Das Seenparadies der Val di Campo
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Das Seenparadies der Val di Campo

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Mit 3 Bildern ( 42—44Von Eugen Wenzel

( Zürich ) Mit der Einrichtung des Rifugio Saoseo auf Lungacqua der Val di Campo hat die Sektion Bernina im Jahre 1945 einen Stützpunkt geschaffen, der uns ein zufolge seiner Abgelegenheit noch wenig bekanntes Gebiet erschliesst. Das Tal ist von einem Kranz beachtenswerter Berge umschlossen, welche sowohl im Winter auf Skifahrten als auch im Sommer auf lohnenden Klettertouren eine reiche Auswahl von Besteigungsmöglichkeiten bieten. Daneben ist dieses Puschla.ver Seitental mit Naturschönheiten gesegnet, wie sie einem in solcher Fülle nicht oft dargeboten werden.

Als grösstes Seitental der Val Poschiavo entwässert die Val di Campo die Hochmulde am Violapass, jener typischen Ausbuchtung im östlichen Puschlaver Grenzkamm und mündet unterhalb Sfazù in das vom Berninapass kommende Haupttal. Ein prächtiger, im unteren Teil vorwiegend aus Fichten bestehender, weiter oben von Arven und Lärchen gebildeter Mischwald reicht, das Tal auskleidend, bis zu einer Höhe von 2200 Metern hinauf. Sind es im unteren Talabschnitt die hellgrünen Wiesenflächen, welche diesen Wald lieblich unterbrechen, so sind es im oberen Teil eine Anzahl reizvoll gelegener Seen, die ihm sein besonderes Gepräge geben.

Gelegentlichen Besuchern des Tales ist vornehmlich der Lago di Saoseo bekannt, dessen sonderbar trübes, türkisfarbenes Wasser eine eigenartige Seltenheit darstellt. Je nach der Tageszeit und dem gewählten Standort widerspiegelt dieser ganz verträumt im Wald liegende See einen Farbton, der in unbeschreiblich mildem Kontrast zum abgestuften Grün der Arven und Lärchenbäume steht. Nebst ein paar unscheinbaren, klares Wasser führenden Bächlein muss der Saoseosee von einem unsichtbaren Zufluss gespiesen werden, welcher ihm vom Durchfluss irgendeiner unterirdischen Gesteinsschicht das getrübte Wasser bringt. Sonderbarerweise klärt sich der See nicht, obschon man annehmen dürfte, dass sich die im Wasser enthaltenden Bestandteilchen allmählich setzen müssten.

Wann immer und zu welcher Jahreszeit man an den Lago di Saoseo gelangen mag, an seinen stillen Ufern wird man gerne verweilen und das wechselvolle Farbenspiel bewundern. Ob dies im Juni am schönsten sei, wenn sich die rotglühenden Alpenrosen im Wasser spiegeln, oder im Hochsommer, wenn sich hellrosa leucbtende Weidenröschen vom Wind geschaukelt gegen den See neigen, oder im Spätherbst, wenn sich die am Ufer stehenden Lärchen goldgelb gefärbt haben, das muss vom Einzelnen selbst entschieden werden. Auf jeden Fall sollte man nicht versäumen, anschliessend an so einen Besuch dem von der Alp Saoseo ostwärts empor führenden Alpweg zu folgen, um nach einer halben Stunde zu drei kleinen Seelein zu gelangen, welche direkt über dem Saoseosee stehen und ein Idyll für sich bilden.

Neben dem Lago di Saoseo ist der weiter oben an der Waldgrenze liegende Lago di Val Viola wohl der bekannteste und grösste.Von Lungacqua ist er auf dem Passweg bequem in einer Stunde zu erreichen. Der aufmerksame Wanderer wird dieses Wegstück allerdings nicht in einem Zuge hinter sich bringen wollen und vorher rechts abschwenken, um im Walde versteckt auf zwei weitere Seen zu stossen. Die Eigentümlichkeit des unteren dieser beiden Waldseen besteht darin, dass er wohl einen sichtbaren Zufluss, jedoch keinen solchen Abfluss hat. Da diese Seen auf dem grobblockigen Grund eines alten Bergsturzes lagern, ist die unterirdische Absickerung leicht erklärlich. Beim Einsetzen der Schneeschmelze in den oberen Regionen des Tales füllt sich das Becken gelegentlich sehr rasch. Wer um diese Jahreszeit, etwa in der zweiten Hälfte Juni, den See aufsucht, wird ihn nicht nur doppelt so gross wie im Herbst vorfinden, er wird vielleicht dank dem wunderbar klaren Wasser einige Meter unter dem Wasserspiegel « blühende » Soldanellen sehen können, Blumen, welche, kaum erblüht, überschwemmt und unter Wasser gesetzt worden waren. Auch zur Sommerzeit, wenn der See schon lange wieder um viele Meter abgesunken ist, erfreut er den Beschauer durch wundervolles Farbenspiel.

Am nächsthöheren Waldseelein wird man gerne den kleinen Buchten folgen, wo sich auf possierlichen Inselchen hohes Gras emporreckt und auf dem dunkelblauen Grund schwarze Stämme versunkener Bäume liegen. Dort wo sich der vom Violasee herabkommende Bach in weiss schäumenden Sprüngen in das spiegelglatte Seebecken ergiesst, wird man sinnend verweilen und das ergötzliche Schauspiel betrachten. Wer sich verleiten lässt, dem munter sprudelnden Bach zu folgen, wird es nicht bereuen. Er wird sich seinen Weg zwar durch wild wuchernde Alpenrosenstauden bahnen müssen, dafür aber mit einer fast unberührten Waldlandschaft in Berührung kommen.

