Die Ersttraversierung der drei Palügipfel im Jahre 1868
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Die Ersttraversierung der drei Palügipfel im Jahre 1868

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Gerhardt Georg, Allenwinden ZG

Bilder 34 bis Am 23.Juli 1968 erschien in der Neuen Zürcher Zeitung ( Nr.446 ) folgende Notiz:

Am 22. Juli jährte sich zum hundertstenmal die erste Traversierung der drei Gipfel des Piz Palü bei Pontresina. Diese damals stark beachtete Leistung wurde von den Bergsteigern Wachtier aus St. Gallen, Wallner aus Wien und Georg aus Nürnberg in Begleitung der beiden Bergführer Hans und Christian Grass aus Pontresina vollbracht. Die Erstbesteigung des Piz Palü hatte - am Ostgipfel -fünf Jahre vorher stattgefunden.

Wilhelm Balthasar Georg ( 1846-1934 ), der Nürnberger Teilnehmer an dieser Bergfahrt, war mein Grossvater. Als Zwanzigjähriger hatte er im Verlauf einer Typhusepidemie nur wenige Tage hintereinander Vater und Mutter verloren und in der Folge die Verantwortung für seine jüngere Schwester und den elterlichen Betrieb - eine kleine Malzfabrik - übernehmen müssen. Er war ein beweglicher junger Mann, der die ihm so früh zugefallenen Mittel sowohl zu nutzen als auch zu verwenden wusste, zu nutzen, indem er später im benachbarten Schweinfurt eine grosse Malzfabrik aufbaute und als Industrieller zu Ansehen gelangte, zu verwenden, indem er sich in der Freizeit eifrig Sprachstudien, der Musik und dem Zeichnen widmete und Reisen unternahm, die ihn schon vor 1868 ins Berner Oberland und an den Ortler führten, wo er sich für das Bergsteigen begeisterte. Ein Aufenthalt im Engadin brachte ihm dann die Gelegenheit, an der Palü-Über-schreitung teilzunehmen.

Ich wusste zwar, dass er über diese Bergfahrt einen handschriftlichen Bericht hinterlassen hatte, doch gelangte ich erst vor einiger Zeit und durch einen glücklichen Zufall in dessen Besitz.

Das Lesen des mit einer Stahlfeder äusserst fein geschriebenen Textes war allerdings mit einigen Schwierigkeiten verbunden, und obschon es nicht eines gewissen Reizes entbehrt, diese alte deut- sche, mit französischen Redewendungen vermischte Schrift zu studieren, brauchte ich dazu neben einer tauglichen Lupe doch auch eine beträchtliche Portion Geduld.

Die Tatsache, dass der Schreiber der Interpunktion und der Orthographie keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, legt die Vermutung nahe, es handle sich eher um Notizen zu einem Vortrag. Die spontane Art der Schilderung dürfte aber bei seinen damaligen Zuhörern, von denen bestimmt nur wenige jemals über die notwendige Zeit und die materiellen Mittel für ein solches Unternehmen verfügten, Freude und Begeisterung ausgelöst haben, vermag der Bericht doch heute noch durch seine Ausdrucks- und Er-lebniskraft zu fesseln. Zudem scheint mir die Erzählung von einer heiteren, ja glücklichen Zeit Zeugnis abzulegen, als junge Menschen sich über die Grenzen hinweg zusammenfanden, um mutig Unternehmungen anzupacken, für die wir heute noch eine gewisse Hochachtung empfinden.

Fast genau i io Jahre nach dieser denkwürdigen Besteigung können wir nun unseren Lesern diesen authentischen Bericht vorlegen.

Damit sich jedermann eine Vorstellung von dem 33 Seiten umfassenden Manuskript machen kann, fügen wir wenigstens eine einzelne Seite davon als Beispiel ein, und nachfolgend wird der ganze Bericht in für uns geläufigem Deutsch, jedoch in engster Anlehnung an den Urtext, wiedergegeben; dabei werden Ausdrücke wie « Muth », « Hülfe », « Brod », « Grad » ( für « Grat » ) nicht übernommen, verschiedene französische « c » zu « k » - z.B. « Construction » zu « Konstruktion » -und gelegentlich auch Bergnamen berichtigt.

Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass von den beiden in diesem Bericht so löblich erwähnten Bergführern Hans und Christian Grass noch Urenkel leben. Ihnen sei der nachfolgende Bericht im besondern gewidmet.

Das Manuskript

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Der Bericht:

Wühelm Balthasar Georg, f 1934 Es war der 21 .Juli 1868, ein prächtiger Tag, als ich mit dem Führer Grass und einem Herrn aus Tirol auf der Is(o)la Persa inmitten des Morteratschgletschers, einen Augenblick Proviantsack und Flasche vergessend, in lauten Jubel ausbrach ob der erhabenen Gletscher-Szenerien, der blinkenden Schneespitzen, die uns umgaben. « Und das ist der Palü? » fragte ich den Grass, mit dem Finger nach einer breiten Masse deutend, die augenscheinlich in gar bedenkliche Kämme und Spitzen auslief. « Ja, Herr, das ischtere. » — « Das war'was für Euch, Herr! » wandte er sich an den Tiroler. Dieser schmunzelte beifallig. Und wahrlich, der Kerl, der Palü, blickte so herausfordernd herunter, dass mir 's selbst durch jede Faser des Gletschersteigers bebte. Als Grass die Mitteilung beifügte, dass die beiden Spitzen Muottas und Spinas noch nicht überschritten seien und eine Überschreitung des sie mit dem Palü verbindenden Grates wohl zu wagen sei, war der Tiroler Feuer und Flamme. « Da muss i », rief er vom Sitze aufspringend, « da mussi auf! » —«Und mich nehmen Sie mit! » wandte ich mich, wenn auch mit etwas Schüchternheit und Beklommenheit, an ihn. Mein Begleiter, ein Bozener Kauf- und Handelsherr mit dem Aussehen eines kriegsge-dienten Militärs, war ein ganz patenter Steiger. Als Probe will ich nur anführen, dass ihm heute beim stärksten Steigen und Klettern die mit türki- schem Tabak gefüllte kurze Pfeife noch nicht ausgegangen war. « Hm! » lächelte er zum Grass hinüber, « ich glaub ', wir können 's wagen mit dem Herrn!»-«Ja! Folg'nmusser halt! Er is mer als a bitz z'schneidi! » klang 's zurück. Der Ein-wurfwar bald beseitigt. Ein Handschlag - und die Verschwörung war entworfen.

Kommenden nachmittags wollten wir nach der Bovalhütte, welche die Führer hinten im Gletscher am Fuss der Tschierva zur Erleichterung der Bernina-Ersteigungen erbaut hatten, und dort übernachten, anderntags ziemlich nahe an den unteren Firnen des Bernina vorüber, uns an der Bellavista vorbeidrängen und von der dortigen Furkula den Anstieg an die erste Spitze des Palü ausführen. Von da ab sollten der scharfe, die beiden Spitzen weiter verbindende Grat und die beiden Spitzen selbst überschritten werden. Doch gestanden wir diesem letzteren Teil des Planes das Problematische gerne zu. Der Abstieg sollte im Falle des Gelingens in der dem Cambrena nächst liegenden Firnmulde stattfinden. Von da an wollten wir uns über den Vadret Pers nach der Diavolezza durcharbeiten und über die Bernina-Häuser nach Ponte Resina ( Pontresina ) zurückkehren.

Die gewöhnliche Besteigung des Piz Palü geschieht auf dem Weg, den wir als Rückweg in Aussicht genommen hatten, schwingt sich jedoch bei der Einsattelung zwischen dem Spinas und Cambrena hinter den beiden Spitzen weg und nimmt den Palü durch einen Aufstieg von rückwärts, worauf als Herunterweg gewöhnlich der genommen wird, den wir als Anstieg projektiert hatten.

