Dent d'Hérens
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Dent d'Hérens

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Über den Nordwestgrat.

Mit Absichten auf die Dent d' Hérens-Nordwand wanderten der Australier George Finch und ich der Schönbühlhütte zu.

Am Wegrande rasteten wir und sahen uns die Matterhorn-Nordwand an. Da mir Finch die Erstersteigung der Dent d' Hérens-Nordwand vorgeschlagen hatte, so revanchierte ich mich jetzt, indem ich ihm die Matterhorn-Nordwand vorschlug. Wie schön ist es, Pläne zu machen! Wie oft habe ich welche aufgestellt, und wie selten habe ich sie ausführen können! Auch hier ist es bloss bei den zwei Entwürfen geblieben. Er sei zu alt für derartige Sachen wie Matterhorn-Nordwand, meinte der nachmalige Everest-Climber. Und dennoch war mein Plan von einem andern, ebenfalls vortrefflichen Bergkameraden und mir sehr wohl ausgedacht und bis auf zwei Stahlhelme zum Schutz gegen Steinschlag gediehen. Man möge der Jugend solche Dinge verzeihen und bedenken, dass sie Vorrechte einer phantasiereichen Tatenlust sind, welche leider durch das Alter ihr natürliches Ende findet.

So zogen wir denn weiter der Schönbühlhütte zu. Von jener Gegend aus gesehen weist das Matterhorn bei weitem nicht die wohlgefälligen schlanken Linien auf wie etwa vom Riffelberg. Das Bild ist nicht harmonisch; denn der letzte Gipfelaufschwung ist zu klein für den grossen breiten Aufbau des Berges. Während einer Besteigung der Dent d' Hérens oder von der Gegend des Col d' Hérens aus wird man diesem Urteil, dass das Matterhorn unproportioniert sei, gewiss beistimmen. Man kann es bewundern, aber man darf es nicht schön finden. Die Dent d' Hérens vom Schönbühl aus ist stolz, weiss, kalt. In einem einzigen kühnen Schwung schwingt sich der Grat von rechts her zum Gipfel, und als Kontrast zieht der wilde, sägeartige Grat vom Gipfel zum Col de Tournanche hinunter. Ware die Dent d' Hérens einige hundert Meter höher und durch die allzu hohen Senken des Col de Tournanche und Col de Lion nicht an das Matterhorn gekettet, so wäre sie unerreichbar in ihrer Art und müsste auf dieselbe Stufe wie das Matterhorn gestellt werden.

Überhaupt stehen die Gipfel der Alpen viel zu eng beisammen, und die Konkurrenz der Gipfel untereinander ist daher zu stark, als dass sie als einzelne, selbstherrliche Berge wirken könnten. Man füge einen Palast in eine engstehende Häuserreihe ein... Wie würde er verlieren 1 Man lasse einen grossen Abstand zwischen ihm und den Häusern... Wie würde er gewinnen! In den Anden Südamerikas z.B. ist kein Platz gespart, und es gibt dort Berge, die nach allen Seiten wuchtig und gross wirken. Die Jungfrau von der Scheidegg, die Dent d' Hérens vom Schönbühl wecken im Betrachter die grösste Bewunderung. Wie enttäuscht ist dieser aber, wenn er die Jungfrau von der Konkordiahütte, die Dent d' Hérens von der italienischen Seite her sieht!

Die Besteigung der Dent d' Hérens über den NW-Grat ist sehr zu empfehlen, besonders deshalb, weil man das berüchtigte, steinschlägige und zeitraubende Tiefenmattenjoch vermeiden kann.

Ich will anhand der Siegfriedkarte die Beschreibung des äusserst lohnenden und nicht sehr schwierigen Anstiegs über den Nordwestgrat hier folgen lassen, und es würde mich freuen, wenn sie der Grund und die Anleitung wäre zu einem öftern Besuche des in jeder Beziehung kraftvollen Berges.

