Die Grandes Rousses im Dauphiné
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Die Grandes Rousses im Dauphiné

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von G. Studer.

Mein erster Besuch des .Dauphiné fand im Jahr 1851 statt. Auf einer Tour durch die Waldenserthäler in Briançon ausmündend, fuhr ich von da auf dem schwerfälligen Postwagen nach Grenoble. Trotz der flüchtigen Durchreise machte die Grossartigkeit der Gebirgswelt, in deren Schooss ich versetzt wurde, einen tiefen Eindruck auf mich, und die Bilder, die damals rasch vor meinen Äugen vorüberschwanden, blieben dennoch in meiner Erinnerung haften. Wer fühlte sich nicht von der Scenerie ergriffen, die sich vor seinen Blicken entfaltet, wenn er an einem wolkenlosen Tage, wie er mich begünstigte, die Höhe des Col du Lautaret erreicht hat und gegen das Thal der jungen Romanche niedersteigt? Es ist eine Scenerie von riesenhafter Grosse und wilder Schönheit. Am linken Ufer der Romanche streben felsige Wände in breiten Pfeilern fast lothrecht aus der Tiefe des Thales zu gewaltiger Höhe empor und ihre schneeigen Gipfel glänzen im goldenen 4Suider.

Sonnenschein. Aber die reichste Entfaltung dieser Scenerie vollzieht sich gegen la GraAe. Es ist eine Gebirgsgestaltung, die, nicht in ihren äussern Formen, aber in ihrem kühnen Aufschwung, in ihrer ernsten Majestät und in ihrer Gletscherpracht mit der Jungfraukette hinten im Lauterbrunnenthal den Vergleich aushält. Aus dem engen, tief eingeschnittenen Thal erheben sich mittagwärts steile Gebirgswände, deren beeiste Felsgipfel in spitzaufragenden Gestalten das Firmament zu berühren scheinen. Die Einsattlungen des Kammes, die zwischen den hohen Gipfeln weit ausgespannte Joche bilden, sind mit mächtigen Gletschern belastet, deren zerklüftete Eismasse, eingekeilt zwischen schwarzen Felsrippen, das Gehänge bis weit hinab bekleidet. Diese Gletscher, im Strahl der Sonne leuchtend, stellen ein gewaltiges Bollwerk von Eis dar. Die glatten Schieferflächen an den Felswänden funkeln gleich polirtem Stahl. Aus den Eisgewölben strömen die Gletscherbäche hervor und stürzen in stäubenden Cascaden dem Thale zu, um sich mit der Romanche zu vereinigen.

Der Gebirgskamm, den ich da vor mir sah, war das äusserste nördliche Glied des Massivs der Pel-v o u x g T u p p e, welche gewaltige Erhebung sich zwischen den Quellen des Drac, der Durance und der Romanche ausbreitet. Ihr höchster Gipfel ist die Pointe des Eer ins, welche auf 4103 m ansteigt. Frankreich besass in dieser Gruppe seine höchsten Berge, bevor es sich mit Savoyen den Mont Blanc annektirte. Dieses Alpengebiet blieb lange Zeit ein von Touristen und Alpenclubisten selten besuchtes Revier. Die mit der Vermessung desselben betrauten französichen Ingenieurs und einzelne wenige Forscher mögen zuerst in dessen Inneres eingedrungen sein.

Aber erst seit den letzten Dezennien hat der Fuss kühner Männer auch seine höchsten Zinnen erklettert, seine wildesten Gletscherpässe aufgesucht. Es waren fast ausschliesslich englische Alpenclubisten, die ihre verwegenen Unternehmungen in diesem Gebiet zu Stande gebracht haben: die Whymper, Tuckett, Mathews, Bonney, Nichols, Coolidge u. s. w. Die schöne, nach den Aufnahmen des französischen Generalstabs rede- zirte, aber von Tuckett vielfach berichtigte und vervollständigte Karte der Pelvouxgruppe, welche seiner interessanten Schrift « Hochalpenstudien » beigefügt ist, liefert den Beweis, wie grosse Aufmerksamkeit und Energie von Seite jener Männer auf die genaue Erforschung der bereisten Gegenden verwendet worden ist. Die Schriften von Whymper und Tuckett und die Annalen des englischen Alpenclubs enthalten eine Menge belehrender Berichte über die Touren, die seine Mitglieder im Massiv der Pelvouxgruppe ausgeführt haben. Aber auch schweizerische Bergsteiger sind nicht zurückgeblieben und wir lesen z.B. in den Nummern 21 und 22 des Y. Bandes der Alpenpost die sehr ansprechende Schilderung eines Uebergangs von der Berarde nach Yal Louise über den Gletscherpass Col de la Tempe und von dort über den Col de l' Echauda von unserm Clubgenossen J. Schoch.