Zuvörderst habe ich nun einer Begegnung zu gedenken. Zurückgekehrt von der Isola Persa, schlenderte ich mit dem Bozener mit echt bayrischen Grundsätzen einem Glas Bier zu, als ein paar ausgesucht originelle Gestalten unsere Blicke fesselten: Tiroler comme il faut! Grüne Strümpfe, nacktes, verbranntes Knie, Spielhahnfeder, wahre Leckerbissen für einen Genre-Maler. Ich war nicht wenig erstaunt, als der eine meinen Begleiter herzlich begrüsste und sich als Mitglied des Wiener Alpenclubs vorstellte. Der andere war der Führer Pinggera, der mit Oberlieutenant Payer den Ortler und die Königsspitze bestiegen hatte. Der Wiener erging sich sofort, mit wahrer force das Tiroler Idiom pflegend, in Erzählungen der rasendsten Heldentaten, sie hie und da mit einem gefälligen Blick auf sein verwildertes Aussehen begleitend, das zu den Dingen zählte, die er mit Stolz herauskehrte. Wir konnten nicht umhin, ihm unsere Pläne mitzuteilen. Dass er mitsteigen müsse, verstand sich wohl von selbst. Den anderen Tag traf er zur rechten Zeit im Hotel ein. Ich hatte eben mit der munteren Frau des Gastwirtes Enderlin den Proviant geordnet und unter Lachen die Hammelskeule gewogen, die den Sieg sollte erreichen helfen, und begegnete ihm, aus der Küche tretend. Da stand er vor mir, das vollendete Bild des kühnen Steigers, bei dem der riesige Stock nicht eben die kleinste Rolle zu übernehmen schien. Ich erinnere mich heute noch mit Vergnügen des Blicks, der mich traf, der so ziemlich die ganze bewusste Überlegenheit enthielt, mit der der Berg-Nimrod dem aufkeimenden Dilettantismus begegnete.

Die kleine Karawane war ziemlich bald in Ordnung. Mit Eisbeil, Seilen und Proviant gerüstet und bepackt, schritten unsere Führer einstweilen voran. Es war der schon erwähnte Hans Grass, der mit Walther und Jenny zu den besten Führern des Engadins zählte, und dessen Bruder Christian Grass, ein strammer Bündner. Trotz des Antriebs ihrerseits ging 's bei uns Touristen langsamer, mussten wir uns doch erst von der Gesellschaft verabschieden, besonders von deren liebenswür-digerem Teil, den Damen ( es waren damals nur Deutsche bei Enderlin - ein gemütliches Zusammensein ), die uns mit feierlichem Ernst eine schnell gefertigte Fahne überreichten, die am nächsten Tag den Ponte Resinern unseren Triumph verkünden sollte. Enderlin, der frühere Bergsteiger, sah uns traurig nach, denn die Ehehälfte hatte ihr Verbot aufrecht erhalten. Einige Herren gaben uns das Geleit bis an den Gletscher. Sie wollten unsere Tour vom Languard aus ver- folgen und versprachen scherzweise, uns im Falle des Gelingens mit Champagner zu empfangen.

Obgleich der Weg ein äusserst dankbarer und bequemer ist, wenn man der neu angelegten Poststrasse nachgeht, verfolgten wir doch den hart am Muottas und Chalchagn hinziehenden Fusssteig, der uns für heute kühlen Schatten gewährte. Wir kannten ja die Schönheit des Blickes von der Ber-nina-Strasse besser als der englishman, der, bequem auf einem Esel reitend, die Aussicht in seinem guide of Switzerland studierte, keinen Blick vom Buche wendend. Wir kannten das Überra-schen, das den Wanderer überkommt, wenn ein schneeiges Haupt nach dem anderen hinter dem verbergenden Chalchagn auftaucht und endlich das kolossale Massiv des Bernina in blendendem Weiss, durchkreuzt von schwarzen Felsschroffen, hervorspringt und das ganze grosse Gletscher-Amphitheater den Blicken aufgeschlossen daliegt, ein Gletscherbild, das sich den berühmtesten der Schweiz keck anreihen lässt.

Am Ufer des trüben Flatzbaches durch Arven, Lärchen und Föhren wandelnd, gelangt man nach der Alp Nuova, einem malerischen Fleckchen Erde, von wo man in wenigen Schritten das Gletschertor erreicht. Wir lassen es heute unberücksichtigt und wenden uns an die rechte Seite des uns entgegenstarrenden Gletscherstromes, einem Steig folgend, der hart am Ufer des Gletschers hinzieht. So zahm der Gletscher an seinem Ausfluss ist, wir beschritten ihn nicht. Der Weg gönnte uns rascheres Vordringen. Da der Morteratschgletscher einer von denen ist, die momentan im Vordringen begriffen sind, ist die Seitenmoräne unbedeutend und verschwindet teilweise ganz. Hart am Eis blüht die Alpenrose. Unmittelbar lehnt sich das Eis gegen den bewachsenen Boden und leckt mit unerbittlicher Gewalt an den Wurzeln des Lebens. In eisiger Umarmung kämpft die Arve mit dem Gletscher. Sie kämpft umsonst; die fortschiebende Gewalt beugt und verschlingt sie. Mit den Weiden und Matten fällt sie, ein Opfer der Natur. Früher erstreckte sich die Alp Nuova bis an die Hänge des Munt Pers ( ver- lorener Berg ). Er ist vom Gletscher überholt, daher sein Name.

Was die Ableitung des Namens Morteratsch betrifft, so soll er dem Keltischen « Mortari », « Morter » bei den Engadinern, entstammen. Er heisst Wald, der jedenfalls die frühere Talsohle schmückte;«—atsch»ist lediglich die vergrössernde Endsilbe. Eine andere Ableitung basiertauf einer Volkssage, nach welcher ein niederer Hirt Aratsch mit der Tochter einer vornehmen Familie Pontresinas Bekanntschaft anknüpfte, was die Eltern mit Verdruss gewahrten. Dennoch sagten sie ihm das Mädchen zu, aber unter der Bedingung, dass er sich einen höheren, würdigeren Stand erringe. Der Bursche zog in fremde Kriegsdienste. Das Mädchen aber härmte sich und starb, nachdem sie lange keine Kunde erhalten hatte, von Gram verzehrt. Aratsch aber kehrte nach langen Jahren als verdienter Offizier zurück, besichtigte nochmals die Hütte, in der er sein Mädchen kennengelernt hatte, und verschwand von da spurlos. Die Jungfrau aber erschien noch eine Reihe von Jahren in der Alp dem fleissigen Senn, den Ertrag mehrend. Da sie jedoch von einem neuen Senn beleidigt wurde, floh sie.Von der Zeit an verödete die Alp mehr und mehr. Der Gletscher verschlang Stück für Stück, und jetzt ist sie zurückgedrängt bis zur heutigen Alp Nuova. Das Mädchen aber erscheint noch jetzt Jägern und Hirten mit dem Seufzer « Mort Aratsch » ( Aratsch ist tot ), und daher der Name Morteratsch und das in kürzesten Zügen die Sage von der « Signura da Morteratsch ».

Betrachtet man die Frage von dem Gesichtspunkt, dass der Gletscher den Namen des Berges trage, dessen Firnen er seine Entstehung dankt, so ist der Name Morteratsch ungerechtfertigt, denn die Firnmassen des Morteratsch brechen schon in bedeutender Höhe über dem Gletscher ab. Hauptsächlich sendet der P. Bernina seine Schnee- und Firnmassen herunter, dass man den Gletscher mit Fug und Recht Berninagletscher betiteln dürfte.

Der Morteratsch ist der grösste Gletscher der Berninagruppe und zählt zu den bedeutendsten der Schweiz. Er entspricht an Länge dem Gornergletscher in Zermatt, ist jedoch nur halb so lang wie der grosse Aletschgletscher des Berner Oberlandes, der eine Länge von vier Stunden hat und allerdings der grösste Europas ist.

Von den Firnfeldern des P. Bernina und namentlich vom Palügrat ist der Absturz des Morteratschgletschers ein selten rapider. In kolossalen Terrassen stürzt er mit wahrer Wucht herunter. In schweren Würfeln stehen die Eismassen aufgepflanzt, von langen und breiten Spalten und Schrunden durchschnitten, wie ich sie in gleicher Ausdehnung auf keinem Gletscher beobachtete. Der Bozener, der die Ötztaler Ferner, überhaupt sein heimisches Land, tüchtig durchforscht hatte, gestand offen, solches noch nie gesehen zu haben. Jede Gliederung ist im grossartigsten Massstab ausgeführt. Der berühmte Bossongletscher am Mont Blanc z.B. und der Rhonegletscher müssen in ihren Formen als feine Gotik bezeichnet werden gegen diesen massigen Zyklo-penbau. Von unten gesehen, türmt sich 's schwindelnd auf und stürmt, ein wahrer Titanenbau, den Höhen zu. Die Färbung ist im allgemeinen etwas matter, als ich sie später an anderen Gletschern, besonders am Jungfraufirn, von so blendender Weisse kennenlernte. Eine höchst interessante Erscheinung waren mir die ganz bloss gelegten Jahresringe des Gletschers. Denken Sie sich einen grossen Eisblock, durch mächtigen Druck über seine vielleicht waagrechte Lagerfläche so hinausgeschoben, dass die vordere Hälfte der Unterstützung entbehrt; es wird ein Moment eintreten, wo die überhängende Last so gross wird, dass sie sich von der Masse abtrennt und abstürzt, ganz ähnlich, wie die Bildung der schwimmenden Eisberge an den arktischen Gletschern vor sich geht. Nun ist eine grosse vertikale Bruchfläche entstanden, an welcher man genau die jährliche Schneeauflagerung erkennt, die von den vorhergegangenen und den folgenden durch einen leichten lichtbraunen Streifen getrennt ist, der seine Entstehung aufgewehten Staubteilen verdankt. Die Umwandlung des Schnees in festen Firn und Eis ist aufs deutlichste zu verfolgen und die Verdichtung durch allmähliches Engerwerden der parallelen Bänder greifbar veranschaulicht. Jede Unregelmässigkeit deutet auf eine grössere oder kleinere Menge atmosphärischen Niederschlages des betreffenden Jahrganges.

