Stützpunkte sind sehr gering.

Waller Kiener.

Denver, Colorado, den 6. Januar 1925. Mein lieber Freund!

Fast unfassbar erscheint mir, dass Dein Brief vom Juni 1923 stammt. Zwar hat er mich letzten Sommer drei Monate durch die Colorado Rockies begleitet, und ich glaubte sicher, Musse zu finden, um Dir zu schreiben. Es solile aber doch nicht sein.

Anfangs Juli bin ich nach Denver gekommen, um wieder ein bisschen Gottesluft zu atmen und die Berge zu erleben. Wohl war die Fahrt westwärts ungemein spannend, wohl leuchteten die Berge in glühenden, wundervollen Farben. Im Herzen aber schmerzte eine Enttäuschung — es fehlten das Silber, Schnee und Eis, und kühne, ausgeprägte Formen.

Dann wurde rasch ein Motorrad angekauft, und Sonntag für Sonntag fuhr ich hinaus über Hügel und Wälder. Als der Winter mit Macht ins Land hereinbrach, hatte ich schon einen ziemlichen Überblick über die näheren Bergketten gewonnen und freute mich schon auf die prächtigen Abfahrten, die da kommen sollten. Doch daraus wurde nichts. Über den höheren Gipfeln ob der Waldgrenze haust als wilder Geselle der Wind und hält alle diese Gipfel fast frei vom Schnee, er trägt ihn hinunter in den Wald, wo er als allzuweiche Masse bis in den frühen Sommer liegen bleibt. Von einer wirklich dankbaren Skifahrt ist kaum irgendwo die Rede.

Anfangs Juni habe ich dann meine Siebensachen zusammengepackt, um auf die Wanderschaft zu gehen. Ich wollte einige Zeit den Rockies widmen und dann an die Westküste ziehen. Aber die Berge hier fesselten mich so, dass ich länger verweilte, als ich dachte. Dann holte mich das Schicksal ein, drunten in New Mexico, in Form eines schweren Absturzes, an die dreissig Meter über eine fast lotrechte Wand. Dem folgten schwere Fiebertage im Indianerspital der Navajo und eine Fieberfahrt zurück ins Bergland Colorado. Es währte eine gute Zeit, bis alles vorüber war. Ungemein reich ist aber die Fahrt an Erlebnissen, so reich, dass ich noch jetzt nicht imstande bin, sie alle zu ordnen.

Manchmal aber am späten Lagerfeuer, wenn das letzte Licht an den Bergspitzen schon längst erloschen war und die Einsamkeit schwer auf der Seele lastete, sind meine Gedanken fast nicht losgekommen vom schweizerischen Bergland und von so manchem, wackeren Kameraden. Öfters habe ich unserer gemeinsamen Fahrt auf den Turm gedacht, ein wackerer Kamerad am Seil, und ich wäre nicht so abgestürzt am Shiprock. Jetzt habe ich ein paar Freunde, mit denen ich gerne in die Berge gehe, und dies ist ja die einzige Freude in diesem herz- und seelenarmen Lande.

öfters habe ich Deine Briefe durchgelesen, und es ist mir immer eine Freude, von heimatlichen Leuten und Bergen zu hören. So ist es auch, wenn ich « Die Alpen » erhalte, es liegt darin ein wärmerer und tieferer Lebensquell, als er hier armselig aus Gefühlen spricht.W. K.

Lincoln, Nebraska, 1. Januar 1930. Mein lieber Freund und Bergkamerad!

Im Fache für unerledigte Briefe finde ich den Deinen, und zu meinem grössten Erstaunen ist derselbe datiert vom Februar 1925. Es scheint mir fast unmöglich, dass schon fünf Jahre verflossen sind. Seither mag sich manches verändert haben.

Wahrscheinlich habe ich Dir Mitteilung gemacht von dem Unglück, das mich betroflen hat. Wenigstens schien es damals ein Unglück zu sein, und heute kommt es mir fast vor wie das Gegenteil. Allerdings sind meine Füsse verkrüppelt und meine Finger verstümmelt bis auf einen, und das ist schmerzlich und bitter, aber das hat mich gewaltsam aus dem ohnehin ungeliebten Handwerk herausgezwungen, um mein Leben ganz neu anzufangen. Ganz? Mir als Fremdem im fremden Lande schien es so. Klägliche Aussichten eröffneten sich mir, und ich wählte den Weg zurück zur Schule. Heute bin ich Student der Botanik an der Staatsuniversität in Nebraska und habe bereits vier Jahre Studien hinter mir. Dieses Jahr bin ich als Assistent angestellt worden. In weiteren drei Jahren hoffe ich mir den Doktorhut erworben zu haben, um Forscher zu werden.

Die Sommerferien finden mich jeweils im Dienste der Regierung als « Ranger » im Rocky Mountain National Park im Staate Colorado. Dort ist es meine Aufgabe, über Wald und Flur zu wachen und die vielen hundert Besucher über die Natur aufzuklären. Zudem habe ich dort oben meine spezielle Forschungsarbeit begonnen, nämlich das alpine Pflanzenleben. Diese Sommer inmitten einer schönheitsvollen Bergwell und glücklichen Betätigung sind allemal grossartige Zeiten.

Erstaunlicherweise bin ich jetzt das fünfte Jahr am gleichen Ort und an der gleichen Tätigkeit, gewiss ein zwingender Beweis, dass ich nun endlich aufs richtige Geleise gefallen bin. Obschon ich ungemein streng arbeite und meine Arbeitsstunden täglich viele, viele sind, so möchte ich doch keines dieser Jahre mit einem früheren vertauschen, liegt jetzt doch ein Reichtum in meinem Leben, den ich früher nie gekannt habe.

Nach Wissen habe ich immer gedürstet, und jetzt, wo ich es in vollen Zügen einnehme, macht es mich glücklich.

Körperlich habe ich fast alle Hinderungen überwunden oder überwinden gelernt, und gerade im Zeichnen habe ich mir schöne Anerkennung erworben.

Finanziell geht es mir ordentlich, ich verdiene nun sogar mehr Geld in meiner Uberzeit als früher in der Hauptzeit. Ich habe mein Gehalt als Ranger und verkaufe zugleich Elfenbein und Holzschnitzereien, die ich aus dem Berner Oberland kommen lasse. Ich gebe auch Vorträge und photographiere, um Bilder und Diapositive zu verkaufen. Natürlich sind auch meine Ausgaben reduziert, am gewöhnlichen Leben der Studenten beteilige ich mich gar nicht. Immerhin habe ich ein Automobil, aber das ist hierzulande ein Gebrauchsgegenstand und hauptsächlich für den Naturforscher nötig.

Aus diesem « Vogelblick » über mein Leben und meine Tätigkeit kannst Du gewiss auch begreifen, dass mir die Zeit unmerklich unter den Händen zerrinnt. Ich kann alles zusammenfassen in zwei Worte und sagen: Es ist eine fruchtbare und glückliche Zeit.VV. K.

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