Die Alpen im Kopf
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Die Alpen im Kopf Skizzen einer Wahrnehmungsgeschichte

Die Alpen sind ein beliebtes Ausflugsziel. Diese Natur- und Kulturlandschaft im Herzen Europas bewahrt für uns eine besondere Anziehungskraft. Wie ist es zu dieser Faszination für die Alpen gekommen? Wie werden die Alpen heute wahrgenommen?1 Das bis in unsere Gegenwart lebendige Bild einer idyllischen Alpenwelt erfährt heute eine Wandlung in neu ausgestaltete Alpenbilder unterschiedlicher Interessengruppen wie der Sporttreibenden, Umweltschutz-verbände oder Tourismusfachleute.

Die Alpen – archaische Landschaft, Bergidylle, gefährdetes Ökosystem oder Lebens- und Wirtschaftsraum von über 13 Millionen Menschen? So unterschiedlich diese Stichworte zum Thema Alpen sein mögen, immer wird auch die Wahrnehmung und Bewertung dieses Raumes angesprochen. Es geht um innere Bilder, die wir uns von den Alpen machen und die unsere Entscheide – zumeist unbewusst – prägen. Diese inneren Alpenbilder sind nicht nur individuell, sondern werden auch kulturell vermittelt. So ist beispielsweise das idyllische Bild der Alpen mit munter sprudelnden Bächen, grasenden Kühen und glücklichen Älplern tief in unserer Gesellschaft verwurzelt.

Bleiben wir einen Moment bei diesen idyllischen Alpenvorstellungen, die ja auch heute noch in Reiseprospekten werbewirksam inszeniert werden. Vielleicht stören solche Bilder einer heilen Welt, prägnant zusammengefasst in Trenkers Alpenbildband-Klassiker Wunderwelt der Berge, weil sie kitschig und zu Beginn des 21. Jahrhunderts überholt scheinen. Vielleicht wecken aber solche Bilder auch schöne Erinnerungen an die Kindheit oder an die letzten erholsamen Ferien. So oder so, auf Grund von Erzählungen wie Heidi, Heimatfilmen, Fotobildbänden oder Postkarten steckt in uns eine Vorstellung von den Alpen als traditionell bewirtschaftete Kulturlandschaft mit Schneebergen im Hintergrund. Damit sind die Alpen scheinbar auch all jenen vertraut, die nicht regelmässig hingehen.

Diese positive Wertschätzung wurde den Alpen nicht immer entgegengebracht. Sie ist in der europäischen Kulturgeschichte relativ neu. Obwohl seit Jahrhunderten besiedelt und kultiviert, blieben die Alpen den meisten Menschen des Flachlandes bis weit in die Neuzeit fremd und unheimlich; das Paradies dachte man sich ohne Berge. Damit sie für Schreibende und Reisende anziehend werden konnten, mussten das negative Image erst überwunden und neue Sehweisen eingeübt werden.

Dieser Wahrnehmungswandel von den «schrecklichen» zu den «erhabenen» Alpen lässt sich mit dem Auflösen des Nebels vergleichen: Über eine längere Zeitdauer ergeben sich da und dort kleine Lichtfenster, verschwinden wieder, reissen anderorts auf, und plötzlich sieht man den strahlend blauen Himmel überall. Dieses Durchsetzen einer neuen Alpensicht liegt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Schweizer Alpen wurden zum gefeierten und viel beschriebenen Reiseziel einer noch kleinen Schar Privilegierter. Sie erlebten diese Landschaft mit vielfältigen Gefühlen als erhabenes Naturschauspiel. Dabei erfüllte die Landschaftskomposition aus einer bäuerlichen Kulturlandschaft mit (hoch-)alpiner Szenerie im Hintergrund die Erwartungen von Unberührtheit und reiner Natur in besonderem Masse.