Der Ungestüme ( Gletscher ) wird bedeutend zahmer, wenn er die Is ( o ) la Persa passiert hat, die Seitenmoräne des Vadret Pers aufnimmt und sie zur Mittelmoräne umformt, wobei er hie und da Veranlassung nimmt, einen jener berühmten Gletschertische zu erzeugen, die ich nur hier und auch da nur in ziemlichem Miniaturzustand zu beobachten Gelegenheit hatte. Eine sehr nette Erscheinung sind die sogenannten Gletschermühlen, die ich ebenfalls nur am Morteratschgletscher beobachtete. Denken Sie sich ein Loch im Eis, drei Fuss im Durchmesser, 20 Fuss tief, wie sie in Form der Mittagslöcher auch an anderen Gletschern gefunden werden. Ein Gletscherwasser schiesst ziemlich tangential darauf los, zuvorderst überspringt es die erste Kante und schlägt dann gegen die gegenüberliegende Wandfläche. Die nächste Folge ist, dass eine rotierende Bewegung entsteht, und nun läuft das Wasser, durch Zentrifugalkraft getrieben, in fast geometrisch ausgebildeten Spiralen an den Seitenflächen hinunter. Nehmen Sie dazu das rollende Geräusch, die lichtblaue Färbung des Eises, die in wunderbar reichen Nuancierungen ins tiefste Blau übergeht, denken Sie an die im Sonnenlicht in Regenbogenfarben strahlenden und blitzenden zerstäubten Wasserperlen, so erhalten Sie ein Schauspiel von einer Schöne, die eben nur die Natur zu bieten vermag.

Doch lassen Sie mich zu unserer Tour zurückkehren. Rüstig waren wir bergan gewandert. Jetzt durchschritten wir eine Herde Bergamasker Schafe. Der Hirt, ein malerischer Italiener, gab uns stolz sein « buona sera ». Dann passierten wir eine Reihe von Kohlenmeilern, die letzten Marken menschlicher Tätigkeit.

Noch war alles blosse Parkett-Boden-Partie; doch jetzt stellte sich ein sogenannter Kamin, eine hübsche Kletterepisode, als Hindernis in den Weg. Wir klommen hinauf, so gut es ging. Die Hauptaufgabe dabei war, die Nachmänner nicht durch etwaige Hinterlassenschaften von Steinlawinen zu belästigen. Wie erwartet, wurde die Stelle glücklich gemacht, und bald darauf zeigte Grass durch seinen Jubelruf an, dass wir das Ziel der heutigen Wanderung, die Hütte Boval, erreicht hatten. Unter einen Felsen hinuntergescho-ben, schien die Hütte mit aus Steinbrocken aufgeführten Seitenwänden eine leidliche Nachtruhe zu gewähren. Das « hôtel imperial aux grands mulets » auf dem Bossongletscher, Hauptstation der Mont-Blanc-ascensions, ist freilich ein eleganter Luxusbau zu nennen gegen dieses « hôtel Lock of Bernina ». Mit heiliger Scheu trat ich in den etwa hundert Quadratfuss umfassenden dunklen Raum, nachdem Grass die als Türe und Fenster gleichzeitig dienenden Bretter weggehoben hatte. Mit grosser Gewandtheit war den Anforderungen des Comfort liebenden Europäers Genüge geleistet, Speise- und Schlafzimmer, Speisekammer und Küche zu einem Ganzen zusammengezogen. Nachdem sich mein Auge an das Dunkel gewöhnt hatte, entdeckte ich auch einige Kochgeräte: Tassen und Schalen, die mir nicht eben der Kaiserlichen Porzellan-Manufaktur von Sèvres entsprungen schienen, ein paar Blechtöpfe und eine Pfanne. Ein eiserner Dreifuss vollendete die Einrichtung, die, mit etlichen Steinen in Verbindung gesetzt, den modischen Herd ersetzen musste. Bald loderte und brodelte es. Die Hütte, von roten Streiflichtern magisch beleuchtet, war gerade hell genug, meine Versuche rationeller Kochkunst ins rechte Licht zu setzen. Da jedoch der Rauch anfing, sich energische Angriffe auf meine Augen zu erlauben, zog ich, einer sachten Rührung unterliegend, vor, das Freie aufzusuchen und mich zu den Gefährten zu gesellen, die sich auf eine benachbarte Felsplatte gemächlich hingestreckt hatten. Es war Abend geworden, unbemerkt war die Sonne hinter dem P. Tschierva hinunterge- sunken. Auf der Spitze lagerten die letzten Lichter, Zeugen des verschwundenen Tages. Die alte Gäa öffnete uns ihr Allerheiligstes. Da lag es vor uns, ein allgewaltiges Colosseum. Friedliche, heilige Ruhe war hingegossen über das bleiche Bild, gleichförmig aus gleichem Material gebaut, totem Eis. Und doch, welch ein Leben, welch ein Reichtum überraschend lebendiger Formen! Welch ein Kampf in dem plötzlich erstarrten Sturm. Darüber erhoben sich in ruhiger Klarheit die Allväter unseres Erdrundes, den ernsten Blick herunter gewandt. Da ragte der rauhe, massige Munt Pers und Arias. Auf breitem Piédestal erhebt sich der imposante Cambrena. Hoch aufgebaut türmt sich der Stock des Palü mit seinen kecken Spitzen. Dort thront die Bellavista auf den ewigen Firnfeldern, von sanftem Schimmer umflossen, und an versteckter Ecke winkt die Pyramide des Zupò. Sie alle scheinen nur die Trabanten des mächtigen Herrschers Bernina. Hoch in den Lüften wiegt er das ergraute Haupt, das Ganze dominierend durch die Kraft und Fülle seiner Formen. Ihm folgt der Dom des Morteratsch. Der Tschierva mit den grotesk herabhängenden Firnen schliesst die Szene, eine Szene erhabener Majestät. Unsere Plaudereien waren verstummt; der tiefe Ernst des Eindrucks hatte uns wahrhaft erschüttert. Erst Grass weckte uns mit seinem Ruf zum Abendessen aus unserem Sinnen. Wir eilten in die Hütte, genossen das in patriarchalischer Einfachheit servierte Abendbrot, und bald darauf fand uns die hereingebrochene Nacht in wollene Decken eingehüllt, auf dem Heulager hingestreckt, in Morpheus'Armen. Trotz der eisernen Ruhe, die über den Gletschern herrschte, welche nur in grossen Pausen von dem Krachen einstürzender Eisnadeln oder dem Getöse einer Steinlawine unterbrochen wurde, konnte ich zum Leidwesen meiner Nachbarn keine Ruhe finden. Ich kannte die Gefahren, die mit grösseren Besteigungen verbunden sind, den Nimbus, der sie umgibt. Was Wunder, wenn ich mich bei dem Gedanken an unser morgiges Vorhaben in eine Aufregung versetzte, die mich kei- nen Schlaf finden liess. So war ich denn auch derjenige, der in der Frühe Reveille schlug. Ich fachte die Glut von gestern an und sah nach der Uhr. Es war 2 Uhr.

Trotzdem mein Eingreifen in die Nachtruhe für verfrüht gehalten wurde, schickte sich Grass an abzukochen. Er bereitete einen gar wundersamen Trank, Schokolade in Rotwein gekocht, nach echt englischem Rezept. Er reichte es mit sichtlichem Stolz. Allein, nachdem es gekostet war, lehnten wir es als für deutsche Gaumen ungeniessbar ab, dem bekannten schwarzen Gebräu den Vorzug gebend.

