Der Parrónsee und seine Berge
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Der Parrónsee und seine Berge

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON ERNST REISS

Wir waren froh, in die klassische Cordillera Blanca gewechselt zu haben, denn hier ragten wunderschön geformte Eisgipfel über dem weiten, fruchtbaren Santatal in einen scheinbar unvergänglich blauen Himmel. Voller Erwartungen stiegen wir durch die enge Felsklamm des Parróntals nach der gleichnamigen Laguna di Parrón. Mit dem ersten Blick über den grün-spanfarbenen Bergsee waren wir uns bewusst, hier in einer märchenhaft schönen Hochgebirgswelt unser Basislager aufgeschlagen zu haben. Unser buntes Zeltdörfchen kam unmittelbar vor den riesigen Kengualbaum am nahen Seeufer zu stehen. Blaue und gelbe Blumen kontrastierten mit den weissen Granitblöcken, welche die hohe Moräne zur rechten Seite unlängst zum Seebecken ausgespien hatte. Die riffeleisgratbesetzte Pyramide di Garcilaso im Talgrund und der hohe Doppelgipfel des Huandoy wirkten dominierend. Wir brauchten jedoch nur zwanzig Minuten an einem der Moränenwälle hochzusteigen, dann gesellt sich noch eine Anzahl kühnste Andengipfel zu diesem Kranz. Ganz hinten reckt sich der wilde Chacraraju, der erstmals von Lionel Terray bestiegen worden ist, wie ein Eckzahn in den Himmel. Zur Linken des Garcilaso steht, etwas tiefer, der Nevado di Parrón. Seine schönen Hängegletscher wirken wie übereinandergetürmte Schlagrahmwellen. Dann mehr im Osten, etwas zurückgesetzt, thront der grossartige Artisonraju und weiter vorn, als breite Mauer, der Doppelgipfel des Nevado di Carâs. Gerade über unserm Lager stehen noch als einzige unbestiegene Gipfel die drei Agujas. Sie sind vergessen worden, weil sie die Sechstausendergrenze nicht erreichen; vielleicht aber auch darum, weil von keiner Seite ein harmloser Aufstieg zu ihren abweisenden Gipfeln führt. Wir waren um so mehr gespannt, was uns dieses letzte Stück Niemandsland noch bringen sollte.

Huandoy der « Grosse », wie wir ihn als dritthöchsten Berg der Kette sicher auch nennen dürfen, war von zweien unserer Seilschaften erstmals über seine Nordabdachung bestiegen worden. Wir bedauerten, dass uns schon zwei Tage später unser Leiter zur Vorbereitung der Rückreise verlassen musste. Ich hätte Ruedi Schatz bei unserm letzten Projekt auf der andern Talseite noch gerne dabei gesehen, denn er hätte es für seine viele Arbeit am ehesten verdient.

Die grosse Aktentasche auf dem Rucksack, verschwand er in den blauen Glyzinenstauden talauswärts. Es fiel ihm nicht ganz leicht, man sah es ihm an. Er bangte ein wenig um den guten Abschluss unseres Unternehmens. Es war gut, dass Ruedi noch nicht wusste, dass unsere letzte Aufgabe, die 5886 Meter hohe Aguja Nevada, die vielleicht schärfste Eistour von unsern Erstbesteigungen werden sollte. Mit Geny Steiger und Franz Anderrüthi, mit welchen ich noch nicht am Seil gegangen war, verschrieb ich mich diesem Abenteuer. « Montez », wie wir Geny aufspanisch nennen, weiss die Eisaxt zu gebrauchen, und Franz ist einer der wildesten Felsgänger. Wir glaubten an einen Ausklanggipfel, aber es sollte, wie gesagt, anders werden. Beinahe hätten wir uns an dieser Aguja Nevada die letzten gesunden Zähne ausgebissen.

Wohlgemut verliessen wir am frühen Morgen des 14. Juli mit drei Trägern das wohnliche See-lager. Auf 5300 Meter, am Fusse des eis- und schneegepanzerten Westgrates der genannten Nadel, hatten wir nach Angaben das Hochlager zu stellen. Als wir am Nachmittag um 2 Uhr den Col erreichten, plagte mich beim Anblick dieses wilden Hochgipfels weniger mein erkälteter Magen als vielmehr die fröhliche Zumutung, dort an einem Tag hinaufzukommen Dieser riffeleis- und wächtenbehangene Andenriese schien nicht gerade auf uns zu warten. Mit Geny trieb ich daher schon am Vorabend so weit als möglich eine Trittspur in den aufgeweichten Schnee. Wir kamen recht hoch hinauf und erst mit der beginnenden Nacht ins Lager zurück. Eine Schlafpille konnte heute zur Ausnahme keinem schaden. Das Bild des messerscharfen Eisgrates, dort die gewaltige Pyramide des Nevado Santa Cruz, nahmen wir mit in den Schlaf. Manana ( auf spanisch = morgenwollten wohl unsere letzten Gedanken im Schlafsack sagen.

