Das Inferno des Gornergletschers
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Das Inferno des Gornergletschers

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Horst H. Ther, Ulm

Bilder 25 bis 27 Ein fahler Junimorgen war heraufgezogen. Über den gewaltigen Gletschermassen hing ein Ungewisser Himmel. Kalt und unnahbar ragten die eisgepanzerten Berggiganten aus dieser urigen Landschaft.

Ich erinnerte mich des gestrigen Abends, der als ein Modell für Meister Dante sich vollkommener nicht hätte präsentieren können: Da stand der Berg Edward Whympers wie ein Phantom. Da drangen Strahlenbündel aus dem Wolkengebrodel, fielen auf den graublauen Strom des Gornergletschers gleichsam wie auf Styx, den Fluss zur Unterwelt.

Dass wir trotzdem zum Adlerpass aufbrachen, erscheint mir heute geradezu grotesk. Aber damals hatten wir uns dessen Traversierung in den Kopf gehämmert, nachdem wir hier schon mehrmals gescheitert waren. Zwei Amateure auf Ski in dieser Urlandschaft, die auf uns nicht weniger re-spekteinflössend wirkte, während die Berufenen in der Hütte nicht die geringsten Anstalten zum Aufbruch zu unternehmen trachteten.

Ich kenne den Weg über den Adlerpass, als wäre ich ihn schon hundertmal gegangen. Ich bin ihm mit dem Finger nachgefahren auf der Schweizer Landeskarte.Vom Gornergrat und von der Monte-Rosa-Hütte durch die Eisregionen des Gorner- und Findeingletschers hinauf über den steilen Hang des Adlergletschers zum Adlerpass. Ich würde ihn nicht verfehlen, den Weg durch diese arktische Öde; mochten Nebel, Sturm und Schnee hereinbrechen über die letzte Etappe der Haute-Route. So war ich zuversichtlich, dass es uns endlich gelingen würde, den heissersehnten Adlerpass zu erobern und von dort über den Allalingletscher zur Britanniahütte zu gelangen.

Es war fünf Uhr früh.

Die Rucksäcke standen bereits draussen auf der Bank, die die Wand der Monte-Rosa-Hütte umsäumt. Körperlich fühlte ich mich unbehaglich, und das Frühstück wollte nicht so richtig munden.

Gestern waren wir kurz vor der Signalkuppe gescheitert, tags zuvor am Jägerhorn. Uns wollte einfach nichts gelingen. Deshalb trieb mich das Unterbewusstsein an, wenigstens den Adlerpass zu traversieren, koste es, was es wolle! Schliesslich befanden wir uns im Herzen der Monte-Rosa-Gruppe, und nur Wotan weiss, ob und wann wir wieder einmal in diese Gegend kommen.

Ein erhebendes Gefühl, heute die einzigen zu sein in dieser Welt aus Eis und Fels, unsere Spuren zu ziehen über endlose Gletscherflächen, zu wissen, dass uns niemand folgen würde als der Wind, der den Schnee vor sich her trieb, der die Linie unserer Spur hinter uns bald verweht haben würde. Ich kannte den Weg über Plattje hinauf zum Monte-Rosa-Gletscher, über die groben Blöcke der Moräne, die, von tiefem Neuschnee überzogen, steil emporzieht.

Kein Laut war zu vernehmen, nicht der geringste Luftzug regte sich. Eine bedrohliche Stille herrschte dort oben am Monte-Rosa-Gletscher mit seinen gewaltigen grünschillernden Eisbrüchen.

Obwohl der Himmel im Westen sich immer mehr verdüsterte und die eisgepanzerten Berggiganten Matterhorn und Dent Blanche bereits ihre stolzen Häupter verschleiert hatten, war ich vermessen genug zu glauben, dass unser Unternehmen gelingen würde.

So zogen wir hinauf durch diese schweigsame, eisige Wildnis gegen die Begrenzungsrippe, die den Gornergletscher vom Monte-Rosa-Gletscher trennt. Den Übergang zu den weiten Firnflächen westlich des Weissgrates würden wir souverän bewältigen, das wusste ich. Als wir vor zwei Tagen das stolze Jägerhorn vergeblich berannten, hatten wir diese Rippe überquert.