Mit Verwunderung sah ich den Manipulationen des Pseudotirolers zu. Es hatte erst einiger geschlossener Angriffe auf sein Trägheitsmoment bedurft. Jetzt schickte er sich an, Unterbeinkleider anzuziehen. Denken Sie sich diese Karikatur: bocklederne Kniehosen, grüne Wadenstrümpfe und an Stelle des nackten Knies das unverschämte Weiss eines leinenen Beinkleides. Ich konnte mich weder der Bemerkung, dass jetzt der Tiroler flöten ginge, noch eines leisen Zweifels an seiner Tüchtigkeit enthalten. Wir traten vor die Hütte. Hu, da ging 's frisch herauf. Mein kleiner Thermometer zeigte — 2 Grad, recht geeignet, die schlaftrunkenen Augen zu erfrischen. Irgend ein günstig gesinnter Wetterdämon schien uns einen guten Tag bereiten zu wollen. Der herrlichste Sternenhimmel wölbte sich über den Eiskronen der Berge. Kein Wölkchen war am Himmel. In ungetrübtem Glanz lächelte nur der Herold des jungen Tages, der Morgenstern, seinen Gruss uns zu. Bald leuchtete er unseren Tritten. Um drei Uhr marschierten wir ab, fest und entschlossen, unser Möglichstes zu leisten. Über die Seitenmoräne hinunter stolperten wir dem Gletscher zu. Wer von den Herren schon recht steinige Moränen überklettert hat, wird ihre Vorzüge zu würdigen wissen. Mir waren sie immer etwas sehr Unliebsames. In einigen Minuten hatten wir den Gletscher erreicht und setzten den Fuss aufs erste Eis. Beinahe 14 Stunden mussten wir noch darauf verbringen.

Das Morgenbild, das sich offenbarte, hatte nicht nur neue Reize, sondern der ganze Charakter der Landschaft von gestern schien sich geändert zu haben. Licht und Schatten waren weniger markiert, sanfter verteilt. Die Formen schienen gerundeter. Ein leichter Silberschimmer von wunderbarer Weichheit war über den Gletscher hingehaucht. Ein märchenhafter Zauber lag auf dem Ganzen, ein Bild elegischer Zartheit für Sen-timentalisten. Der Wiener liess sich seine Steigeisen anbandeln. Wir hatten keine. Sie finden nur in Tirol ihre Anwendung, nie in der Schweiz. Ich halte sie für überflüssig, da ein gut mit Stahlnä-geln beschlagener Schuh sie ersetzt. Ich selbst habe alle meine Besteigungen ohne Eisen gemacht.

Das schwache Licht erlaubt uns anfangs nur vorsichtiges, ruhiges Vordringen. Durch die starken Zerklüftungen bietet der Übergang über den Morteratschgletscher freilich Schwierigkeiten, bedeutend mehr zum Beispiel als der Grosse Aletschgletscher und das Eismeer in Chamonix. Lange Querspalten, die umgangen werden, dann und wann ein kühner Sprung, Kämme und Eisnadeln, glatte Eisflächen, die zu erklimmen sind, hie und da eine Schneebrücke - alles Sachen, die sich oft wiederholen, mit denen man nach und nach vertraut wird.

Einer Passage erinnere ich mich jedoch mit Vergnügen. Wir kamen an einer langen Spalte an. Drüben stand eine steile Wand, in der Mitte von einer aufstrebenden Eisnadel unterbrochen, die an ihrem Ende mit dem Rücken der Wand durch eine Schneebrücke verbunden war. Es war ein Hindernis, das Grass mit merkwürdigem Scharfsinn benützte und zurücklegte. Ans Seil gebunden, sprang er zuerst in die Einsattelung und begann nun an der Eisnadel eine Wendeltreppe anzulegen, die freilich den Konstruktionsgrund-sätzen unserer heutigen Baukunst nicht entsprechen mochte, aber immerhin erlaubte, wenn sie mit Vorsicht begangen wurde, die obere Schneebrücke und von da den Kamm zu erreichen. Grass war, mit Katzengewandtheit kletternd und arbeitend, oben angelangt. Einzeln folgten wir mit Hilfe des zugeworfenen Seiles nach.

Um 4 Uhr hatten wir den Gletscher hinter uns. Es war schon taghell. Die Sterne waren langsam verblichen, und die höchsten Spitzen fingen an sich zu röten, gleich ausgestellten Hochwachten das Nahen der Sonne verkündend. Wir hatten die Firne der Bernina erreicht, und mit Inangriffnahme ihres Abfalles begann dann der eigentliche Anstieg. Grass nahm die Gürtel von der Schulter. Von sechs zu sechs Schritt wurden wir angeseilt. Er begann die Reihe. Der zweite im Glied war meine Wenigkeit. Mein Nachmann war der Bozener. Ihm folgte der maskierte Tiroler. Christen Grass bildete den Schluss der Kette. Er war, nebenbei gesagt, wacker bepackt, hielt aber den ganzen Tag tapfer aus. Die Reihenfolge wurde die ganze Tour durch beibehalten.

Am Anfang ging 's gut, bis das Einbrechen begann. Die oberste gefrorene Schneeschicht war nur sehr dünn und trug nur beim ruhigsten Auftreten. Ausser dem brach sie durch. Man sank ein bis an die Knie, häufig darüber, und war man erst einmal drin, so trugen die folgenden drei- bis viermal nicht mehr, so dass von uns Fünfen fast immer einer feststak.

Der Wiener hatte besonderes Missgeschick. Er mass die Schuld den Steigeisen zu. Sie wurden nun schliesslich abgeschnallt. Allein, es half nichts; alle Augenblicke hatten wir den Ruck am Gürtel, der mir mit der Zeit wirklich Übelkeit verursachte. Die Neigung begann unangenehm steil zu werden. Wir mussten gerade ansteigen, und das ständige Einsinken ermüdete Knie und Brust bedeutend. Wir fingen an, manchmal, nach und nach öfter, Halt zu machen. Jedesmal harrte dann ein Blick in der wundersamen Gletscherwelt - der uns entschädigte -, ein zweiter auf dem Palü — der uns anfeuerte -, und weiter ging 's wieder mit erneuten Kräften. Der ruhmredige Wiener aber erregte nachgerade unseren Unwillen. Nicht nur, dass er sich als Mann des gemässigten Fortschrittes herausstellte, sondern er liess sich geradezu ins Schlepptau nehmen, ja nahm sogar nicht An- stand, das Seil mit der Hand zu fassen und sich daran heraufzuwinden, so dass sein Vordermann sich ordentlich ins Zeug legen musste. Unsere Bemerkungen halfen nichts. Er brach in Klagen aus, so steige man nicht, und ob man ihn da herunter rackern wolleSo endigte dieser Renommist.

Die Einförmigkeit wurde durch überfrorene Felsplatten unterbrochen, die mittels eingehauener Stufen und äusserster Vorsicht überschritten werden mussten. Wieder lag ein Firnfeld vor uns. Sehnsüchtig suchten die Augen das Ende. Wir mussten uns aber noch ein paar Enttäuschungen gefallen lassen, ehe wir es erreichten. Noch mancher aufmundernde Blick auf den Palü unsererseits, noch mancher vonseiten der Grassen in die Flasche musste vorhergehen, ehe wir nach vierstündigem Marsch die Mulde überstiegen und damit die Bellavista erreicht hatten. Das Steigen bei der Steile hatte uns alle mitgenommen, und mit Freude begrüssten wir den Vorschlag, hier zu rasten und den Morgenimbiss zu nehmen.

Obwohl die Sonne schon lange über die Berge herauf war - es war 8 Uhr -, trafen erst jetzt die Strahlen unsere Scheitel. Bis hier waren wir im Schatten gewandelt, eine wahre Wohltat für uns. Sowohl die Reflexe des Lichtes als die strahlende Wärme steigerten sich oft bis zur Unerträglichkeit, und um Augen und Physiognomie zu schonen, muss man zu dichten Schleiern seine Zuflucht nehmen, die im Atmen hinderlich sind und einen lästig warmen Kopf machen. Bei gefahrdrohenden Stellen stört der Schleier die Sicherheit des Blickes und muss weggenommen werden.

