Das Tracuitjoch
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Das Tracuitjoch

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Die erste touristische Überschreitung dieses zwischen Weißhorn und Diablons tief eingerissenen Joches wurde am 20. August 1859 von Herrn J. J. Weilenmann unternommen. Dieser kühne Alpenwanderer hatte sich die damals noch ungelöste Aufgabe gestellt, dem Turtmangletscher bis zu seinem obersten Firnplateau folgend, den vom Weißhorn herab sich senkenden Grat zu übersteigen und auf diesem Wege den Hintergrund des Eifischthals zu erreichen. Um für die Überschreitung des Joches möglichst viel Zeit zur Verfügung zu haben, bezog er Nachtquartier in einer einsamen Schäferhütte an den Hängen des Frilihorns in bedeutender Höhe über dem untersten Becken des in zwei gewaltigen Abstürzen vom Bieshorn herab sich senkenden westlichen Armes des Turtmangletschers. Am andern Morgen erkletterte er die gewaltige Felsenmauer, welche den untersten Gletschersturz dominiert, und stieg an den steilen Hängen der Diablons empor, bis er, die oberen Séracs vermeidend, die dritte Gletscherterrasse erreicht hatte, über die er mühelos zur Jochhöhe gelangte. Mit großer Spannung betrat er den Rand der Scharte; wußte er doch nicht, ob die Beschaffenheit des westlichen Absturzes einen Abstieg nach dem Eifischthal erlaube. Doch ein Blick in die Tiefe genügte, ihn von der gänzlichen Gefahrlosigkeit des Abstieges zu überzeugen, den er mit Leichtigkeit in der kurzen Zeit von drei Stunden bewerkstelligen konnte, während der Aufstieg zur Jochhöhe sechs Stunden erfordert hatte.

In dem ersten Bande seiner gesammelten Schriften hat Weilenmann diesen Übergang auf die ihm eigene packende Weise geschildert. Seither aber ist das Tracuitjoch1 ) in der alpinen Litteratur nicht mehr besprochen worden und gehört noch heute zu den seltener begangenen Hochpässen, so daß es wohl angezeigt sein mag, die Leser des Jahrbuches auf dieses allzuwenig beachtete Gebiet aufmerksam zu machen.

Nach einer genußreichen, vom herrlichsten Wetter begünstigten Durchwanderung des Eiflschthales, von seiner Mündung bis auf die aus mächtigem Gletschercirkns emporstarreede Spitze des Roc Noir, am Fnße des Col de Duraad, entschlossen wir ans — meine Frau und ich — das Turtmanthal ebenfalls in seiner ganzen Länge zu begehen. Daher wählten wir zum Übergang in dieses Thal den Paß, der nach seinem obersten Firnplateau ausmündet, den Col de Tracuit, auch Col des Diablons genannt.

