Die Blutseen der Schweizer Alpen
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Die Blutseen der Schweizer Alpen

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Mit 5 Skizzen Von Edwin Messikommer

Meine erste Begegnung mit einem « Blutalgensee » wurde am 8. August 1940 zum Ereignis. Als Algologe war ich damals auf einer Sammeltour ins Berner Oberland begriffen. Es war schon ziemlich spät am Abend des genannten Tages, als ich östlich unterhalb des Hotels auf der Grossen Scheidegg vom Anblick einer Erscheinung plötzlich wie gebannt stehen blieb. Was für ein blutiger Fleck lag da hart neben dem Weg in einer Boden-depression ausgebreitet? Das ist ein « Blutsee », schoss es mir blitzschnell durch den Kopf, und ein glückseliges Gefühl, das meinen Körper zu durchströmen begann, gab mir neuen Impuls. Mit einem Male war jegliche Müdigkeit vergessen, und die Hotelnähe machte mir trotz der durchgemachten Tagesstrapazen keinen Eindruck mehr. Diesem « verhexten » Gewässer galt nun meine ganze Aufmerksamkeit. Nicht erst morgen, nein schon heute, trotzdem es schon gegen 20 Uhr ging, sollte sich das Blutalgengewässer der wissenschaftlichen Durchleuchtung fügen. Aber wie und mit welchen Methoden sollte dem Gewässer auf den Leib gerückt werden? Die Zeit vor dem Einbrüche der Nacht war nur noch knapp, und der Gedanke, dass mir das seltsame Phänomen noch entrinnen könnte, liess mir keine Ruhe mehr. In der Erregung griff ich ganz spontan nach einem Stein, hob ihn auf und warf ihn in das « blutende » Gewässer hinein. Der Effekt war der, dass sich an der Einschlagstelle die das Gewässer überziehende rote Haut zerteilte und das Wasser durchblicken liess. Aber nur Sekunden dauerte es, und dann verschloss sich das « Guckloch » wieder. Nun trat ich näher an den « Blutlachen » heran und mit vornübergeneigtem Körper versuchte ich mittelst der Hand den seltsamen dunkelblut- bis dunkelzinnoberroten breiartigen Überzug streifend auf die Seite zu schieben. Wie vorauszusehen, gelang das Experiment ohne weiteres, aber die Masse blieb nach dem Zurückziehen der Hand wie Blut an ihr kleben, und ich hatte die liebe Mühe, sie wieder rein zu bekommen. Noch mehr Unannehmlichkeiten bereitete mir dieser Umstand bei dem nachherigen Herausfischen der Sammelprobe. Netz, Schöpflöffel, Sammelflasche und alle weiteren Gebrauchsgegenstände waren nach ihrer Verwendung über und über mit der leicht ekelerregenden « Blutsubstanz » beschmutzt.

Nachdem ich mir das Probenmaterial gesichert hatte, begann ich die Physiographie des Gewässers zu untersuchen. In bezug auf Form und Grosse konnte festgestellt werden, dass die Wasseransammlung einen dreieckig-nieren-förmigen Umriss aufwies, mit einer maximalen Länge von 20 m, einer grössten Breite von 19 m und einer Mittentiefe von 80—100 cm. Auf der gegen den Weg zugekehrten Seite war das Ufer vegetationslos und der Schlamm mit Fußstapfen des Weidviehes durchsetzt, während auf der Gegenseite ein DIE ► BLUTSEEN ► DER SCHWEIZER ALPEN UND IHRER NACHBAR GEBIETE kleiner Gürtel von verlandenden Sumpfpflanzen den Abschluss bildete. Der Gewässergrund war von einem schwärzlichgrauen Schlamm erfüllt. Die Wassertemperatur betrug trotz der vorgerückten Tageszeit und ungeachtet der Meereshöhe von 1961 m 19° C, die Alkalinität 1,5° ( fr. ) und das pH = 6,9. Welche Bewandtnis hat es nun mit der so eigentümlich blutrot gefärbten Verschlusshaut, die den « Blutsee » charakterisiert? Die mikroskopische Analyse vermag uns die notwendige Auskunft zu verschaffen. Zu diesem Zwecke entnehmen wir mittelst der Pipette eine kleine Probe vom eingebrachten * Bujlena-a/u tsee "

