Der unvergessliche Augenblick
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Der unvergessliche Augenblick

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Hermann Fredenhagen

( Basel ) Es war an einem der zahlreichen Divisions-Skikurse.

In der grossen Halle des Berghauses Jungfraujoch sitzt eine gutgelaunte, braun gebrannte Gesellschaft junger, unternehmungslustiger Soldaten und Offiziere und vertreibt sich die Abendstunden mit fröhlichem Kartenspiel. Und sie haben allen Grund, gutgelaunt zu sein, denn ein herrlicher Tag ist zu Ende gegangen und ein ebensoschöner kündet sich an. Es hatte heute auf dem Joch ein Riesenbetrieb geherrscht; die weissen Soldaten bevölkerten die langen Gänge der Bergstation wie einen Bienenschlag. Nun ist es wieder etwas ruhiger geworden, da sich das eine Détachement nach dem Eigergletscher zurückgezogen hat.

Es ist 21 Uhr. Der Raum ist vom Dunst des Rauches erfüllt. Da naht sich ein Kamerad und raunt mir leise ins Ohr: « Hast du Oberleutnant Wenger gesehen ?» Ich kann mich nicht erinnern; kaum seit heute morgen. « Warum ?» « Er ist vermisst !» Eine Stunde später trifft man sich zu einer Besprechung. Wo ward Wenger zuletzt gesehen? Heute abend hätte er mit seinem Détachement auf dem Eigergletscher eintreffen sollen, doch ist er weder dort noch auf der Kleinen Scheidegg angekommen. Am Morgen hätte er sich einer Klasse anschliessen müssen, die nach dem Lauitor ausrückte. Er war aber aus unbekannten Gründen nicht dabei gewesen. Nicht ganz sichere Informationen besagen, er sei nach 8 Uhr im Sphinxstollen gesehen worden, und ein anderer will etwas später mit dem Feldstecher einen Alleingänger auf dem Jungfraufirn beobachtet haben, der sich in Richtung Lauitor bewegte. Ein Dritter behauptet mit Bestimmtheit, ich hätte mich heute nach dem Mittagessen mit Wenger unterhalten. Meiner Meinung nach war dies aber eher am Morgen oder gar am Vorabend. Dann wird erwähnt, Wenger sei verschiedentlich etwas eigenartig aufgefallen, es sei ihm wohl zuzumuten, dass er allein irgendeine Tour unternommen habe. Wir telephonieren nach Fafleralp, Goppenstein, nach Wengen und Scheidegg. Niemand weiss etwas. Es war leicht möglich, hier oben heute jemanden nicht gesehen zu haben, ein solches Getümmel hatte geherrscht. Die Mahlzeiten wurden schichtenweise eingenommen.

Man berät, was zu tun sei. Ein erfahrener Offizier meint, wenn Wenger ein Sonderling sei, habe es wenig Sinn, ihn bei Nacht und Kälte zu suchen; man solle den Morgen abwarten, dann werde sich das Weitere ergeben. Schon aber erhebt sich sehr bestimmt die Stimme von Hauptmann Kurz: « Eine Diskussion ist überflüssig. Ein Mann ist vermisst. Es wird gesucht, und zwar sofort. » Er gibt klaren Befehl: Es soll unverzüglich eine Patrouille nach der Konkordiahütte abfahren und von dort mit Lichtsignal zurückmelden. Falls Wenger nicht auf Konkordia ist, steigt die Patrouille nach Hollandia an, und die 9 Mann Rettungsmannschaft starten verpflegt 1.30 Uhr mit befoh-lener Ausrüstung im Sphinxstollen. Bis dahin Ruhe.

1.30 Uhr treten 9 Mann, angeseilt, mit 3 Kanadier Schlitten, Zelteinheiten, Wolldecken, Eispickel, Steigeisen, Ersatzski, Seilmaterial, Lampen, Notration und Sanitätsausrüstung aus dem Stollen und fahren zum Jungfraufirn ab. Es ist eine eiskalte, klare Aprilnacht. Der Schnee knirscht laut beim Einstecken der Stockspitzen. Der Mond scheint hell und steht bereits über dem Rottalsattel. Alle 50 Meter stehen wir still. Lauter Ruf! Man wartet. Keine Antwort, nicht der leiseste Ruf stört die Ruhe der weiten Welt dieses ewigen Eises. Nur nach langer Zeit tönt dumpf das Echo vom Jungfraumassiv her zurück. Wieder schreitet man 50 Meter vorwärts. Ruf... nichts. Ruf... nichts. Ruf... nichts. Und so wiederholt sich lange Zeit dieses zugleich spannende und ergreifende Spiel.

Der Mond weist den Weg zur Aufstiegsroute nach dem Lauitor, schon steigen wir langsam an. Wir wissen es ja, wie dieses Gebiet von gefährlichen Schrunden wimmelt. Erst vor drei Wochen mussten zwei Kameraden aus einem Schrund hervorgezogen werden. So gibt es genug Arbeit zum Absuchen. Um 6.30 Uhr wird der ganze Kurs marschbereit am Stollenausgang sein, sollten wir bis dahin unsern vermissten Kameraden nicht gefunden haben.