Am 4„ August 1897 in der Frühe verließen wir Zinal; dessen Gasthöfe, um die den ganzen Tag ein so buntes und reges Treiben herrscht, in stammer Ruh'dalagen. Es war ein Viertel nach 3 Uhr, eine gute Stunde später, als wir tags zuvor mit unserem Führer, Louis Teytaz von Zinal, verabredet hatten. Im Scheine einer Laterne stiegen wir den steilen, rauhen Wald hinauf, der unmittelbar iber dem Borfe den Fuß de.r Diablons bedeckt. Nachdem wir, in gerader Richtung emporsteigend, die Höhe von ungefähr 2000 Meter erreicht hatten, biegt der auf der Karte nicht gezeichnete Weg nach Süden und zieht sich an hoher, aus- fi schreitend, gegen den nördlich vom Roc de la Vache ( 2587 m ) sich herunterstürzenden Wasserfall. Diesen zur Rechten lassend, gelangten wir um halb 6 Uhr zu den in kleiner Mulde liegenden Hütten von Combasana ( 2582 m ), wo die Hirten gerade mit Melken beschäftigt waren. Noch ein paar Schritte und man betritt den Boden eines von hohen Felsen umschlossenen Kessels, von dessen Wänden da und dort kleine Gletscherzungen und Schueeflecken hinunterhangen, deren Wasser sich zu dem ziemlich starken, oben erwähnten Bache vereinigen, der vom Nordfuß des Roc de la Vache in lustigen Sätzen zu Thal sich stürzt. Zur Rechten erhebt die Pointe d' Arpitetta ihren aus gewaltigen Felstrttmmern aufgetürmten Gipfel ( 3140 m ), durch einen zackigen Grat mit dem vom Weißhorn zum Tracuitjoch abfallenden Kamme verbunden. Dieser Grat, in dessen Mitte der Gipfel ( 3216 m ) sich erhebt, trägt auf der Siegfriedkarte den Namen Crête de Millon, den auch Conway ihm beilegt, während der officielle Tarif General des Alpes Valaisannes et Vandoises diesen Namen dem 3698 Meter hohen, auf der Karte ungenannten Gipfel beilegt, den Conway Tête de Millon menât, und der als stark vergletscherte Kuddc zwischen dem Tracuitioch und dem Weißhorn sich erhebt. Zur Linken endlich senkt sich der von abenteuerlichem Felstürmen gekrönte Grat der Diablons ( 3612 m ) herunter. Über magere Schafweiden ging es ziemlich steil aufwärts, rechts an dem untersten Grattarmi der Diablons vorbei, dann über Schneefelder und Geröll dem Joche an, das, scheinbar ganz nahe, über uns im scharf gezackten Kamme sich öffnete. Aber der Aufstieg über die von wild durcheinander geworfenen Blöcken übersäete, gegen die Paßhöhe jäh ansteigende Halde verlangte viel Zeit and Vorsicht, so daß es 9 Uhr warde, bis wir durch die Scharte den hinter ihr aufgetürmtem Firawall betraten, von welchem wir hinausschanten in eine ganz andere, aber uns nicht fremde Welt; waren es doch die Ens wohlbekannten Berner Berge vom Balmhonn bis zur Jangfram, die za uns herübergrüßten. Aber so schön dieser Ausblick nach Norden ist, so mußten wir uns doch immer wieder dem überwältigenden Bilde zuwenden, das schon während des Aufstieges uns gezwungen hatte, stille zu stehen, aber non erst recht in seiner ganzen Erhabenheit sich offenbarte.

„ Ein Gebirgscirkus von seltener Großartigkeit und Wildheit, schreibt Weilenmann, wie die Alpen keinen zweiten aufzuweisen haben mögen, erschloß sich dem Auge. Biesenhoch ragt sie auf zum blauen Äther, die Schar stolzer Gestalten, die ihn bildet. Hier mit den Diablong und dem Weißhorn beginnend, woran das Rothorn sich reiht, erreicht jener mit Gabelhorn und Dent Blanche seine größte Tiefe und- schließt, nordwärts umbiegend, mit dem Grand Cornier und der Pigne de l' Allée. In der Mitte des Gipfelrundes, durch einen Firnkamm mit dem Rothorn verbunden, taucht schwarzgezackt und düster der Besso auf, in zwei nahezu gleichgroße Gletscherbecken es teilend, das westliche aber zum Teil verdeckend. Wer zuerst von den tiefen Wiesengründen von Zinal ihn gesehen, wo .er so imposant und drohend entgegentritt, erkennt ihn kaum mehr, so bescheiden duckt er sich vor den Gewaltigen, die erdrückend ihn umringen. Rings von den schneebehangenen Wänden starren Gletscher hinab ins Thal, in ewigen Winter seine hintersten Gründe begrabend.