Die Verbreitung der « Blutseen » in den Schweizer Alpen Sammelmaterial, breiten sie auf einer Glaslamelle aus, verschliessen dann mit einem Deckgläschen und schieben das so gewonnene Präparat unter die Mikroskoplinse. Dem Beschauer bietet sich nun ein ganz entzückendes Bild. Die Materie scheint aus lebenden Einzelteilchen zu bestehen. In ungeheurer Zahl drängen und bewegen sich die winzig kleinen Lebewesen, um die es sich handelt, im Gesichtsfeld des Mikroskopes. Eine der Formen dominiert uneingeschränkt und muss als Leitform bezeichnet werden. Im Normal-zustande ist der Organismus länglich zylindrisch und hat ein zugespitztes Hinterende. Die Länge beträgt dann 0,080-0,120 mm. Der Zellenleib ist elastisch wie ein Kautschukstück und kann vorübergehend jede Gestalt annehmen bis hinunter zur Kugelform. Jeder unangenehme Reiz veranlasst das Lebewesen, seine Gestalt zu vereinfachen und damit die Angriffsfläche zu reduzieren. Am Kopfpol des einzelligen Organismus ragt aus einem Membran- trichter ein doppelt körperlanges Haargebilde, das als Geissel bezeichnet wird, heraus, mit Hilfe dessen sich die Geisselalge aktiv von Ort zu bewegen vermag. Der Zellinhalt sieht in den meisten Fällen stark körnig aus. Die Pflanzenphysiologen belehren uns, dass es sich dabei um Scheinstärke handelt, die der Stoffwechsel hervorgebracht hat. Die Anhäufung dieses Speicher-stoffes ist in der Regel so beträchtlich, dass vom übrigen Zellinhalt nicht viel wahrgenommen werden kann, trotzdem noch ein Zellkern, zahlreiche durch Querbrücken miteinander verbundene und in Schraubenform angeordnete Blattgrünträger zum Zellenleib gehören. Auffälligerweise bemerkt man von dem so kennzeichnenden roten Farbstoff nur einen Schimmer. Es ist eben genau so, wie wenn wir rote Blutkörperchen in dünner Verteilung unter dem Mikroskop betrachten; auch sie sehen dann fast ungefärbt aus. Die Auffälligkeit in der Rottönung ist in jedem Falle ein Summationsergebnis, das sich dann einstellt, wenn die gefärbten Zellen in grösserer Zahl über-einanderliegen. Der von den Fachleuten Hämatochrom genannte und von den Chemikern als Modifikation des Carotins angesprochene rote Farbstoff findet sich in Form feinster Tröpfchen dem Zellplasma eingelagert und kann durch Ausseneinflüsse, besonders Unterschiedlichkeiten in der Belichtung, passiv, entweder zur Ausbreitung ( bei intensiverem Licht ) oder zur Zusammenballung ( bei Nacht und starker Beschattung ) gebracht werden. Deshalb kommt es, dass die Blutalge das Gewässer am Tage und über die Hauptzeit des Sommers lebhaft rot erscheinen lässt, während bisweilen zu Beginn der Vegetationszeit und sicher gegen den Herbst zu die Alge und damit auch das Gewässer grün getönt sind. Die Rottönung kann biologisch als Lichtschutz gedeutet werden; andrerseits konnte aber auch nachgewiesen werden, dass Hämatochrombildung speziell bei Stickstoffmangel zustande kommt. Gegen das Vorderende zu lässt sich bei unserer Alge ab und zu eine tiefer rot pigmentierte Stelle, ein sogenannter Augenfleck nachweisen, der die Bedeutung eines optischen Sinnesorganells haben soll. Diese Einrichtung sowie der Hämatochromgehalt haben dem Organismus den wissenschaftlichen Namen Euglena sanguinea ( blutfarbiges Schönauge ) eingetragen.

Die das Gewässer überziehende « lebende Haut » wird als Wasserblüte und die Gesamtheit der an ihrer Zusammensetzung beteiligten Kleinlebewesen als Neuston bezeichnet. Neben unserer Euglena sanguinea begegnet man darin noch weiteren pflanzlichen und tierischen Mikroorganismen, die aus begreiflichen Gründen nie entscheidende Bedeutung erlangen können. Bei den Begleitorganismen handelt es sich teils um echte Schweber oder Plankter, teils um Verirrte des Gewässergrundes oder des Uferbezirkes! Die Fauna ist vertreten durch Arten aus den Klassen der Wurzelfüssler, der Rädertierchen, der Strudelwürmer, Fadenwürmer, Ringelwürmer, Krusten-oder Krebstiere und der Insekten. Auf der floristen Seite handelt es sich um Angehörige aus fast allen Algenklassen. Die interessierten Biologen haben sich wiederholt gefragt, ob das Neuston oder doch wenigstens die ganzen Mikroorganismenbestände der « Blutseen » als eigentliche Biozönosen ( Lebens- gemeinschaften ) angesprochen werden können oder ob es sich bei den betreffenden Organismengruppierungen mehr um Zufälligkeitsresultate handle, denen keinerlei Spezifität zukomme. Der Streit der Meinungen ist noch nicht endgültig entschieden. Wenn das gesamte Gewässer als Lebensstätte berücksichtigt wird, so haben sich auf Grund meiner neuesten Untersuchungen, über die in der Fachliteratur nächstens berichtet wird, wenigstens für den botanischen Teil Anhaltspunkte ergeben, die zugunsten eines positiven Entscheides ausgewertet werden können.

