Der Bächifirn
Ein Kuriosum in den AlpenVon R streiff.Bec|cer
Mit 1 Bild ( 68Zürich und Glarus ) Das vielgestaltige Relief der festen Erdoberfläche und die grossen Verschiedenheiten des Klimas, besonders betreffend Temperaturen und Niederschlagsmengen in den einzelnen Zonen, bewirken eine ebenso grosse Mannig- 1 « Jahrbuch S.A.C. » LIV, 1919, S. 49-52.
Feuerberg RuchengipfelVrenelisgärtliSäntis BächistockKurfirsten Im RadBächifirnMürtschen Zeinenfurkel Bächistock ì ~ Aufnahme Swissair-Photo, Zürich Art. Institut Ore II Füssli A.G. Zürich Die Alpen - 1949 - Las Alpes faltigkeit der Vergletscherungen. Man unterscheidet deshalb bekanntlich verschiedene Gletschertypen. In unseren Alpen, die ein relativ kleines Gebirge des Erdballs bilden, sehen wir alle Gletschertypen vertreten, ausgenommen die rein polaren Typen und Meergletscher. Innerhalb der Alpen ist es wiederum das Glarnerland, in welchem trotz der Kleinheit des Raumes sämtliche Gletschertypen vertreten sind, eine Tatsache, die in den Alpen, wie ich vermute, wohl einzig dasteht. Zum Beweis geben wir hier eine Übersicht der gebräuchlichen Namen der Gletschertypen und dazu je ein Beispiel der Vorkommen im Kanton Glarus:
1. Alpiner TalgletscherBifertenfirn am Tödi.
2. HängegletscherNordwand des Urlaun.
3. Plateaugletscher ( skandinavischer TypClaridenfirn ( Pianura ).
4. Kargletscherzwischen Gross- und Kleinkärpfstock.
5. Regenerierter GletscherVorder- und Hinterrötifirn am Tödi.
6. Lawinengletscher ( Karakorum- typHintersulzgletscher im Durnachtal.
7. WindgletscherHinterer Bächifirn am Glärnisch.
Den zuletzt genannten Bächifirn dürfen wir als Kuriosum bezeichnen, weil seine Existenz nur durch das Zusammentreffen ausserordentlicher Umstände möglich ist.
Der Glärnisch ist ein Gebirgsstock, der trotz seiner massigen Höhe stark vergletschert ist. Die höchste Erhebung in diesem Massiv, der Bächistock, ragt bis 2914 m hinauf. Die Firnlinie liegt zur Zeit in einer Meereshöhe von 2550 m. Der Hintere Bächifirn, von dem hier die Rede ist, ist vom Talgrund aus nicht sichtbar. Der Glärnisch bietet dem Alpinisten eine Fülle lohnender Touren leichten bis schwierigen Grades. Eine Umwanderung des Massivs, von Glarus ausgehend, durch das Klöntal, Rossmattertal, Zeinentäli, mit Abstieg gegen Oberblegisee oder Braunwald, ist zwar weit und ziemlich anstrengend, jedoch lohnend wegen der reichen Abwechslung von Landschaftsbildern grosser Schönheit. Nach der herrlichen Wanderung längs des Klöntaler Sees, am Fuss der eindrucksvollen Nordwände des Glärnisch vorbei, biegen wir, eine Talstufe überwindend, südlich in das Rossmattertal ein, dessen Abschluss beherrscht wird vom Bösen Faulen und seinem östlichen Ausläufer, dem wilden Rüchigrat. Weiter taleinwärts wird der Blick zum Bächistock frei, dessen steile Westwand auf einer breiten, gegen Nordwesten geneigten Felsstufe, dem sog. « Rad », aufsitzt.. Der Name Rad wurde jenem Felshang gegeben, weil im Vorsommer aus der Winterschneefläche herausschmelzende dunkle Felsen das Bild eines Radkranzes zeigen. Bei Käsern teilt sich das Tal. Nach links führt ein Weg über die Talstufe von Werben zur Klubhütte des S.A.C. Unser Weg führt über die gleiche Stufe mehr rechts zum Zeinenstafel hinauf und zwischen den Gassenstöcken und dem