Wir hatten an der Stelle haltgemacht, die auch der verdienstvolle Kantons-Forstinspektor Coax mit seinen Führern Jon und Lorenz Tscharner bei der erstmaligen Besteigung der Bernina am 13. September 1850 zur ersten Rast gewählt hatte und bei welcher er im Weiterschreiten folgende Schilderung gibt - erlauben Sie mir die Mitteilung seiner eigenen Worte: « Die erste Querspalte, die vom Firnmeer sich hier abbrach, übertraf an Schönheit alles, was mein Auge in der Gletscherwelt bisher gesehen. Die Spalte sah einer kleinen Talschlucht ähnlich, war mit Eistrümmern erfüllt, nur nach oben von einer senkrechten Wand begrenzt. Wie über Trümmer einer gefallenen Festung stiegen wir von der unteren Seite in die Tiefe der Gletscherschlucht. Welch feenhafter Ort! Nichts als Eismassen um uns, umwölbt vom reinen, blauen Himmel, die Sonne im Mittag. Die Gletscherwände, Türmchen, Blöcke und tausend bizarren Eisgebilde, die ringsum den kleinen Horizont bildeten, glänzten im buntesten, erblendend-sten Farbenspiel wie eine kolossale Diamantkrone. Die Luft war leicht und warm. Es war hier alles so rein, es herrschte eine so tiefe Stille, man wusste sich allem Treibender Welt so vollkommen abgeschlossen, dass uns eine feierliche Stimmung ergriff. » Er kann damit nichts anderes im Auge haben als die eine grosse Eiswand ( bella vista ), die sich dem Beschauer mit imponierender Schönheit quer entgegenstellt, und die unmittelbar davor liegenden tiefen Schrunde, die passiert werden müssen, deren eine er beschreibt.

Der Weg der ganzen Bernina-Besteigung lag uns vor Augen. Es muss ein ordentlich Stück Arbeit sein, dieses Riesen Herr zu werden. Er muss fast ausschliesslich über steile Kämme und Felsgrate genommen werden. Grass zeigte uns auch den von ihm gefundenen neuen Weg ( der Ausdruck « Weg » ist freilich unstatthaft ), der den P. Bernina gerade aufsteigend und auf die kürzeste Weise nimmt. Schon der Überblick dieser Route, die er zum erstenmal gemacht hatte, zeugt von der Verwegenheit und Tollkühnheit unseres Führers. Indessen, uns selbst lag so ein dem Gehirn des Grass entsprungener Gedanke vor. Nach halbstündiger Ruhe und Stärkung wurde das Werk wieder aufgenommen. Das Firnmeer lag in grossen Mulden und sanften Erhebungen vor uns. Immer sondierend, grosse Spalten umgehend, die kleinen im Sprung passierend, bewegte sich die Kette mit ziemlicher Regelmässigkeit vorwärts, tiefe Spuren im Schnee zurücklassend. Während im Gletscher die wilde Unregelmässigkeit fesselte, war es hier die stolze Einfachheit der langen Halden, die das Auge anzog.

Nach Durchschreiten der ersten Firnmulde lag der eine Zeitlang verborgene Palü im Glanz seiner blendenden Eisströme vor uns, der Gletscher tief zu unseren Füssen. Die Languard-Besteiger mussten unserer ansichtig werden. Über die schwach ansteigenden Schneegefilde avancierten wir erwartungsvoll gegen die Felspyramide des Palü, die sich plötzlich aus den umgebenden Firnregionen heraushebt. Immer mehr nahten wir dem Absturz, der vom Rücken des Palüstocks jäh in den Morteratschgletscher hinunterfällt. Bald hatten wir ihn erreicht und damit den Fuss des Palü. Es war io Uhr. Aber Donner! Eine grausige Schneide starrte uns entgegen. Die eine Seite brach beinahe senkrecht in den Morteratschgletscher ab, die andere unter einem Winkel von etwa 60 Grad in den unterdessen sichtbar gewordenen Palügletscher. Ein mahnender Blick des Grass, ein « Nehmt-Euch-in-Acht, Herr! » genügten, mich zu sammeln. Es begann ein maliziöses Klettern über den mit Steinen durchwirkten Kamm. Die grösste Aufmerksamkeit war nötig, um ein Ausgleiten zu verhindern. Ein Abfallen nach der Seite des Morteratschgletschers hin hätte eine Matterhorn-Szene hervorgerufen. Manchmal hatten wir die Schneide unter dem Arm und schritten auf dem Hang gegen den Palügletscher hin, manchmal befanden wir uns stehend auf dem Scheitel des Kamms; dann wagten wir nur mit scheu gebeugtem Nacken vorwärts zu schreiten. Nur Grass stieg, das Haupt frei tragend, kühn voran. Emsig suchten wir nach jeder schwanken Stütze für den Stock und spähten nach jeder kleinen Kante, nach jeder Ritze, nach jedem noch so geringen Vorsprung, welcher der Hand, dem Knie oder Fuss eine Stütze gewähren konnte. Die Aussicht nach vorne war uns durch den jeweiligen Vormann benommen. Da überraschte uns plötzlich Grass durch sein « Juaho! ». Er stand auf dem Gipfel des Palü!

Gipfel? Eine von Sonne und Tauwind blank ge-leckte Eisnadel, die Raum bot für einen Fuss. Grass machte sich darüber, die Spitze abzuschlagen und einen bequemen Standpunkt herzurich- ten. Einer nach dem anderen bestieg das kleine Plateau, einer nach dem anderen liess sein « Hurra! » ertönen. Der erste Teil unseres Vorhabens war erfüllt, der eigentliche Palü genommen. Ohne ein Wort zu verlieren, wurde Direktion nach der Spitze Muottas genommen. Schritt für Schritt stiegen wir, den Rücken gegen die Wand gelehnt, nach dem Grat hinunter, der Palü und Muottas verbindet, der beinahe waagrecht hinüberläuft und nur gegen das Ende stramm aufstrebt. Diese Passage war etwas zahmer als die vorhergegangene, da die Abdachung nach der Südseite bedeutend an Neigung eingebüsst hatte. Besonders hatten wir nicht unmittelbar an der Kante hinzuschreiten. Jedoch erinnere ich mich recht deutlich einer Stelle, die mir lebhaftes Herzklopfen verursachte.Von weitem schon hatte ich die starke Schneegwächte gesehen. Wenn wir fortfuhren, uns nahe an der Kante hinzuarbeiten, mussten wir sie betreten. Doch wollte ich nicht glauben, dass sie dem Auge des Grass entgangen sei. Ich erstaunte, als ich ihn stracks darauf zusteuern und sie betreten sah. « Sie sind auf einer Schneewinde! Sie wird uns nicht halten! » bemerkte ich. Die Antwort war lediglich ein mechanisches « Dummheit! ». Nun dachte ich: « Wenn's denn sein muss, ich steig schon nach. Tut's mein Nachmann, der Frau und Kind zu Hause hat, so kann ich 's auch tun. » Mir unbegreiflich, auch meine Kameraden mussten die Gefahr übersehen haben. Einer nach dem anderen betrat ohne Zagen die kritische Stelle. Endlich schwebten wir alle Fünf über dem gähnenden Abgrund, und jetzt, da keiner mehr die Tiefe unter sich gewahrte, jetzt sagte der Grass: « Treten's so leis auf, meine Herren, als könnt! » Jetzt hiess es Kopf und Herz auf dem rechten Fleck haben. Der Fall eines Einzigen hätte uns in die Tiefe geschmettert. Es waren nur wenige, aber peinliche Schritte. Gott sei 's gedankt, es passierte nichts. Unvergesslich sind mir aber die Wallungen meines Inneren. Mit der gewissen Zuversicht, dass ich der schwankenden Grenze zwischen Sein und Nichtsein nahte, betrat ich die Stelle; doch hätte diese feste Über- zeugung meinem durch die Antwort des Grass erregten Trotz nicht die Worte abgerungen: « Hier gehe ich nicht! » Nun machten wir uns daran, Rache zu nehmen und die Hand der Zerstörung an die Schneewinde zu legen.