Die Besiedlerschaft der « Blutalgengewässer » ist gleich wie jede andere Organismengruppierung säkularen und saisonalen Veränderungen unterworfen. Den Anfang in den auf kalkhaltigen Schiefern anzutreffenden Euglena-tümpeln bildet eine Gesellschaft von fädigen Jochalgen, während die Zier-algen, in der Initialphase wenigstens, eine sekundäre Rolle spielen. Die Ent-wickungstendenz weist in der Regel nach der eutrophen ( nährstoffreichen ) Seite hin. Zufolge der gelegentlichen oder auch öfteren Verunreinigung und Düngung des Gewässers durch Einschwemmung und Fäkalimport kommt es zum Überhandnehmen des fäulnisliebenden Elementes unter den Mikroorganismen und im Zusammenhange damit zu einer jauchigen Vertrübung des Wassers, bedingt durch Massenentwicklungen der Euglenen und gewissen einzelligen Grünalgen und am Gewässergrunde zur Bildung eines echten Faulschlammes, was bei Gewässern in der subalpinen und alpinen Stufe eine Ausnahmeerscheinung bedeutet.

Im Verlaufe der sommerlichen Vegetationszeit, die an der oberen Grenze des Blutseevorkommens auf dreieinhalb Monate reduziert sein kann, erleidet die Euglenen-Population fortgesetzte Verschiebungen in ihrem Bestände, wobei der Abgang jeweils durch eine entsprechende Reproduktionstätigkeit ausgeglichen werden muss. Die Ersatzschaffung, die durch Längsteilung der Zellen erfolgt, scheint im allgemeinen keinen besonderen Schwierigkeiten zu begegnen. Das Maximum der Vermehrung scheint mit der sommerlichen Überhitzung des Gewässers zusammenzufallen. Gelegentlich kann es dazukommen, dass kleinere Blutalgengewässer völlig austrocknen und die abgesetzte Kahmhaut zu rötlichem « Meteorpapier » verkrustet und verfilzt.

Das Auftreten von Euglena-Blutseen in unseren Alpen scheint an ganz bestimmte geographische, orographische und edaphische Bedingungen geknüpft zu sein. Die in ihrer Grosse reduzierten flachgründigen Gewässer liegen fast ausnahmslos sonnig auf Terrassen und Böden in beraster Umgebung und mit kalkhaltigen Schiefern im Untergrund. Den in Frage stehenden permanenten Kleingewässern fehlen irgendwelche Zu- und Abflüsse; ihre Speisung geschieht durch die Atmosphärilien und durch Zurinnen von Schmelz- und Sickerwasser. Ihr Wasser ist ziemlich elektrolytarm, weich und starker Erwärmung fähig. An sonnigen Hochsommertagen beträgt die Wassertemperatur meist über 20° und kann im Maximum auf 28° C steigen. Entweder ist das Gewässer völlig leer an höheren Pflanzen, oder es weist eine soziologisch wohldefinierte Pflanzengesellschaft auf.

Bezüglich der geographischen Verbreitung der « Blutseen » in unseren Alpen orientiere man sich an dem beigegebenen Übersichtskärtchen. Es Die Alpen - 1947 - Les Alpes16 fällt auf, dass sich das Vorkommen auf Zonen mit ganz bestimmtem, petrographischem Charakter konzentriert. Der Mehrzahl von ihnen begegnet man im Verbreitungsgebiete des Bündner Schiefers und dann in der Flyschmulde zwischen dem autochthonen Gebirge und den helvetischen Decken.

Einige historische Daten zur Kenntnis der « Blutseen » in unseren Alpen: Blutsee auf der Wengernalp entdeckt durch Ehrenberg, 1849, dito bei Hospental; Blutsee auf der Grossen Scheidegg, aufgefunden von Perty, 1850. Bekanntwerden der zwei Blutseen am Brüggerhorn bei Arosa durch die Publikationen von Thomas in den Jahren 1897 und 1900 ( von diesem Autor stammt auch die Bezeichnung « Blutsee » als Abkürzung für Blutalgensee ). Nachweise von Blutalgen-gewässern in der Montagne des Pitons ( Savoyen ) durch Chodat, anfangs dieses Jahrhunderts. Nennung von 18 Blutseen in der Veröffentlichung von Klausener, 1907. Blutsee auf der Wengernalp, festgestellt von Garns, 1908. Blutseen am Stätzerhorn, Heinzenberg, St. Galler Oberland, Blackenalp am Surenenübergang, auf der Grossen Scheidegg, entdeckt in den Jahren 1940 bis 1945 durch den Verfasser. Blutsee auf der Engstlenalp, aufgefunden durch Jaag 1945.

Fig. 1. Haematococcus pluvialis, Regen-Blutkugel Fig. 2. Glenodinium sanguineum Mar-chesoni, Blutfärbung erzeugendes Augentierchen Fig. 3. Euglena sanguinea, blutfarbiges Schönauge mit rotem Farbstoff Fig. 4. Dasselbe, aber ohne Rot-pigmentierung Neben den Euglena-Blutseen gibt es noch weitere Blutalgengewässer, die einen anderen Erreger als Ursache haben. 1863 gibt Brügger Rotfärbung des Flimser Caumasees mit Lampro-cystis roseo-persicinus als Erreger an. Im Jahre 1935 machte uns Huber-Pestalozzi auf einen Blutsee im Samnaun aufmerksam mit Haematococcus pluvialis als Urheber. Abermals eine andere Ursache besitzt das blutfarbige Leuchten des Tovelsees im Südtirol ( Glenodinium sanguineum Marchesoni ).

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