«Der ewige Schnee gehört der Vergangenheit an»
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«Der ewige Schnee gehört der Vergangenheit an» Der Alpinismus verändert sich mit der Klimaerwärmung

Auch der Alpinismus leidet unter der Klimaerwärmung. Jacques Mourey, Geograf an der Universität Lausanne, hat 36 klassische Walliser Routen untersucht, die von diesen geomorphologischen und glaziologischen Veränderungen betroffen sind. Ein Interview.

Die Gletscher schmelzen wegen der Klimaerwärmung, und Alpinisten und Alpinistinnen müssen sich von alten Gewohnheiten verabschieden. Jacques Mourey hat das unter die Lupe genommen. Der doktorierte Geograf ist erster Forschungsassistent am Centre interdisciplinaire de recherche sur la montagne (CIRM) an der Universität Lausanne mit Sitz in Bramois im Wallis. Seine Forschungen sind Teil des gross angelegten partizipativen Projekts «Val d’Hérens 1950/2050», das die klimatischen, ökologischen und soziopolitischen Veränderungen dieser Region in den vergangenen Jahrzehnten untersuchen soll. Der 30-jährige Frankoschweizer, der auch als Wanderleiter und Amateurbergsteiger tätig ist, gibt Auskunft über die wichtigsten Erkenntnisse seiner Forschungsarbeit.

Wie ist es zu Ihrer Studie gekommen?

Meine Kollegen und ich sind vom berühmten Buch Walliser Alpen. Die 100 schönsten Touren ausgegangen, das Michel Vaucher 1979 verfasst hat. Bereits zuvor hatte ich im Rahmen meiner Doktorarbeit eine solche Studie im Mont-Blanc-Massiv anhand eines ähnlichen Buches von Gaston Rébuffat durchgeführt. Diesmal haben wir 36 symbolträchtige Routen in den Tälern von Anniviers, Hérens und Bagnes ausgewählt. Mittels Befragungen von Bergführern und Hüttenwarten haben wir untersucht, wie sich diese Routen in den vergangenen 40 Jahren verändert haben. Gemeinsam haben wir diese Veränderungen kartografisch erfasst. Unsere Studie wurde diesen Frühling in der Zeitschrift «Geografiska Annaler: Series A, Physical Geography» der Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geographie veröffentlicht.

Haben Sie im Rahmen Ihrer Forschung alle diese Touren selbst absolviert?

Aus Zeitmangel ist das nicht möglich gewesen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass manche dieser Touren mit dem Schwierigkeitsgrad SS bewertet sind, was es uns nicht erlaubt hätte, unter guten Bedingungen zu arbeiten. Wir haben diese Möglichkeit also aus unserer Methodik ausgeschlossen und haben vor allem Vergleiche zwischen alten und heutigen Luftbildern angestellt. Die Veränderungen der Routen wurden auf einer fünfstufigen Skala abgebildet. Null heisst, dass sich nichts verändert hat. Vier bedeutet, dass die Route nicht mehr existiert, wie beispielsweise der Bonatti-Pfeiler in der Westwand des Dru, der im Jahr 2005 auf 700 Metern Höhe eingestürzt ist. Im Endeffekt wurde von unseren 36 Routen nur eine einzige mit einer Null bewertet. 12 Routen wurden mit einer 1 bewertet (geringe Veränderung), 14 mit einer 2 (mässige Veränderung) und 9 mit einer 3, das heisst, die Veränderungen sind so bedeutend, dass die Routen im Sommer nicht mehr begehbar sind. Keine der untersuchten Routen im Wallis weist die Stufe vier auf.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Wir haben 25 geomorphologische und glaziologische Prozesse identifiziert, die mit der Klimaerwärmung in Verbindung stehen. Dazu gehören vor allem der Steinschlag, der Einsturz von Séracs, der Gletscherschwund sowie der Rückgang der Schnee- und Eisdecke. In den Walliser Alpen sind 95% der untersuchten Routen vom Gletscherschwund betroffen. Der Rückgang der Schnee- und Eisdecke ist ebenfalls allgegenwärtig. Der ewige Schnee gehört der Vergangenheit an. Diese Veränderungen beeinträchtigen die betroffenen Routen manchmal grundlegend. Wo Bergsteiger früher mit Steigeisen und Eispickel im Schnee aufstiegen, sind sie heute mit Blankeis konfrontiert. Dies erhöht die technischen Anforderungen und die Gefahr eines Absturzes dramatisch. Wenn dieses Eis schmilzt, kommt ein Fels zum Vorschein, der nach den Frost- und Auftauzyklen von 11 000 Jahren stark verwittert und sehr brüchig ist.