Eine wahre Offenbarung ist der Lago di Viola. An seinem Nordufer, wo die Bäche über flache Dürrgraswiesen einfliessen, stehen hohe Lärchen. An der Nordostseite reichen die Alpenrosenstauden bis zum Seespiegel hinab. Das südöstliche Ufer, ein jäh abfallender Hang, ist von Arvenbäumen geschmückt, die sich im dunkeln Wasser spiegeln und ihre Schatten in den tiefblauen See werfen. In der südlichen Bucht dringen die mächtigen kristallinen Blöcke des Bergsturzes in den See ein und geben dieser Uferlandschaft ein wildes Aussehen. Doch aus den feinsten Spalten dieser Blöcke leuchten im Frühling hellviolettfarbene Primeln hervor und später im Jahr blühen allenthalben Alpenrosen zwischen den Steinen, wodurch die grobe Eintönigkeit der Blockhalde wohltuend unterbrochen wird.

Dem westlichen Ufer ist eine von schönen Arven besetzte Insel vorgelagert, die im Vorsommer bei hohem Wasserstand nur über halb versunkene Baumstämme zu erreichen ist. Um die mannigfaltigen Schönheiten dieses herrlich gelegenen Bergsees aufnehmen zu können, müsste man nicht nur zu verschiedenen Tageszeiten, sondern mehrmals im Jahresablauf an seinen Ufern weilen können.

Doch der Seen ist kein Ende. Wird eine Tagestour gegen den Passo di Val Viola fortgesetzt, so wird man im hügeligen Gelände des Passeinschnittes mehrere kleine Seelein finden. Der westlichste unter ihnen liegt in einer sumpfigen Mulde, welche im Juli ganze Flächen von Wollgras aufweist. Auch auf der italienischen Seite des Passes kommt man an idyllisch gelegenen Berg- Die Alpen - 1951 - Les Alpes9 seen vorbei, an deren Ufern, Schneeflecken ähnlich, das Wollgras blüht. Am östlichen Passeinschnitt stösst man auf ein ganz im Geröllkessel verstecktes Seelein, das ohne sichtbaren Zu- und Abfluss ein verlassenes Dasein fristet. Aber an seinen steil anstrebenden Ufern haben Murmeltiere ihre Behausungen eingerichtet, so dass die Stille manchmal durch einen Warnungspfiff unterbrochen wird.

Im Abstieg durch die Val Viola, das oberste Teilstück der Val di Campo, sieht man plötzlich wieder ein reizendes Seelein als blaues Auge aus dem wilden Chaos von Steinblöcken heraus leuchten. Es ist der Lago del Dügüral. Der See liegt abseits vom Weg, und wer in den Genuss seiner malerischen Abgeschiedenheit kommen will, muss über grosse Blöcke turnen.

Mit einem Abstecher in das Alpgelände von Dügüral, das sich in einer Terrasse unter dem Verbindungsgrat des Corno di Dosdè und der Cima di Saoseo hinzieht, kann man die beiden Dosdè-Seen besuchen und wird von der Schönheit dieses weite Aussicht bietenden Ortes beeindruckt sein. Vielleicht wird gerade ein die Wasseroberfläche kräuselnder Wind aufspringen und das Spiegelbild des Corno di Campo und Paradisinomassivs auflösen, doch wird man gleichwohl eine Stunde in der stillen Einsamkeit dieses Bergsees verbringen wollen.

Man wird in der Val di Campo keine Bergtour unternehmen können, ohne neue Seen zu entdecken. Denn auch die benachbarten italienischen Hochtäler sind reich mit solchen bedacht. Aber auch auf der Schweizer Seite hat man mit den Seen der eigentlichen Val di Campo noch lange nicht alle kennengelernt. Am Corno Mürisciola wird man südwestlich des Gipfels von zwei hübschen, klaren Seen überrascht, welche in grüne Alpwiesen gebettet einen reizenden Anblick bieten. Während sich im oberen, kleineren, die Gletscher der Cambrena- und Palügruppe widerspiegeln, ist auf der glatten Fläche des unteren das umgekehrte Bild der stolzen Felstürme der Piz di Sena und Piz del Teo zu bewundern. Auch im hintersten Winkel der Val Mera liegt ein tiefblauer Bergsee, an dem man bei einem Besuch des Corno di Campo vorbeikommt. Und ein paar der schönsten Seen des Gebietes schmücken den obersten Talkessel der Val del Teo, die zudem den Vorteil haben, auf einem Fusspfad leicht erreichbar zu sein.

Ein sich mehrere Tage im Rifugio Saoseo aufhaltender Besucher der Val di Campo wird es sich nicht nehmen lassen, auch den Bächen zu folgen. Auf solchen weglosen Wanderungen wird er beglückende Entdeckungen machen. Da und dort wird er auf kleine von unterirdisch zufliessendem Schmelzwasser gebildete Waldseelein stossen oder an natürlich gestauten Bacherweiterungen vorbeikommen, deren Wasser in unbeschreiblichen Farbtönen zwischen den Ufersträuchern sichtbar werden und ihn in eine wahre Märchenlandschaft versetzen.

Selbst auf die Gefahr hin, durch diesen Hinweis auf das Seenparadies der Val di Campo die heute noch einzigartige Natürlichkeit in absehbarer Zeit durch leere Lunchsäcke, Stanniolpapier und Zigarettenschachteln verschandelt zu sehen, muss auf dieses Puschlaver Tal aufmerksam gemacht werden.

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