So legten wir unsere Spur in den hohen Hang, der sich konturlos hinaufschwang in die Eismassen des Monte-Rosa-Gletschers. Das schien sich zu keiner Pilgerfahrt in die gleissende Helligkeit eines kristallklar heraufziehenden Tages zu entwickeln, wohl eher zu einer Fahrt in den Hades. Denn einen Tag konnte man das nicht nennen, was da am Horizont heraufzog. Es herrschte das Zwielicht vor dem aufziehenden Unheil.

Meine dumpfen Ahnungen schienen Realität zu werden, als wir den Scheitel der Rippe erreichten, die uns bisher die Sicht zum oberen Gornergletscher, der uns den Weg zum hohen Adlerpass weisen sollte, versperrt hatte. Nichts war mehr zu erblicken von unserem langersehnten Ziel. Über den riesigen Gletscher peitschten im Gefolge von rasenden Wolkenfetzen die Schneefontänen. Nur mehr durch einen Schleier waren hoch oben die eisstarrenden Bastionen des Nordend zu erblicken. Da berannte uns auch schon der Sturm, der bisher noch seinen eisigen Atem angehalten hatte, mit brutaler Gewalt, um uns den Weitermarsch gründlich zu verleiden. Er kam aus der Tiefe des Gornergletschers heraufgestossen, überwarf uns mit Wolken von feinkörnigem Schnee, dass wir zu ersticken glaubten. Das Fixieren der Ski am Rucksack war ein Kampf mit den Böen, die uns die Latten auf Nimmerwiedersehen zu entreissen drohten. Das Seil, an dem wir uns angebunden hatten, stand wie ein gespannter Bogen im Raum. Aber wir konnten und wollten nicht umkehren. Noch konnte man die schwarzen Konturen des Stockhorns erkennen, dessen Seilbahnstation wir auf jeden Fall erreichen wollten; wenn uns schon der Adlerpass wieder durch die Lappen gehen sollte, dann hätten wir wenigstens das Stockhorn traversiert. Also überkletterten wir die verreiften Felsen der Rippe und stiegen auf die andere Seite hinunter, wo wir die Ski wieder anschnallen konnten und zum Gornergletscher hinausquerten. Hier unten, am Rande der Gletscherwölbung, schien die Wucht des entfesselten Sturmes allmählich zu verebben. Dafür begann es lautlos und immer stärker zu schneien.