Im Triumph flog ein Stück nach dem anderen in die Tiefe. In jähem Fall stürzten sie ab und trafen mit Donnergekrach den Gletscher, oder sie schlugen an die kristallenen Wandungen und flogen in weitem Bogen mit rasender Schnelle, sich um ihre Achse drehend, dem Gletscher zu, dort in tausend und abertausend Trümmer berstend, das Echo des Eislabyrinths weckend. Nun stellte sich aber heraus, warum unser Führer nicht aufgemerkt hatte. Ein schwacher, dumpfer Knall drang aus der Tiefe des Gletschers herauf, und ein leichtes Rauchwölkchen stieg von der Isola Persa auf: Wir waren entdeckt! Grass aber hatte die Freunde schon lange gesehen, war aber nicht recht einig mit sich. In seiner Verschwiegenheit hinschlendernd, wollte er sich zuerst sicher überzeugen und hatte uns so einer Gefahr preisgegeben. Wie uns später mitgeteilt, drangen unsere Rufe beinahe verständlich in die Tiefe. Wir aber vernahmen nicht den geringsten Laut. Der Palü hat eine Höhe von 3912 Metern, die Isla Persa 2490, also eine Höhendifferenz von 1422, wovon ein Vierteil, also 350, auf den direkten Absturz zu nehmen ist. In der stechenden Mittagsglut, um i i 3A Uhr, setzten wir den Fuss auf die höchste jungfräuliche Spitze Muottas. Es ist etwas Hehres an dem Gedanken, der Erste zu sein, der seine Schritte nach einem Punkt des Erdballes lenkt, der noch nie betreten, noch nie die Beute menschlicher Kraft war, ein Punkt, der, von der Natur begünstigt, schon vieler Begierden entflammt hatte. Das sind die Momente, die den Bergsteiger so mächtig packen, die ihn Mühsal und Strapazen, Sorge und Gefahren vergessen lassen. Er triumphiert, er war Sieger in dem Gang mit den rohen Kräften der Natur. F. v. Tschudi fasst das Motiv entgegen den Ansichten der Uneingeweihten, welche den Grund in die Sucht nach Ruhm verlegen, in folgende Worte: « Es ist das Gefühl geistiger Kraft, das den Steiger durchglüht und die toten Schrecken der Materie zu überwinden treibt. Es ist der Reiz, das eigene Menschenvermögen, das unendliche Vermögen des intelligenten Willens an dem rohen Widerstand des Staubes zu messen. Es ist der heilige Trieb, dem Bau und dem Leben der Erde, dem geheimnisvollen Zusammenhang alles Geschaffenen nachzuspüren. Es ist vielleicht die Sehnsucht des Herrn der Erde, auf der letzten überwundenen Höhe, im Überblick der ihm zu Füssen liegenden Welt, das Bewusstsein, seine Verwandtschaft mit dem Unendlichen durch eine einzige freie Tat zu besiegeln. » Doch besichtigen wir das Terrain. Es war eine sanfte, runde Schneekuppe, Platz für 15 Mann, die nach drei Seiten, Ost, Süd und West, in scharfen Schneiden verlief, ein angenehmer Ruhepunkt. In der Mitte wehte die Fahne, in den Schnee eingerammt. Mit donnernden Hochrufen war sie aufgepflanzt worden. Es war beinahe windstill, die Luft angenehm und mild, 19 Grad R, der Horizont bis auf Südost und Süd entwölkt, die fernen Konturen entschleiert. Wir waren belohnt. Da stunden wir, wie von einem Zauber gebannt, erhaben über das gemeine Erdentreiben, fern dem Getümmel künstlich erzeugten Zentrali-sationsglücks.

Da stunden wir auf der scharfen Grenze, die zwei grosse Nationen scheidet. Sie entzogen sich dem Auge. In gleicher Umarmung umschlang sie beide die Natur. Frei steht man, von nichts überragt als dem tiefblauen Himmel. Und doch fasste uns ein drückendes Gefühl, als ob Massen über uns hereinzustürzen drohten. Ist es der Kampf, der unerschütterlichen Monotonie des entstellten Bildes Herr zu werden? Sind es die unwillkürlichen Vergleiche des eigenen Selbst mit der erschlossenen Schöpfung? Doch wohin den Blick zuerst wenden, wo Ruhe finden im dem Ozean wogender Gebirgsmassen? In geschlossenen Ketten fassen sich die eisgepanzerten Spitzen. Fels lehnt sich an Fels, Eis gegen Eis. Weiss und schwarz sind die einzigen Farben, mit denen die Natur ihr Bild beschenkt. Da, über dem Morte- ratschgletscher hin gewahrt man ein Stückchen Idylle, den Talgrund von Pontresina mit dem Wald an den Hängen des Albris, von der Berninastrasse wie mit einem Band durchflochten. Darüber, etwas rechts, lugen die Felsspitze des Languard und jedenfalls auch seine Besteiger herüber. Zunächst fesselnd sind die zwei Gletscherbilder mit ihren Umrahmungen, an der Nordseite der Morteratschgletscher, der eine lange Zunge, einem Eis-gewordenen Lavastrome gleichend, ins Tal sendet, und der daran anschliessende Vadret Pers, ein grossartiges Becken, eingeschlossen vom erwähnten Munt Pers, P. Cambrena, Palü, Zupò, Gresta ( Crast ) Aguzza, Bernina, Morteratsch und Tschierva. Der Munt Pers schien uns nur noch ein kleiner Zwerg, der Zupò und Crast'Aguzza bildeten zusammen eine groteske Gruppe. Es sind zwei Eispyramiden, die kühn in die Höhe streben. Imponierend ist die schöne Kuppel des P. Morteratsch. Der P. Bernina mit seinen zwei Hörnern ist der Sieger über alle, überhaupt der Punkt, zu dem das Auge wieder und wieder zurückkehrt. Das zweite Bild ist der Palügletscher, ein blendend weisses Meer mit sanft gewellter Oberfläche, in der Mitte ein drohendes Felsnest. Er lagert auf einer breiten Hochebene im Schoss der umschliessenden Piz Verona ( Varuna ), Zupò und Palü. Zwischen den aufsteigenden Höhen gewahrt man die oberen Ränder der Ergiessungen in die tiefer liegenden Täler. Von der Vedretta da Fellaria und Scerscen erblickt man nur Bruchstücke.

Nach einer Stunde Rast wurden nun die Bündel wieder geschnürt und zum Aufbruch geblasen. Es begann das schwierigste Stück unserer Gletscherfahrt, der Grat zwischen Muottas und Spinas. Schon der Abstieg nach demselben war gefahrvoll. Alles andere aber, was wir heute schon geleistet hatten, musste zurückschrecken gegen den Gang, der jetzt drohte. Die Schwierigkeiten schienen sich mit unseren Fortschritten zu verdoppeln. Der Kamm war an den breitesten Stellen einen Fuss breit, lief aber meistens in der Breite eines halben hin, bildete nicht selten eine Schneide von der Dicke eines Bergstockes und war dabei von hartem, blankem Brunneneis. Ich muss sagen, ich erbebte, als Grass darauf bestand, nur auf der Schneide passieren zu wollen. Eine andere Manier, nach der Spitze Spinas zu gelangen, sei nicht möglich. Aufgeben wollten wir den bis hierher so glücklich durchgeführten Plan nicht. Also hiess es: Frisch gewagt! Links gähnte der Abgrund in schauerlicher Tiefe; grauenhaft war die Vogelperspektive in das Gewirr hochragender Eisnadeln, schneidiger Firste in die verschlungenen Irrgänge tiefschwarzer Schlünde und Klüfte - ein sinneverwirrendes Chaos an Schrecknissen. Rechts lag tückisch ein schneefreier, eis-brüchiger Abfall. Wehe dem, der, vom Grat abweichend, sich der lockenden Fläche anvertraute! Der erste Schritt müsste stürzen. Zu Hause hätte mich die Schilderung der Position schwindeln gemacht; hier wurde sie mit kaltem Blut glücklich ausgeführt, trotz eines Abfalles nach der Abdachung, den der Bozener mit Gewandtheit und Festigkeit paralysierte. Jedenfalls war dies der tollkühnste Gang, den ich je gemacht. Die schwierigsten Touren, wie die Überschreitung des Rottalsattels an der Jungfrau, der Kamm des Finsteraarhorns, halten keinen Vergleich mit diesem Gang aus. Ich würde kaum, da ich mit der Gefahr vertrauter bin, zu einer Repetition zu bewegen sein.