Roßstock ins Zeinentäli. Dieses steinige, rauhe Täli bildet zwischen den Felswänden des Rüchigrates auf der einen Seite und den Wänden des Roßstockes und dem Glotalstock auf der anderen Seite einen sichelförmigen Kanal, durch welchen die nord-Die Alpen - 1949 - Les Alpes21 westlichen Winde östlich abgelenkt werden und zusammengerafft an der Zeinenfurkel wie aus einer Düse heraus gegen die Südseite des Glärnischmassivs wehen. Daneben blasen diese Westwinde ungehemmt auch über den schräg ansteigenden Pultdeckel im Rad, dessen oberer Rand, in 2650 m Höhe, mit hoher Felswand jäh gegen Süden abbricht. An der Zeinenfurkel, 2435 m, betreten wir unvermutet Firn. Die schöne Aussicht auf die gewaltigen Südwände des Glärnisch, auf das Kärpfstockgebiet und die Sernftaler Berge und den Bächifirn zu Fassen ist vielleicht schuld, dass wir vorerst vergessen, uns Rechenschaft zu geben, wieso auf der Nordseite der Zeinenfurkel apere Schutthalden sind, auf der sonnigen Südseite dagegen ein Gletscher, dazu noch in so geringer Meereshöhe, wogegen die nur schräg beschienene, viel höher liegende Fläche im Rad nur ganz kleine, flache Eiskuchen aufweist. Die photogrammetrisch aufgenommene Karte 1:10 000 der eidgenössischen Vermessung zeigt, dass der Bächifirn im Jahre 1931 noch eine Fläche von 0,62 km2 bedeckte^ sein oberer Rand in 2400 m Meereshöhe verläuft, der Firn also volle 150 m unterhalb der Firnlinie seinen Anfang nimmt, trotzdem bei einer Breitenausdehnung von 1,6 km bis 2150 m ü. M. hinabreicht. Wir müssen annehmen, dass von den sehr schmalen Bändern der steilen Südwand des Bächistockes nur unbedeutende Lawinen herabkommen, der Bächifirn also kein Lawinengletscher ist, und müssen bedenken, dass die südwärts geneigte Firnfläche einer starken Sonnenbestrahlung ( Insolation ) ausgesetzt ist und der warme Föhn direkt gegen die Südwand des Glärnisch prallt. Diese für Gletscherbildung so ungünstigen Umstände lassen es höchst merkwürdig erscheinen, dass hier ein Gletscher existieren kann. Die Niederschlagsmengen sind zwar am Glärnisch sehr bedeutende; sie übersteigen sehr wahrscheinlich 3000 mm im Jahr beträchtlich. Diese Annahme ist erlaubt, obgleich Messungen in diesem Gebiet selbst fehlen, aber die langjährigen Messungen der Zürcher Gletscherkonimission im benachbarten, auch am Aussenrand der Alpenketten gelegenen Claridengebiet eine mittlere Niederschlagsmenge von 3500 mm ergeben haben. Wie oben gesagt, fehlt in dem nach Norden exponierten, rund 200 m höher liegenden Rad eine bedeutende Vergletscherung. Betrachtet man die eigenartige, oben beschriebene Topographie im Rad und am Zeinentäli, so muss man zum Schluss gelangen, dass die Existenz des Bächifirns nur dem Wind zuzuschreiben ist. Dieser weht, zu dem meteorisch gefallenen Schnee der Südseite, noch den grössten Teil des auf die Fläche des Rades und ins Zeinentäli gefallenen Schnees hinzu. Die Schneemenge ist, besonders nach windreichen Jahren, so riesig gross, dass weder Sonnenbestrahlung noch Föhn noch geringe Höhenlage ausreichen, um den Winterschnee im Sommer gänzlich wegzuschmelzen. Der Bächifirn ist demnach ein echter Windgletscher, wie R. v. Klebeisberg in seinem 1948 erschienenen Werk « Gletscherkunde und Glazialgeologie » diesen Typus genannt hat.