Am Gedicht «Die Alpen» des Berner Universalgelehrten Albrecht von Haller (1708–1777) kann die damals typische Alpenbildlichkeit beispielhaft erarbeitet werden: Die Darstellung der Alpen basiert darauf, dass die Dichter ihren Alltag – vorerst höfisch und später städtisch geprägt – als negativ bewerteten, das Leben in den Alpen hingegen als positiv und erstrebenswert. Im mythisierten Raum der Alpen schienen sich die gesuchten Reste einer heilen Welt und einer reinen Natur erhalten zu haben, die in der Zivi-lisationsentwicklung als verloren geglaubt wurden: War beispielsweise die Luft in den Städten trüb, erschien sie dort oben rein und würzig. Oder waren die Sitten hier schlecht und der Mensch verweichlicht, erschien er dort oben noch tugendhaft und stark. Eine solche Alpenkonstruktion lässt sich bis in heutige (Werbe-)Texte verfolgen.

Im 19. Jahrhundert führte die Industrialisierung sowie die alpinistische und später touristische Erschliessung der Alpen zu Verschiebungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Beispielsweise wurden – gegenüber dem 18. Jahrhundert – die Alltagsentlastung und Heilung stärker betont: «Nach wie vor werden alljährlich die ungezählten Tausende zu ihr (der Alpenwelt) empor pilgern wie zu einer Heilstätte und sich dort die Arznei holen für das, was das moderne Leben an ihnen verbrochen hat und verbrechen wird» (Noë in Die Gartenlaube, 1887, S. 696). Die Alpen erhielten für eine kurze Zeit im Jahr die Aufgabe, die Defizite einer zunehmend industrialisierten Gesellschaft auszugleichen. «Oben statt unten» war das alpinistische Motto.

Heimatfilme, Bildbände, Bergromane, Postkarten oder touristische Werbepros-pekte haben die Botschaft einer heilen – und in nationalen Diskursen damit oft auch heimatlichen – Bergwelt bis weit ins 2O. Jahrhundert popularisiert. Parallel zu dieser Fortschreibung des romantischen Alpenbildes haben der seit den Fünfzigerjahren zu beobachtende vertiefte soziale und landschaftliche Wandel im Alpenraum und ein verändertes Prob-lembewusstsein die gesellschaftliche Wahrnehmung beeinflusst. In den letzten Jahrzehnten sind neue Alpenbilder entstanden. Je nach Kontext und Interesse an den Alpen zerfiel die einheitliche Alpenbildlichkeit in untereinander un-verbundene Vorstellungen wie beispielsweise die Alpen als Sportarena, als labiles Ökosystem, als Modellregion Europas oder als Lebens- und Wirtschaftsraum. Ein zeitgenössisches Beispiel kann anhand der Aktivsportarten Gleitschirmfliegen, Mountainbiking und Snow-boarding illustriert werden. Auffälligstes Merkmal der aktuellen Berichterstattung in den Fachmagazinen dieser Sportarten ist die geringe Thematisierung der landschaftlichen Arena, in der die Aktivitäten ausgeübt werden. Die Alpen werden nur selten und nicht mehr detailliert beschrieben. Die wenigen vorhandenen Beschreibungen beziehen sich auf den Raum und beruhen weitgehend auf den überlieferten Merkmalen wie «atemberaubend», «majestätisch», «erhaben », «malerisch» oder «idyllisch». Angaben zur Bergbevölkerung und zu landschaftlichen Kulturwerten in der Landschaft finden sich keine mehr.

Im Zentrum der textlichen und bildlichen Darstellung der untersuchten Sportmagazine steht nicht die Landschaft, sondern das Sport treibende Individuum und die jeweilige Sportszene. Aus dieser Gewichtung lassen sich erste Schlüsse auf die Bedeutung der modernen Aktivsportarten für die Identität des Einzelnen und für die gesellschaftliche Gruppenbildung ziehen. Natur und Landschaft stellen einen oft als unregle-mentiert interpretierten Freiraum dar, in dem Sporttreibende die Möglichkeit sehen, sich selber zu definieren.

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