Wie der Verfasser dieser Blätter veranlasst worden ist, in seinen spätem Jahren durch Besteigung eines auf den Marken des Dauphiné's und der Maurienne sich erhebenden Berggipfels seine Erinnerungen an jenes gewaltige Bild von la Grave aufzufrischen und durch ein noch viel Umfassenderes zu ersetzen, das sei der Gegenstand des nachfolgenden Aufsatzes.

Bei meiner Besteigung der Dent du Midi und später auch des Buet, war mir fern im Südwesten eine Bergspitze aufgefallen, die sich durch ihre hübsche Form und ihr leuchtendes Schneegewand auszeichnete. Ihr scharfes Profil hob sich am blauen Firmamente deutlich ab und sie bildete im äussersten Westen den Schluss der mit ewigem Schnee bedeckten Gebirgsliöhen. Die nämliche Spitze erkannte ich wieder auf dem Mont Mort, auf dem Mont Yélan, auf dem Mont Avril, auf dem Ruitor, auf der Pointe de Belleface am kleinen St. Bernhard, sowie auf der Yanoise im Thale des Doron hinter Moutiers. Wie hiess sie, diese, meinem Blick immer wieder begegnende und ihn fesselnde Spitze? Niemand konnte mir ihren Namen nennen, niemand sagen, welches ihre Heimat sei. Nur Vermuthung war es, dass ich es mit den Grandes Rousses bei Oisaus zu thun habe und diese Vermuthung bestärkte sich in hohem Grade, wenn ich die Karte darüber zu Eathe zog.

Die, dominirende Lage und die hervorragende Höhe dieser Spitzen berechtigten mich zu dem Schlüsse, dass von ihr aus nicht nur ein Panorama von grösser Ausdehnung und malerischer Schönheit sich offenbaren müsse, sondern dass dieser Standpunkt vorzugsweise geeignet sein möchte, einen etwas umfassenden Einblick in das Gebirgsmassiv der Pelvouxgruppe zu gestatten, die infolge ihrer mehr kreisförmig in einander ver- schlungenen als langgezogenen Gestaltung von nur wenigen, ihr gegenüberliegenden, hohen Standpunkten in einiger Uebersichtlichkeit erblickt werden kann.

Mein Programm über die noch zu besuchenden Alpengipfel wurde daher ran die Grandes Rousses vermehrt, nicht sowohl deshalb, weil die sichere Ermittlung jener unbekannten Spitze mein Interesse rege gemacht hatte, als weil ich mir von ihrer Besteigung reichen Genuss versprach. Die Gunst der Umstände half mir, mein Programm gerade in dieser Beziehung auf vollständig befriedigende Weise zu verwirklichen.

Als ich in den schönen Julitagen des Sommers 1873 auf meiner Fusswanderung durch Savoyen den Môle bestieg, der sich mit seinen steil aufgerichteten grünen Hängen in scharf geschnittenem Profil hinter Bonneville aus dem Thal der Arve erhebt, da trat mir jene Spitze sofort wieder gleichsam als leitender und leuchtender Stern aus dem reichhaltigen Kranz von Bergen entgegen, die dort den Horizont schmücken; aber noch viel klarer und bestimmter auf der ihr schon näher liegenden und höhern Felsenzinne der Tournette, welche den Annecy-See beherrscht und dem Besteiger -eine Rundschau von unvergleichlicher Schönheit bietet. " So näherte sich meine Wanderung, auf der ich einzig von dem jungen Peter Sulzer von Guttannen begleitet war, der mir als Träger und Führer diente, Schritt um Schritt dem gesuchten Ziele. Als ich zwei Tage nach der Besteigung der Tournette von St-Jean de Maurienne nach dem Bergdorfe St-Jean d' Arves emporstieg und nach einer angenehmen Wanderung " von « S1/^ Stunden, zuerst zwischen Weinbergen hindurch auf heisser Bergstrasse, die jedoch hie und da voit mächtigen Wallnussbäumen beschattet war, dann bei dem hochgelegenen, von Wiesen und Kornfeldern umgebenen, Kirchdorfe Villarambert vorüber und endlich, eine Thalmulde durchschreitend, an gebüsch-reichem, von Bachrunsen durchschnittenem Gehänge wieder ansteigend, die Höhe des Col d' À r v e s betrat, den man zu überschreiten hat, um nach dem genannten Dorfe zu gelangen, da erhob sich vor mir, dem Hintergrunde des Thaies entsteigend, das mich noch von ihr trennte, und die vorliegenden niedern Bergzüge stolz überragend, jene zierliche Spitze und ihr blendend weisses Schneekleid strahlte im Glanz der Mittagsonne.