„ Die glanzvollste Partie des Bildes, daran mit Bewunderung das Auge haftet, ist die zunächst vor dem Schauenden furchtbar hoch sich aufwerfende Gebirgsmauer, die im Weißhorn und Rothorn gipfelt, an deren Fuß des Weißhorn- und Mominggletschers blaudurchkliiftete Eisterrassen schimmern. Leiser Dufthauch umflort die himmelhohen Wände des Weißhorns und mildert in etwas den grellen Kontrast zwischen dunkelm Fels und blinkendem Schnee. In magischem Zwielicht liegen die Gletscher, helle Lichtreflexe jagen die bläulichen Schatten und treiben mit ihnen ihr zauberisches Spiel.... "

Eigentümlich ist der Anblick des Matterhornes, das sein Hauptf drohend über dem Gipfel des Gabelhorns emporstreckt, während die eisgepanzerte Dent d' Hérens hinter der Pointe de Zinal in ihrer ganzen unnahbaren Majestät erscheint. Zwischen Pigne de l' Allée und Garde de Bordon erscheint das Gipfelgewirr der Berge von Evolena, Arolla und Bagnes, über welchen in weiter Ferne, aber immer noch imposant, die Mont Blanc-Gruppe thront.. "

Nach längerer genußreicher Rast wurde gegen halb 10 Uhr auf> gebrochen. Der Führer trieb zur Eile. Nach seiner Meinung waren wir zu sehr verspätet, was wir freilich nicht recht einsahen, aber im Laufe des Tages sattsam erfahren sollten.

Ans Seil gebunden, ging es in raschem Tempo Über die hartgefrorene Schneedecke des Turtmangletschers hinunter. Doch nötigt bald der obere Gletschersturz, an dessen Rande wir anlangten, zum Einstieg in die Wände der Diablons, deren Felsen, aus brüchigen verwitterten Schiefern bestehend, keine Schwierigkeiten bieten, aber, weil gegen den Gletscher hin sehr steil abfallend, uns zwangen, zu beträchtlicher Höhe emporzusteigen. Bald sahen wir tief zu unseren Füßen die zweite Gletscherterrasse, aus der gewaltige Schrunde zu uns emporgähnten. Einen um so lieblicheren Anblick gewährten in diesem Spaltengewirr zwei tiefblaue Gletscherseelein, an deren Bande ein Radei Gemsen rasteten, aber, durch unsere Annäherung aufgeschreckt, in wilder Eile davonflohen und bald in den uns gegenüberliegenden Felsen verschwanden.

Von unserem hohen, luftigen Standpunkt aus zog namentlich das vom Weißhorn gegen das Turtmanthal Mb vorspringende Bieshorn ( 4161™ ) den Blick auf sich, dessen selten betretener Schneedom vom Col de Tracuit aus in drei Stunden ohne Schwierigkeiten zu ersteigen ist. Von ihm aus zieht sich ein Grat in nördlicher Richtung, welcher in der unbenannten, wahrscheinlich mnerstiegenen Spitze ( 3615™ ) endigt, an deren Fuß die beiden vom Biesjoch und vom Col de Tracuit herabkommenden Gletscherarme sich miteinander vereinigen.

Steil absteigend und über eine stark geneigte Schneekehle abrntschend,. gelangten wir bald auf die mittlere Gletscherterrasse, von der man zwischen dem Nordfuß der oben erwähnten Spitze ( 3615™ ) und einer ihr vorgelagerten Felsenbank auf den östlichen Turtmangletscher gelangen,. und denselben hinansteigend über das Bruneggjoch ( 3383 m ) oder da » Biesjoch ( 3549™ ) Randa in einem Tage von Zinal erreichen kann. Doch kaum hatten wir den Gletscher betreten, so nötigte uns der etwa 250 Meter hoch abstürzende untere Eisfall, abermals in die Felsen zur Linken einzusteigen. Es rückte gegen Mittag, als wir die Höhe der von dem Gipfel der Diablons nach dem unteren Absturz des Turtmangletschers sich hemiedersenkenden Felsenmaeer erklettert hatten, von der aus ein prächtiger Blick sich aufthat in das grüne Turtmanthal, ans dem die Kapelle von Gruben heraufschimmerte, und auf das in schwindelnder Tiefe, etwa 1000 Fuß unter uns liegende unterste Becken des Gletschers. Doch sollten wir bald aus mnserem ruhigen, wenn auch nicht mühelos erlangten Genießen in unliebsamer Weise aufgestört werden. Die heiße Mittagssonne brachte großartiges, aber fir sins unheimliches Leben in die vor wenigen Stunden noch in winterlicher Erstarrung uns umgebende Gletscherwelt. Von unten herauf ertönte das Rauschen der Gletscherbäche, während vom Bruneggino™ her und von den uns gegenüberliegenden Wänden der Barrhörner unaufhörlich Stein- und Eislawinen herunter-donnerten. Aber auch über uns begann es sich zu regen. Vereinzelte Steine flogen an uns vorbei in die Tiefe, Was unser bergkundiger Führer befürchtet hatte, war eingetreten.