Haben diese Veränderungen weitere konkrete Folgen für die Bergsteiger?

Gewisse Touren sind im Sommer schlicht und einfach unbegehbar geworden. Dazu gehört die Nordwand des Mont Blanc de Cheilon, wo der Fels zur Hälfte morsch und zur Hälfte vereist ist. Oder auch die Nordwand des Pigne d’Arolla. Mittelfristig dürften zahlreiche Routen, die auf Schnee oder Eis verlaufen, unpassierbar werden. Die Nordwand des Ober Gabelhorns bleibt jetzt schon stellenweise schneefrei. Ende August besteht sie oft aus Blankeis, in dem Abschnitte von Felsgestein zum Vorschein kommen. Oft hat man gar keine andere Wahl, als die Touren im späten Frühling oder im Frühherbst zu begehen, um gute Verhältnisse vorzufinden.

Wie gut haben sich die Bergsteiger an diese Veränderungen angepasst?

Wir haben derzeit eine Studie unter Hobbybergsteigern lanciert, um diese Frage zu klären. Laut Statistik haben die Unfälle nicht zugenommen. Das lässt darauf schliessen, dass diese Alpinisten ihre Touren an die veränderten Verhältnisse anzupassen wissen.

Wie verhält es sich mit den professionellen Bergführerinnen und Bergführern?

Auch zu dieser Frage haben wir einen ausführlichen Fragebogen an rund 1550 Schweizer Bergführer versendet, und 230 von ihnen haben uns geantwortet. Aktuell sind wir damit beschäftigt, die Antworten auszuwerten, im Verlauf des Sommers dürften die Resultate veröffentlicht werden. Aus dem Vergleich mit der Studie in Chamonix lässt sich bereits jetzt sagen, dass Schweizer Bergführer und französische Bergführer sehr unterschiedlich mit den Folgen der Klimaerwärmung umgehen. Die Schweizer kommen damit besser klar. Das scheint grösstenteils mit der Kundschaft zusammenzuhängen, die recht unterschiedlich ist. In der Schweiz haben es die Bergführer eher mit einer privaten Kundschaft von Kennern zu tun, die oft aus dem Alpenraum stammen. Auf französischer Seite handelt es sich um weniger flexible touristische Kunden, die sich nur für eine begrenzte Dauer vor Ort aufhalten. Häufig haben sie ein bestimmtes Gipfelziel vor Augen und sind nicht geneigt, darauf zugunsten eines anderen zu verzichten.

Weitere Informationen über das Projekt «Val d’Hérens 1950/2050»

Rückgang der alpinistischen Aktivitäten im Sommer

Im Rahmen seiner Forschungen hat sich Jacques Mourey auch mit der Nutzung von acht SAC-Hütten im Hochgebirge des Val d’Hérens und des Val d’Anniviers in den vergangenen 40 Jahren beschäftigt (Dix, Vignettes, Bertol, Dent Blanche, Moiry, Mountet, Arpitettaz, Tracuit). Seine Ergebnisse geben Aufschluss über die Entwicklungen der Bergsportpraxis. Sie dokumentieren den Boom der Skitouren und den Rückgang der alpinistischen Aktivitäten. «Jede Hütte ist ein Fall für sich, aber wir beobachten eindeutig einen Rückgang der Besucherzahlen im Sommer. In unserer Gesellschaft wird das Eingehen von Risiken immer weniger toleriert, ebenso wie die Frustration. Die Leute sind nicht bereit, ein ganzes Wochenende und viel Logistik für eine Hochgebirgstour aufzuwenden, auf die sie dann vielleicht verzichten müssen. Viele wenden sich weniger zeitraubenden und einfacheren Aktivitäten zu, von denen man sich mehr Spass verspricht. Bergsteigen kommt aus der Mode, die Klimaerwärmung ist dafür nicht der einzige Grund.»

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