Um 1 Uhr bei klarer Nacht von der Schönbühlhütte auf der Dent Blanche-Route absteigend, wandten wir uns, am Rande des Zmuttgletschers angelangt, dem Stockje zu. Bei Punkt 2633 kommt man zur Moräne, welche bis zu Punkt 2759 leitet. Zwischen dem Stockje und P. 2968 stiegen wir an und durchquerten das Gletscherplateau nach P. 3130. Ohne Schwierigkeit gelangten wir in die oberste Mulde des Tiefenmattengletschers, wandten uns nach links und befanden uns bald am Endpunkt einer Felsrippe, die unmittelbar zum Gipfel strebt. Es ist der Nordweslgrat, welcher vor uns nur dreimal begangen worden. Die Zahl 4 von 4180 liegt an diesem auf der Karte markierten Grate. Er stürzt aber ( wenigstens schneefrei ) viel tiefer herunter, wenn auch nicht sehr ausgeprägt, wie die Karte zeigt, und zwar bis zum Bergschrund. Da unsere erste Absicht war, in der Nordwand mit Richtung Matterhorn anzusteigen, um den zum Col de Tournanche laufenden Grat zu gewinnen und ihn in seinem obersten Teil bis zum Gipfel der Dent d' Hérens zu begehen, so wanderten wir dem Bergschrund entlang, einen guten Übergang suchend. Ich sah einen Ort, der das Überschreiten des Schrundes ohne Gefahr vor jenen Eisbrüchen gestattete, die ( über dem Worte Dent auf der Karte ) hoch am Berge hängen. Nur dort war der Übergang möglich. Es kommt aber in den Bergen öfters vor, dass ein guter und harter Wille doch durch das Auge getäuscht wird und so eine Niederlage erleidet. Mein Begleiter betrat eine hübsche weisse Schneekruste, die an der vorstehenden Oberlippe des Bergschrundes klebte. Diese Kruste schien längst Sehnsucht nach den Tiefen der Spalte gehabt und nur auf eine Gelegenheit gewartet zu haben, ihre Absicht zu verwirklichen. Das Gewicht meines Begleiters war diese Gelegenheit. Ein Versuch etwas tiefer unten misslang ebenfalls. Wir hatten eine Stunde verloren. Mein Begleiter wollte deshalb zurück, da seiner Ansicht nach der geplante Aufstieg in der Nordwand nicht mehr in Betracht kommen könne. Es war aber erst 5 Uhr morgens, der Tag sehr schön und sicher. Warum sollten wir also nicht unsere Willen friedlich vereinigt auf die erwähnte begehbare Stelle des Schrundes und den Nordwestgrat richten? Und so geschah es. Nach dem einstündigen Seitensprung überschritten wir auf sicherer Brücke die Spalte, schlugen oberhalb und längs des Bergschrundes Stufen in die Eiswand ( 45 Minuten ) und bekamen die Gratfelsen unter die Füsse.

Wir stiegen rasch höher, weil hier Steingrüsse der Dent d' Hérens wahrscheinlich sind. Ein einziger Gruss, ein kopfgrosser Stein pfiff über uns weg. Hingegen am Tiefenmattenjoch gab es gar bald ein heftiges Steinbombardement, was den Bergsteiger stets um so mehr freut, je weiter davon entfernt er ist. Wir waren schon einige Zeit geklettert, als wir plötzlich am Grat, der vom Tiefenmattenjoch zum Gipfel führt, zwei Bergsteiger sahen, die wohl von der italienischen Capanna d' Aosta heraufgekommen waren. Wir verliessen das allzu steile oberste Stück unserer Rippe und querten nach rechts hinüber, um über die letzten Felsen des schweizerisch-italienischen Grates den Gipfel zu erreichen. Die beiden andern hatten eben den Felsgrat verlassen und das nicht allzu sehr geneigte Schneefeld betreten ( auf der Karte zwischen Dent und Mont ). Sie waren einige hundert Meter schräg unter uns, als mir beim Quergang zwei Steinplatten unter den Füssen wegrutschten und in lustigen Sprüngen, weit ab von den beiden, auf die Schweizerseite hinunterhüpften. Die beiden Italiener standen still, und wir hörten sie rufen. Ich schrie ihnen zu, dass die ganze Dent d' Hérens hier hinunterpurzeln könnte, ohne sie zu treffen. Eine Zeitlang schienen sie sich zu beraten und kehrten dann um, während wir dem Gipfel zustrebten ( 10 Uhr ).