Trotz dem freien Sternenhimmel war es gar nicht so kalt an diesem Morgen. Mit dem nüchternen Licht des neuen Tages stiegen wir angeseilt und steigeisenbewehrt an den Berg. Im Rucksack hatten wir allerlei Sachen, um uns nötigenfalls festzunageln oder abzuseilen. Zur Angewöhnung liessen wir zuerst Franz den Vortritt. Er schlug sich gut bis dort, wo die Vorschulter nicht mehr so steil sein sollte. Das aber war ein Irrtum; denn wir wurden bald in die exponierte Südwestwand getrieben. An die überhängenden Gratwächten mit den zahlreichen Eiszapfen hatten wir uns bald gewöhnt. Wir gingen am 60-m-Seil auf Sicherheit, und der forsche « Montez », neuerdings an der Spitze, marschierte wie ein Innerkofler. Es ging für dieses Gelände verhältnismässig rasch zu der riesigen Eisrolle und in höllischen Quergängen über die Schrapnellköpfe der hohen Schulter. Ein einladender Balkon und ein blaues Durchkriechloch von sechs Meter Tiefe halfen uns ganz unerwartet aus der Sackgasse auf die andere Gratseite. Wir standen mit einemmal im tiefen Pulverschnee des Zwischensattels. Es war schon elf Uhr vormittags. Die fünfmal kirchturmhohe Schattenwand des Gipfelaufbaus schaute uns feindlich an. Man sah förmlich, wie der schlecht gefestigte Schnee auf den haltlosen Granitplatten aufsass. Nun sollte ich auch einmal anpacken!

Die durchbrochene Preßschneeschicht auf dem grundlosen Schwimmschnee wollte mir beim Spuren die Wollgamaschen von den Beinen reissen. Bald kroch ich auf allen Vieren oder stöhnte vor Anstrengung. Aber einmal mussten wir die Randspalte erreichen. Wie immer zeigte sich eine Brücke, über die wir hinüberschlichen. Der Schnee hielt teilweise gut auf dem griffarmen Granit. Dann aber gab es wieder Zonen, wo das Vorwärtsbewegen nur noch als Schwimmen bezeichnet werden durfte. So auf jede Seillänge konnte ich einmal einen Haken oder einen Holzpflock nach Albert Egglers Art einsetzen. 150 Meter über der Randspalte kam das unangenehmste Stück unter dem nahen Gipfelgrat. Ich klammerte mich mit beiden Armen um den vertikalen Schneekamm, während die Beine meist ins Leere traten. Der Grat war aber endlich erreicht, nur unsere Füsse schienen gänzlich gefühllos zu werden. Ein Firngrat, ein überhängender Gendarm und mehrere in die Luft hängende Wächtenkuppen leiten zu dem höchsten Gipfelturm der westlichen Aguja.

Der « eiserne » Steiger wollte nochmals voraussteigen. Das war gut so, denn ein paar lose Felsüberhänge über dem tausend Meter hohen Abgrund, ohne rechte Sicherung, stellten uns vor eine harte Aufgabe. Es sah beängstigend aus, wie Geny bald im Schnee, bald im Fels höher und höher stieg. Zuletzt auf dem Ungewissen des Wächtengrates stehend, sagte er noch etwas von einer Gebrauchsanweisung. Wer konnte das wissen? Es hiess einfach hinauf!

Es mochte etwas nach 14 Uhr gewesen sein, als wir uns ein letztes Mal vergewisserten,ob wir wirklich festen Boden unter den Füssen hatten, bevor wir uns die Hand drückten. Mit etwas mehr als 5800 m betraten wir nicht den höchsten, wahrscheinlich jedoch einen der durchgehend schwierigsten Andengipfel. Nur die Kralle des Pumasillo, welche ich mit Erich Haitiner anging, beeindruckte mich im Schlußstück fast noch tiefer.

Hier aber besannen wir uns gleich auf einen einfachen Abstieg, wenn uns nicht das bestehende Lager zurückgerufen hätte. Eine donnernde Steinlawine sagte uns aber deutlich, wo wir zurücksteigen mussten. Derweil wir einige Gipfelaufnahmen machten und etwas Nahrung zu uns nahmen, gewöhnten wir uns an diese exponierte Gipfelrast. Über die gewaltigen Fels- und Eispyramiden des Alpamayo, des Artisonraju und des Nevado die Carâs entlud sich ein Gewitter. Um die grossen Trabanten des Parrónbeckens schoben sich zerrissene Wolken. Nichts konnte die Tatsache ändern, dass wir noch auf dem unerhört luftigen Haupt der Aguja Nevada, der Wilden, standen.

Im Aufstieg, da wollte jeder von uns führen, im Abstieg, ja -, da musste einfach immer einer zuhinterst gehen. Ein Trägerpickel, eine lange « Holzschwirre » und drei Eishaken sollten genügen, um die rund 300 m mit einem Neigungswinkel von mehr als 50 Grad abzuseilen. Geny teilte sich mit mir in diese nicht immer angenehme Aufgabe, während Franz, oft auch ungesichert, am durchlaufenden Karabiner abstieg. Der Schnee im Trasse hatte sich wohl verfestigt, jedoch die beiden langen Reepschnüre verfingen sich hundertmal an den vielen Büsserschnee-Eisnadeln. Der Abend näherte sich langsam. Es brauchte gute Nerven. Wie aus der Vogelschau erkannten wir in der Dämmerung noch unser Zelt. Wartete uns dort noch der Träger? oder befanden sich dort Erich und Hans, welche an diesem Tag erstmals die Chica Aguja bestiegen hatten? Der zunehmende Mond begleitete uns sicher zum Lager, wo allein unser treuer Träger Martin Fernandez mit einem Topf Suppe bereitstand. « Aguja Nevada, la mâs dificil », murmelte er. Wir krochen in die Schlafsäcke, derweil unsere nassen Kleider vor dem Zelt gefroren. Unser letztes grosses Bergerlebnis in den Anden hatte damit seinen Abschluss gefunden.

Die Sonne über Peru wird immer wieder aufgehen! Wir dachten an unsere Freunde vom SAC, welche uns aussandten, an die unermüdlichen Initianten Ruedi Schatz und Robert Wenck, vor allem aber an unsere Frauen und Eltern, die weit mehr Opfer als wir gebracht haben. Schön war 's, wir danken Euch allen!

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