Da erkennt die vorderste Seilschaft im Mondschein eine eigenartige Spur, die rechts nach einer grossen Spalte hinführt. Dort hört sie plötzlich auf. Irgend etwas stimmt da nicht. Sofort wird diese knapp 10 Meter von der Hauptroute entfernte Spalte abgesucht. Am gesicherten Seil kriecht der Vordermann an den Rand des gefährlichen Schrundes heran. Er leuchtet mit der Taschenlampe hinunter und lässt einen laut schallenden Ruf ertönen. « Seid doch still, man hört ja nichts. » « Niemand hat etwas gesagt. » Ruf... nach langer Zeit antwortet das Echo. Aber das Echo stimmt nicht genau. Nochmals wird gerufen. Sonderbar. Ist das nicht eine Stimme wie aus weiter, weiter Ferne. « Wer ist dort? » Antwort, weit, weit weg, unverständlich. Aber nun steht es fest: ein menschliches Wesen ist in der Tiefe dieses Schrundes. Wer es ist, kann vorderhand nicht sichergestellt werden. « Wenger ?» « Uuuuuh. » « Wenger ?» « Uauauaua. » « Wenger !» « aaaaaaaa. » « Wenger !» — Also Wenger da unten, welche Freude. Er lebt. Aber ist er verletzt? « Verletzt ?» « Uuuuuh. » « Ver—letzt? » « Aaaiiii... » Vermutlich also nicht verletzt. An einer 30 m langen Lawinenschnur wird eine brennende Taschenlampe in die Tiefe gelassen. Es reicht nicht, wir müssen eine zweite Schnur anknüpfen. Dann wird Seil in entsprechender Länge in die Tiefe gelassen. Wir warten ab und machen uns bereit zum Ziehen. Am Seil wird von unten her gezogen, leicht. « Los! » « Hoooo—op », « hoooo—op. » Was kommt zum Vorschein: ein Rucksack, zwei Skistöcke, ein völlig zersplitterter und ein intakter Ski! Das Seil wird wieder hinuntergelassen, mit Laterne, Sitzschlinge und Karabinerhaken. Wieder ein Rupfen am Seil. « Los !» — Doch das Gewicht ist schwerer. « Hooo—op. » Fest zupacken, es darf nicht fehlen! Man vergisst die kalten Glieder, merkt kaum, wie das Mondlicht weggegangen und es finster geworden ist. « Hooo—op. » Es erscheinen zwei Hände, « hooo—op » —. Eine Gestalt rutscht aus dem Schrund. Es ist Wenger! Ohne lange Worte meldet er sich bei seinem Vorgesetzten zurück und begrüsst uns nvt Handschlag. Er ist heil, wieder unter uns. Tief erfasst uns die Freude dieses Augenblickes.

Und wie war es ihm ergangen?

Er wurde am Morgen auf dem Joch zurückgehalten und wollte seine Gruppe einholen, die bereits eine halbe Stunde vorher in Richtung Lauitor abmarschiert war. So zog er, vom Feldstecher des Kameraden beobachtet, als Alleingänger an diesem schönen Morgen über den Jungfraufirn. Zum Anstieg gedachte er als Abkürzung jenen Steilhang, rechts desgrossen Spaltes, zu traversieren, anstatt links der Spur zu folgen. Nach einigen Skilängen aber rutscht er plötzlich ab, glitt, kopfvoran, in die Spalte, wobei er zuerst mit den Ski hängen blieb. Bald aber stürzte er weiter, an die 35 Meter tief bis auf einen kleinen Eisboden, wo er liegen blieb. Er war nur leicht verletzt und konnte sich aufrichten. Seine ganze Ausrüstung lag um ihn. Einige Schritte konnte er sich hin- und hertasten. An eine Rettung aus eigener Kraft war aber nicht zu denken. Die glatten Wände waren selbst mit dem Pickel kaum zu bearbeiten, ein Einschlagen senkrechter Stufen war schon gar nicht möglich. So verbrachte er fast zwanzig Stunden. Hin und wieder versuchte er, durch Pfeifen und Rufen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, besonders wenn dumpfes Dröhnen ahnen liess, dass wieder eine Seilschaft nebenan auf der Spur vorbeifuhr. Aber bald erkannte er, dass alles Rufen in den Gewölben des Schrundes nutzlos verhallte. Er rationierte seine Verpflegung sorgfältig und richtete sich für die Nacht ein im vollen Vertrauen darauf, dass man ihn nicht vergessen werde. Da er dank der absoluten Windstille nicht sonderlich kalt hatte, konnte er sogar ein wenig schlafen. Im Eisbiwak war es ja auch nicht viel wärmer gewesen! Und es war nicht unser Rufen, das ihn aus seiner Ruhe gestört hatte, denn er hatte es kaum vernommen, obschon man direkt in den Spalt hineinrief. Es war das Licht, das ihn aufschreckte! Der Mond war eben untergegangen, und dann wurde es wieder so sonderbar hell!

Wir wissen jetzt, wie wenig dieses wahllose Rufen auf dem Gletscher hilft; man hört es nicht und darf sich nicht darauf verlassen, damit seine Pflicht getan zu haben. Wenger hörte das Rufen nicht, aber das Licht zeigte ihm an, dass Hilfe kam, früher, als er erwartet hatte, denn bis zum Morgen glaubte er auf keine Hilfe rechnen zu dürfen.

Und wenn wir uns auf das Rufen verlassen hätten? Und wenn er tiefer geschlafen hätte? Und wenn jene falsche Spur nicht so eigenartig aufgeleuchtet hätte? Wenn wir eine halbe Stunde später ausgezogen wären und uns der Mond diese Spur nicht mehr gezeigt hätte? Und wenn Wenger schwer verletzt oder bewusstlos gewesen wäre? Oder wenn wir jener Stimme gefolgt wären, die vorderhand einmal abwarten wollte bis zum Morgen? Wir brauchen uns alle diese Fragen nicht mehr zu stellen. Wenger ist ja wieder unter uns!

Der Zeiger der Uhr rückt gegen 5.30 Uhr, da wir gemächlich gegen den Stolleneingang ansteigen. Wie herrlich mutet uns dieser Sonnenaufgang an, der in ganzer Pracht diese erhabene Gletscherwelt erhellt und seine langgezogenen Schatten über den Firn wirft.

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