Wir waren mittlerweile am Bande eines Couloirs angelangt, das, auf der Karte deutlich sichtbar, etwas südlich von Punkt 2501 auf den Gletscher mündet, und das^ wir hätten überschreiten sollen, um nach Durchquerung eines zweiten, dem ersten parallelen Couloirs auf eine Geröllhalde und über diese hinunter auf den Gletscher zu gelangen. Doch die von dem auf hohem Felsengesimse hoch aufgetürmten Diablons-gletscher unaufhörlich abstürzenden und das Couloir hinuntersausenden Eisblöcke und Steine erlaubten die unter gewöhnlichen Umständen keine erheblichen Schwierigkeiten mehr bietende Fortsetzung des Weges nicht. Es blieb nichts anderes übrig, als umzukehren oder einen andern Abstieg zu jauchen. Wir wählten das letztere und kletterten, dem Kamm der obenerwähnten Felsenmauer folgend, hinunter, um auf diesem freilich mißlich aussehenden Weg den tief zu unseren Füßen liegenden Gletscher zu erreichen. Anfangs ging es wider Erwarten gut. Über von oben nicht sichtbare, freilich schmale Felsenbänder und Vorsprünge hatten wir ungefähr die Hälfte des Abstieges zurückgelegt, als ein Weitergehen sich als unmöglich erwies. Nun mußten wir doch in das zur Linken tief eingerissene Couloir hinein, das zwar an der Stelle, wo wir es betraten, weniger von Steinschlag gefährdet war, dafür aber andere Schwierigkeiten bot. Namentlich ein etwa 15 Meter hoher, fast senkrechter Absturz gab zu schaffen. Da der von herabfließendem Schmelzwasser glatt gewaschene Fels auch nicht den geringsten Halt bot, blieb uns nichts anderes übrig, als einer nach dem andern am Seile uns herunterzulassen. Nach glücklicher Überwindung dieser Schwierigkeit gelang es uns mit Leichtigkeit, links aus dem Couloir hinauszukommen und über Felsen und Geröll den Rand des Gletschers zu erreichen, froh, diesen etwas abenteuerlichen Abstieg hinter uns zu haben, von dem der Führer meinte, er sei wohl noch nie gemacht worden.

Es war 2 Uhr, als wir nach kurzer Rast den völlig aperen und fast spaltenfreien Gletscher betraten, und um 4 Uhr langten wir, tüchtig durchgepeitscht von einem plötzlich über uns sich entladenden Hagelwetter, im gastlichen „ Hotel du Glacier " in Gruben an, wo wir nach echter Walliserart freundliche Aufnahme und die Pflege fanden, die man nach zwölfstündigem Marsch über Eis und Schnee gerne sich gefallen läßt. Hier verabschiedeten wir unsern tüchtigen und gewissenhaften Führer mit einem herzlichen „ Au revoir !" und wanderten am folgenden Morgen zum stillen Thal hinaus, oft zurückschauend nach seinen vergletscherten Kämmen und Kuppen, die über dunkeln Tannenwäldern im Strahle der Morgensonne blitzten und leuchteten.

Ed. Bähler, Pfarrer in Thierachern ( Sektion Biel ).

Feedback