Erheblich vermehrt war die Schwierigkeit durch Massen kleiner Schneewehen an der Nordseite. Da wo nicht Schritt für Schritt ins Eis gehauen werden musste, musste mit dem Stock sondiert werden, und gar häufig hatten wir durch den Schnee ein Loch gestossen, durch welches uns das Weiss des Gletschers in Sicht kam. Begreiflicherweise wurde nur ganz piano vorgerückt, und nur dann, wenn einer ganz sicher und ruhig ein paar Schritte machen konnte, avancierte er, während die anderen warteten. Mit Zusammen-nähme aller Sinne erreichten wir den Dritten im Bunde, Spinas, einen vier Fuss langen, buckligen Kamm, und damit waren zunächst unsere Wünsche erfüllt. Das süsse Gefühl, dass unsere Beine uns nicht mehr höher zu tragen hatten, mutete uns willkommen an. Im Reitsitz hatten wir 's uns bequem gemacht und liessen noch einmal den Blick über das Meer der Gipfel und Dome gleiten, um es dem Gedächtnis recht einzuprägen. Dann begann der Rückzug, nicht mit den besten Aussichten. Die Ostseite fiel schroff nach der Furkula ab. Um das Begehen zu ermöglichen, musste eine förmliche Treppe angelegt werden, eine eminente Aufgabe für Grass, der trotz des gewagten Standes mit übergebeugtem Körper unter sich zu arbeiten hatte. Dazu waren die Stufen mit einer gewissen Genauigkeit zu schlagen, was hart hielt, da das Eis spröde wie Glas in Schalen absprang. Den Rücken gegen die Wand gelehnt, suchte man mit der Ferse sorgsam den nächsten Halt; langsam liess man sich ins Knie und setzte sich dann eine Stufe niedriger. Die geringste Verrückung unserer Schwerpunkte über die Stabilitätsgrenzen hinaus war gänzlich untersagt. Christian Grass, der nachfolgte und jetzt einen wichtigen Posten einnahm, hätte so einem Fehler kaum wirksam begegnen können. Manchmal fasste Grass meinen Fuss wie mit einer eisernen Klammer und setzte ihn in die Stufe, die ich nicht finden konnte. Um zwei Uhr waren wir über alle Gefahren hinaus. Kein Wunder, wenn wir einmal frei aufatmeten, lag doch der kommende Weg wie ein Spielwerk im Vergleich zum gemachten vor uns. Drei Stunden waren wir beständig der Gefahr eines zer-schmetternden Sturzes ausgesetzt gewesen. Es tat uns wohl, etwas mehr festen Grund unter den Füssen zu wissen, als der luftige Pfad geboten, über den wir balanciert waren. Mit Ruhe konnten wir das Auge schweifen lassen; es irrte nimmer ängstlich an einer Kante hin in die Tiefe. Das lange Firnfeld mit massiger Steigung, unten in eine ziemlich horizontale Ebene verlaufend, war zum Abfahren wie geschaffen, ja förmlich einladend. Es wurde Rat gehalten. Wir stimmten alle für freistehendes Abfahren, eine Beförderungsweise, die ungemein vorwärts bringt. Wir hatten es schon dutzendemal gemacht. Warum sollte es heute fehlschlagen? Die Seile wollten wir dazu anbehalten; wir hatten sie unten gleich wieder nötig.

Grass kommandierte « Abfahren! » und setzte sich mit ziemlicher Geschwindigkeit en route. Ich folgte. Doch kaum war ich ein paar Schritte gefahren, so wurde ich mit Gewalt in den Schnee zurückgeworfen. Mein sonst so tüchtiger Bozener war nicht bereit gewesen, das Seil zwischen ihm und mir hatte geschnellt, mich und ihn und in nächster Linie den Hans Grass niedergeworfen. Der Tiroler und Christian Grass standen noch fest auf den Füssen. Nun hatte die Hitze des Tages schon stark auf die Schneedecke gewirkt und sie erweicht, so dass der Schnee ziemlich patzig war. Unser Niederwerfen aber geschah mit solcher Vehemenz, dass wir die obere Schneeschicht durchschlagen und von der nächsten losgetrennt hatten. Sie fing an, mit uns schnell und schneller der Tiefe zuzutreiben. Um keinen Preis konnten wir drei Halt fassen. Unter den Füssen war jeder feste Widerstand verloren, alles eine gleitende Masse. Der Tiroler widerstand nicht lang den durch das Seil rückwirkenden Angriffen, so dass Christian Grass alleine auf den Füssen stand. Seine ganze Kraft aufbietend, stemmte er die Absätze hemmend in den Firn und bremste, den Rücken beinahe an die Wand gelehnt, den Stock krampfhaft in den Firn pressend, mit solcher Macht, dass er uns wirklich vereint mit unserem Widerstand zum Halt zu bringen schien. Doch schon war 's geschehen — ein gewaltiger Ruck, ich sah den Christian niederstürzen, und nun ging 's planlos der Tiefe zu, ein willenloser Spielball der entstandenen Lawine. An einen Widerstand war gar nicht zu denken. Fürchterlich wurden wir herumgeschleudert. Bald war der eine, bald der andere an der Spitze, und alle zerrten wir nur schmerzhaft an den Seilen. Die rasende Eile benahm uns den Atem. Man macht sich keinen Begriff, wie wir über- und durcheinandergeworfen wurden. In der Hüfte, in jedem Gelenk verdreht, war bald der Kopf, bald die Füsse voraus, bald lagen wir auf dem Rücken, bald auf dem Gesicht, bald waren wir von den Massen ans Licht geschoben und gehoben, bald von ihnen vergraben. Doch nicht einer verlor die Geistesgegenwart.

Wir alle hörten den Ruf des Grass: « Rechts Crevassen! Um's Himmels willen den Stock nit auslassen! » Kopf, Fuss, Arm, kurz der ganze Mensch ruderte nach links. Da flogen wir schon im Schwung über die Crevassen weg auf das überliegende Schneefeld. Die nachschiebenden Schneemassen fielen teils in die Kluft, teils verliefen sie sich noch weit hinaus. Wir hatten Halt gemacht, und zur rechten Zeit. Der Luftdruck hatte gedroht, uns das Atmen abzuschneiden. Nun schwanden mir aber die Sinne. Ich erreichte noch einen Schneeblock und krachte darauf zusammen. Es war die erste Ohnmacht meines Lebens. Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich meine Kameraden in ähnlichen Lagen mit leichenblas- sen Mienen. Der Tiroler lag noch, alle viere von sich streckend, auf dem Gesicht und rührte sich nicht. Ein wahres Wunder hatte uns erhalten. Hätte die Lawine Eistrümmer aufgenommen, sie hätte uns erschlagen. Hoch oben stand noch der Christen, vom Schreck gefesselt. Wir winkten ihm und riefen ein « AUes-wohlbehalten! » hinauf. Es war ihm der Gurt gerissen, und daher der uns unbegreifliche Schock. Die Hüte mussten im Schnee gesucht werden. Zwei waren verloren. Einen weiteren schmerzhaften Verlust beklagten wir in den begrabenen Feldflaschen. Das unangenehmste war, dass die Lawine dem Grass das Eisbeil ausge-rungen hatte. Es war das einzige, das wir bei uns gehabt hatten, und nun standen wir in der Mitte des Gletschers, wo es noch äusserst notwendig werden konnte. Mittlerweile kam Christian Grass mit dem Proviant an. Sein Gurt, woran das Seil befestigt war, war gerissen; daher unser beschleunigter Absturz. Ich verachte sonst alles konsequent, was Spirituosen heisst. Aber jetzt griff ich herzhaft nach der Iva-Flasche, die auf dem Rückzug befindlichen Lebensgeister zu erfrischen. Iva ist ein angenehmer bitterer Liqueur, der meines Wissens nur in Graubünden bekannt ist. Bereitet ist er aus der achillea moschata, Wildfräuleinkraut oder Iva genannt, einem Pflänzchen, das in der Höhe von 6 bis 7000 Fuss zwischen Granittrümmern gefunden wird. Bald stellten sich schlechte Witze ein, und damit war zunächst der feste Boden des Wohlbehagens wieder gewonnen. Zum Rückzug lagen uns zwei Möglichkeiten vor. Entweder konnten wir über den Absturz hinaus uns durch die Irrgänge breiter Quer- und Längsspalten nach dem Vadret Pers durchwinden oder am Stock des Cambrena hin nach Arias vorzudringen versuchen, ein gewagtes Beginnen, das uns der Anwendung des Gletscherbeiles enthob, aber durch das senkrechte Ansteigen seiner Felsetagen gerechten Respekt einflösste. Der Plan wurde aufgegeben und trotz der Misslichkeit, kein Eisbeil zu besitzen, der Entschluss gefasst, über den Vadret Pers heimzukehren. Grass hatte heuer den Gletscher noch nicht überschritten. So hatten wir uns bald total vergangen. Von allen Seiten klafften uns dunkle Crevassen entgegen. Mir war es unklar, wie sich das noch entwirren sollte. Grass wurde, wenn möglich, noch schweigsamer, brummte sein « Sapperment » und machte ein sorgenvolles Gesicht. Man fühlte ihm ab, dass ihm bei der Sache nachgerade unbehaglich zu Mut ward. Er knüpfte sich los und hiess uns stehenbleiben. Er schweifte nach beiden Seiten, um einen einigermassen erhöhten Standpunkt zu erlangen. Bald hatte er einen solchen mit einem Überblick gewonnen. Rasch kehrte er zurück; ein kühner Entwurf schien in ihm gereift. Es lag in dem Moment etwas Fürchterliches auf der kleinen, kurzgedrungenen Gestalt. Kein Muskel des sonnverbrannten Antlitzes bewegte sich. Nur die Augen sprühten ein unheimliches Feuer. Dabei wallte ihm der lange rote Bart auf der breit gewölbten Brust herab. Ein rotes, offenes Garibaldi-hemd vollendete das Ganze. Er führte uns kreuz und quer über lange Kämme und Schneebrücken. Endlich hiess es: « Abschnallen! » Sonst nicht ein Wort. Wir leisteten Folge. Ruhig nahm er das Seilende, legte mir 's um die Hüften, nahm mir den Stock aus der Hand und drängte mich nach dem Rand des Kammes. Ich sah in die Schlucht. In einer Tiefe von 40 Fuss war sie von einem Gewirr verschneiter Spitzen und Schneebrücken durchzogen. « Niedersetzen! » Ich setzte mich.