Wir hätten nun wieder denselben Weg zurückmachen können zum Schönbühl. Doch entschlossen wir uns, im Abstieg den Grat zum Tiefenmattenjoch zu benützen, auf die italienische Seite abzusteigen, in der Capanna d' Aosta zu nächtigen und über den Col de Valpelline nach Zermatt zurückzukehren. Ohne Reisepässe ( 1920 ) und beinahe ohne Speise war uns dies ein besonderer Reiz. Dieser Grat bietet dem Geübten eine nicht schwierige, aber sehr anregende Kletterei. Am Fusse eines roten Felsturmes angelangt, wandten wir uns links Italien zu und gelangten in kurzem leichtem Abstieg auf den Za-de-Zan-Gletscher. Ein gar nicht hoher Sprung über den Bergschrund löste uns von den Steinhängen der rassigen Dent d' Hérens, und in der Schneespur der beiden Italiener eilten wir rasch der Capanna d' Aosta zu. Wir waren sehr neugierig, erstens, warum die beiden umgekehrt, zweitens, ob man uns Pässe verlangen werde, und drittens, ob sie wohl noch etwas Speise für uns hätten. Richtig, sie waren in der Hütte, und zwar als einzige Gäste.

Mit finsterem Blick erwartete mich der eine im Türrahmen. Es war der Führer, ein Mann von kräftiger Gestalt. Eine Adlernase und ein langer Schnurrbart, wie ihn der Hunnenkönig Attila gehabt haben mag, verliehen seinem braungebrannten Gesichte eine gewisse Kühnheit. Nun tauchte auch sein schmächtiges Herrlein aus dem dunkeln Hütteninnern hervor. « Bonjour, messieurs! » begrüsste ich sie. Ein kurzes böses Nicken war die Antwort. « Est-ce que vous êtes des Suisses? » fragte der Führer.«Non monsieur. » — « Est-ce vous qui venez de laDent d' Hérens monsieur.»— « Avez-vous roulé les pierres ?»— « Oui monsieur.»— « Pourquoi ?»— « Par hazard. » — Mit romanischer Heftigkeit stürzte er auf seinen Eispickel zu. Ich sah gleich, dass der Pickel ein richtiges Format hatte, der Holzschaft flach, nicht zu lang, nicht zu kurz, die Waffe guter Stahl, die Spitze lang und etwas geschweift, und dennoch hatte der Mann keine guten Stufen geschlagen, wie wir festgestellt hatten. Diesen Pickel schwang er hoch über seinen Kopf und schrie, dass er uns kalt gemacht hätte, wenn wir Schweizer gewesen wären...! Sie beide seien unsrer Steine wegen umgekehrt. Jetzt ging mir ein Licht auf: der gute Mann hatte geglaubt, wir hätten ihn aus Konkurrenzneid mit Steinen erschlagen wollen!... Während ich noch darüber nachdachte und mir ausmalte, wie es ihm, seinem Herrlein und uns wohl ergangen wäre, wenn wir Schweizerbergführer gewesen wären und was für monströse Ideen oft im Gehirn vieler entstehen, die auf den reinen Höhen wandeln, ergriff Finch das Wort. Er stellte uns vor und erzählte eine Mordsgeschichte von einem Biwak in den kalten Felsen der Dent d' Hérens, von einer schlechten Nacht und schwerem Kopf am Morgen, Steinerollen könne alsdann passieren und sei nicht bös gemeint, und man dürfe so etwas nicht übelnehmen... Indem mein Begleiter diesen Weg des Kompromisses betrat und die beiden Bianchi der Ruhe entgegenführte, schaffte er eine der schönsten Gelegenheiten zu einem Boxkampf aus der Welt, was ich ihm nie verzeihen werde. Da wir uns nun einmal auf dem Friedensweg befanden, wollte ich auch nicht ungalant sein und fragte sie, ob sie Proviant für uns hätten. Wahrhaftig, sie gaben uns Salami, Käse und Brot, wofür ich mit einem Trinkgeld quittierte. Und so deckte denn der Friedensengel seine sanften Fittiche über das die Friedenspfeife rauchende Quartett in der Capanna d' Aosta. Den fehlenden Tee ersetzt wilder Wermut, der in der Nähe der Hütte wächst. Freundlich grüssend stiegen unsere neuen Italienerfreunde in die Niederungen ihrer sonnigen Heimat, uns befriedigte Neugierige in guter Laune ob des tragikomischen Zwischenspiels zurücklassend. Frühmorgens verliessen wir die prächtig gelegene Hütte, stiegen gegen die Tête de Valpelline an, liessen diese rechts liegen und wanderten zum Col de Valpelline hinauf, 3562 m. Grossartig ist das Bild der Dent d' Hérens von da oben. Der kühne Nordwestgrat erscheint unersteigbar, denen, welche ihn nicht kennen. Getrocknete Zwetschgen erwarteten uns am Fusse des Stockje. Nachdem wir deren Bestimmung erfüllt, begaben wir uns über Schönbühl nach dem geliebten Zermatt.H. Hafers de Magalhães.

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