Da ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte, verfolgten wir den wenig geneigten Gletscher nördlich der Begrenzungsrippe in westlicher Richtung bis zu einer Höhe von etwa 3000 Meter. Ich wusste, dass dort hausgrosse Felstrümmer umherlagen, die der Gletscher im Laufe der Jahrhunderte abgeladen hatte. Einer von diesen « Su-perfindlingen » würde uns vielleicht Unterschlupf gewähren, so lange wenigstens, bis wir in einer Atempause des Wütens der Elemente zur letzten Attacke blasen könnten. Und tatsächlich - als wäre er für uns reserviert worden - lag da ein gewaltiger Granitblock auf dem Toteis am Rande des Gletschers, der sich in Anbetracht unserer etwas prekären Situation geradezu als eine komfortable Herberge anbot. Das war vielleicht ein Pilz aus Stein, der sich etwas unförmig und duckmäu-serisch im Eis verkrallt hatte, unter dessen ausladendem Schirm man sich relativ gastlich aufgenommen fühlte. Zwar konnte man sich nur sitzend oder robbend darunter aufhalten; aber immerhin, man fühlte sich im Trockenen und Windschatten, und so war ich der Meinung, dass wir hier schon eine Zeitlang ausharren könnten, vermummt zwar mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Kleidungsstücken, denn geheizt war diese Kleinstwohnung nicht. So sassen wir zusammengekauert auf den Rucksäcken unter diesem Pavillon und harrten der Dinge, die da vielleicht doch noch positiv auf uns zukommen sollten. Draussen schneite es, wie ich es um diese Jahreszeit noch nie erlebt hatte, und manchmal verirrte sich ein Windstoss in unsere Behausung. Man konnte förmlich beobachten, wie der Schnee sich anhäufte und, unterstützt vom Wind, wuchs und wuchs, dass mein noch vorhandener Optimismus allmählich in Besorgnis überging, ob wir überhaupt irgendwie hinunterfinden würden. Nein, das war kein Schnee, was da vom Himmel fiel; das war ein weisser Vorhang, der herabgelassen wurde! Obgleich erst g Uhr vormittags, hatte ich mir den Adlerpass schon lange aus dem Kopf geschlagen, und auch von der Traversierung des Stockhorns zum Gornergrat war ich nicht mehr so recht überzeugt, obwohl von hier aus nur gute 500 Meter Höhenunterschied zu überwinden waren, was bei besserem Wetter überhaupt kein Problem gewesen wäre. So stierten wir wortlos hinaus in dieses Inferno und hofften auf lichte Momente, auf dass unser Enthusiasmus frische Impulse gewänne. Hin und wieder verliess ich das schützende Dach, das man nicht mehr als wasserfest bezeichnen konnte, weil es überall so still vor sich hin tropfte. Aber es half alles nichts, der Schnee fiel und fiel, und dort, wo ich den Gornergletscher vermutete, stand die weisse Wand des undurchdringlichen Vorhangs aus Wolken und Schnee. Das liess sich nun einmal nicht wegsuggerieren, so sehr man auch in dieses Inferno hineinhypnoti-sierte. So hockte ich mich wieder unter den kalten Pilz, den ich allmählich zu hassen begann, um weiter auszuharren und zu warten. Unsere einzige Waffe, die wir noch hatten, war sinnlos geworden. Es war die Zeit, die bedrohlich verrann, i o Uhr, i i Uhr, 12 Uhr. Draussen schien alles im Schnee zu versinken, und es blieb uns nichts anderes übrig, als die Flucht talwärts und auf diese Weise wenigstens das nackte Leben zu retten. Die einzige Möglichkeit des Abstiegs sah ich bei diesen Verhältnissen in der steilen Seitenmoräne des Gornergletschers, die gewissermassen die Brücke schlug zu den sicheren Talschaften. Denn weder der Rückzug über die Begrenzungsrippe noch der Abstieg durch den Eisbruch des oberen Gornergletschers kam dafür in Frage. So tasteten wir uns westwärts durch dieses Inferno, vorbei an stumm daliegenden Findlingen, die dicke Schneekappen trugen. Man musste den Instinkt eines Spürhun-des besitzen, um sich hindurchzumanövrieren. Wie wankende Schneemänner torkelten wir der sich unwirklich aus dem Nebel herausschälen-den, gleichsam einen Dachfirst bildenden Moräne entgegen, deren Flanken sich immer jäher in der wolken- und schneeerfüllten Tiefe verloren. Der Versuch, sich seitlich in der steilen Flanke schräg abwärts treiben zu lassen, wurde alsbald aufgegeben. So wühlten wir uns durch den tiefen Neuschnee bis auf den steinigen Grund, dass es nur so krachte und ich ein paarmal über verbor- gene Felstrümmer hechtete. Die blauen Flecken und Schrammen, die ich mir dort holte, glaube ich manchmal heute noch zu spüren. Da gab es nur eines: Ski abschnallen und vorsichtig auf dem schmalen First balancieren, der sich alsbald bedrohlich steil in den Nebel hinabschwang. Das war der Kampf zweier Artisten mit dem Gleichgewicht auf dünnem Seil, hoch über dem dräuenden Abgrund, den man allerdings nur vermuten konnte, da die Sicht bei fünf Meter haltmachte.

Es ist uns heute noch ein Rätsel, wie wir durch dieses Inferno aus Sturm, Schneetreiben und Nebel auf den Boden des Gornergletschers gelangten, ohne dabei Kopf und Kragen zu verlieren. Doch ganz unverhofft wurde das Gelände flacher. Aus dem Sturm war hier unten ein leises Lüftchen geworden, der Schnee kam nicht mehr waagrecht daher, sondern fiel in schweren nassen Flocken senkrecht vom Himmel. Erleichtert warfen wir Ski und Rucksäcke ab und setzten uns auf einen Felsblock. Wie zum Hohn lichtete sich der dicke Wolkenvorhang etwas, und wir sahen weit hinaus auf den zernarbten Gornergletscher, der sich unübersehbar dem Mattertal entgegenwälzte wie ein erstarrter Lavastrom...

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