« So, da steigen 's jetzt ab! » Bis jetzt hatte ich alles ruhig mit mir geschehen lassen, diese Zumutung aber empörte mich. Absteigen! Du lieber Himmel, es fiel kerzengerade hinunter. « Nun, wird 's? » — Ich wollte entgegnen. Ein flammender Blick machte jede Antwort auf meinen Lippen ersterben. Ich liess mich kleingläubig abgleiten. Nun hing ich an der Wand wie der Dachdecker am Kirchturm. Langsam liessen sie mich ab. Ich hatte unterdessen Musse, mich mit dem Grund zu befreunden. Ich mochte noch sechs Fuss von demselben entfernt sein, als Halt gemacht wurde. « Als zu !» rief ich hinauf. « Können nimmer! S'Seil is z'End! Knüpfet ab und springet abe! » So! Auch noch! Wusste ich denn, was meiner harrte? Mit Ängsten knüpfte ich ab und liess mich mehr fallen, als ich sprang. Ich bekam festen Grund. « Hurra! Jetzt Ihr andern! » Einer nach dem anderen wurde heruntergelassen, nur der Hans Grass war zurück. Es war uns noch gar nicht in den Sinn gekommen, an den Letzten zu denken und wie der herabkäme. Und wahrhaftig, der Mensch machte sich daran herunterzusteigen. Er kam ganz herunter. Wie er 's gemacht hatte, wussten wir am selben Abend, als wir in Ponte Resina danach gefragt wurden, nicht anzugeben. Der Rücken, der Kopf, der ganze Körper schien mit der Wand in Eins verwachsen. Ungeheuer langsam, wie eine Schlange, wand er sich herab. Als er noch etwa zwölf Fuss hatte, liess er sich gleiten, und wir empfingen ihn wohlbehalten in unseren Armen. Mühselig folgten wir der Spalte. Aber welche Pracht umfing uns! Die Klarheit des unbewölkten Himmels strahlte zu uns herunter, an den Seiten die kristallenen Eiswände in wunderbare Lichteffekte tauchend. Es glitzerte und funkelte um uns her wie tausend Edelsteine. Wir schienen in den Zauberpalast eines Berggeistes gestiegen. Nach einer halben Stunde zeichnete sich der ganze Scharfsinn unseres Führers ab. Wir hatten den Absturz hinter uns und standen eine Terrasse tiefer, aus der Schlucht heraustretend, auf dem plan daliegenden Vadret Pers. Die Führung war wundervoll und trug dem Grass unsere unge- teilte Anerkennung ein. Sie war das Ergebnis einer Energie, die alle Gefahren rücksichtslos auf die Seite setzt, einer Gletscherkenntnis, wie sie nur jahrelange Übung lehrt.

Da der Gletscher in eine verräterische Schneedecke gehüllt war, die sich gleichmässig über den festen Grund und die Nacht der Schrunde lagerte, musste das Seil so lang als möglich geknüpft und unter beständiger Prüfung der Festigkeit vorangeschritten werden. Ein tausendfältiges Leben regte sich. Durch die Einwirkungen der Sonne rieselte es in allen Adern des Gletschers, und gleich Pulsen regten sich die zahllosen Taumassen lebendig im Inneren und an der Oberfläche der Eismassen.

Grass war schon zweimal trotz Sondierens vor mir bis an die Schultern eingebrochen. Nun traf mich selbst die Reihe. Zu meinem nicht geringen Schrecken sah ich mich plötzlich aus der intensivsten Helle des Gletschers in die Finsternis versetzt, aus drückender Schwüle in eisige Kälte. Die Situation war zum mindesten unheimlich. Hilflos hing ich am Gürtel. Nur das kleine Loch, durch das ich eingebrochen war, spendete einige Helle in das Dunkel. Es wurde grosser gehauen, Schnee und Eis fielen auf mich herunter; dann wurde ich wieder ans Licht befördert. Einer nach dem anderen legte sich hin, in die Geheimnisse der Tiefe zu schauen, die mich so plötzlich umfangen hatte. Es war die letzte Affaire. Um dreiviertel Fünf war der Gletscher überschritten und wir am Fuss des Munt Pers angelangt.

Unangenehm war uns, nach den Strapazen des Tages noch eine steinige Moräne anklimmen zu müssen. Um sechs Uhr waren wir an der Furcula der Diavolezza angelangt. Über Steingeröll - die letzte Qual für unsere müden Füsse - eilten wir im Sturmschritt den Bernina-Häusern zu. Statt der bestellten viersitzigen Equipage fanden wir ein zweisitziges Wägelchen vor. Der Wirt musste noch seinen Karren und ein paar Klepper herausziehen. Noch zwei Stunden Landstrasse zu laufen, konnten wir keinem zumuten. Bald rasselten wir auf der Berninastrasse Ponte Resina zu. An der 34 Bergführer Hans Grass, Pontresina ( 1828-1902 ) 35 Bergführer Christian Grass, Pontresina ( i8i8-i8gg ) 36 Alte Bovalhütte ( 1875 ). Führer mit Barten; ganz rechts: Christian Grass Aus « 50 Jahre Sektion Bernina 1891- 1941 », verfasst von H. Tenger Stelle, die den besten Blick nach der Berninakette gestattet, wurde Halt gemacht, den Schauplatz unserer Taten nochmals zu übersehen. Auf der höchsten Zinne des Palü flatterte die rot und weisse Fahne.

Unser Aufzug erregte ein billiges Aufsehen, und durch Reihen gaffender Bummler fuhren wir durch Ponte Resina unserem Hotel zu. Welche Überraschung! Die Pforte war von den aufmerksamen Freunden mit Girlanden von Alpenrosen und Edelweiss geziert. Darüber prangte als Transparent der wunderbare Reim « Heil Euch Machern des Palü, genommen war er früher nie !» Aufs herzlichste wurden wir bewillkommt und beglückwünscht. Es war gerade Zeit des Soupers. Schnell warfen wir uns in ein salonmässiges Kostüm. Ich trat vor den Spiegel. Welch ein Anblick! Das ganze Gesicht war mit rotbrauner Glut übergössen, die Backen hoch geschwollen, die Äuglein hatten sich in einen tiefen Winkel zurückgezogen, die Nase die Grenzen klassischer Form in bedenklicher Weise verlassen. Bei uns zulande wäre sie unzweifelhaft der Kritik der bösen Welt anheimgefallen. Meine Eitelkeit war durch diese Infamie der Gletschergeister empflindlich beleidigt, und etwas verlegen trat ich in den Saal. Schallendes Gelächter begrüsste mich. Ich nahm es gerne hin angesichts der neuen Liebenswürdigkeit der Gäste! Unsere Teller waren mit frischen Kreuzen aus Blumen der Alpenflora geschmückt, davor ein Glas Champagner aufgepflanzt, ein gleicher Strauss im Kelch. Es entspann sich eine lebhafte, mit viel Scherz durchwirkte Debatte, an der beinahe die ganze Gesellschaft teilnahm. Man hatte uns vom Languard fast den ganzen Tag beobachtet und unsere Erfolge bewundert. Eingedenk ihres Versprechens liessen unsere norddeutschen Freunde eine Batterie Champagner auffahren. In einer ausgelassenen Suite endigte die so gefährliche, mit viel Glück gepaarte Gletscherfahrt.

37 Morteratschgletscher mit Piz Palü und Bellavista 38 Piz Palü, Ost- und Hauptgipfel 39 Eistische im Persgletscher unter dem Piz-Palü-Ostgipfel Photos Markus Liechti, Liebefeld

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