Es blieb nun kein Zweifel übrig, dass es in der That die nördlichste und höchste Spitze der Grandes-Rousses war, die den Namen Pic de l' Etendard trägt.

Zur Orientirung des Lesers sei es mir vergönnt,. eine gedrängte Notiz über die topographische Beschaffenheit des Massives der Grandes Rousses hier einzuschalten. Die Grandes Rousses gehören in das Gebiet der Grajischen Alpen, insofern man die Dora riparia als dessen südliche Grenzlinie annimmt, und sind ein Glied jener Gebirgsverzweigung, welche beim Mont Tabor vom Centralstamm, der die Wasserscheide zwischen Gewässern bildet, die theils dem Adriatischen, theils dem Mittelländischen Meere zufliessen, sich westwärts ablöst und ihre Aeste bis in das Thal der Isère ausstreckt, während der Centralstamm sich östlich nach dem Mont Cenis wendet, um von dort in nördlicher Richtung die Levanna und den Mont Iseran aufzusuchen.

Wenn wir die Masse der Grandes Rousses aus dem Gebirgscomplex herausheben, mit dem sie verwachsen ist, so erhalten wir eine selbstständige Gruppe, als deren natürliche Grenzen im Norden der Col de la Petite Olle und das Thalbecken von St-Sorlin; im Westen der Thaleinschnitt der Olle von ihrer Quelle bis zu ihrer Ausmündung in die Romanche auf der Ebene von Sables; im Süden die Thalstrecke der Romanche bei Bourg d' Oisans und im Osten der Thaleinschnitt des Féran, die Hochfläche des Schafberges les Yalettes und das Thal des Arvan bis hinaus nach St-Sorlin, angenommen werden können. Die höchste Erhebung des Massivs ist in seiner Längenaxe und gestaltet sich zu einem langgestrekten, nahezu die Richtung von Süd nach Nord inhaltenden Gebirgskamm, der weit über die Linie des ewigen Schnees ansteigt und dessen beidseitige Abdachungen in mehr oder weniger complizirter Gliederung bis an jene Grenzen sich ausdehnen. Das gesammte Massiv nimmt zwischen dem Thalbecken der Romanche bei Oisans und dem Col de la Petite Olle eine Länge von ungefähr 24 Kilometer ein; die Breite mag im Mittel 12 Kilometer be- tragen. Treten wir aber noch etwas eingehender in die Topographie der Grandes Rousses ein. In der bergumschlossenen Thalsohle von Bourg d' Oisans, zwischen der Einmündung des Vénéon in die Romanche und der Ebene von Sables, wo der Thalstrom in scharfer Biegung plötzlich von Nordwesten nach Südwesten sich wendet, beginnt die südlichste Erhebung des Massivs. Die Thalwände steigen jäh empor und bilden die untersten Abstürze einer noch mit Ortschaften, Cultur und Waldung ge- schmückten, aber von tiefen Bachrunsen zertheilten Vorkette.

Hinter dieser äussersten Gebirgserhebung zieht sich der höhere und centrale Theil des Massivs, über steile, bewachsene Halden, Alpenterrassen und Felsstufen rasch ansteigend, aufwärts gegen den noch begrasten Rücken der H e r p i a, dessen höchste Spitze zugleich der Eckpunkt einer zwischen den Thaleinschnitten des Féran und der Olle fortlaufenden Kammes ist, der mit dem Namen « les Grandes Rousses » bezeichnet wird. Die mitunter scharf ausgezackte Schneide dieses Kammes gipfelt sich in einer Reihe von höhern, selbständigen Spitzen auf. Man unterscheidet vier solcher durch Einschnitte oder tiefere Kammstrecken von einander getrennte Gipfel, von denen nach den Messungen der französischen Ingenieurs die südlichste 2995 m oder 9221 Pariser-Fuss, die darauf folgende 3332 m oder 10,257 P. Fuss und die beiden nördlichen die gleiche Höhe von 3473 m oder 10,691 P. Fuss behaupten würden. Nach einer Messung von Hericart de Thury wäre die nördlichste Spitze die höchste, indem er ihr eine Höhe von 3629 m oder 11,172 P. Fuss beimisst. Der Geologe Dausse nennt dieselbe: Pointe de l' Etendard. Bei einer Besteigung dieser Spitze durch die Herren Mathews junior, dessen Bruder Georg und Rev. T. G. Bonney, im Jahr 1863, wurde eine barometrische Höhenmessung vorgenommen, welche für den Etendard eine Höhe von 3472 m und gegenüber der zweiten Spitze eine Differenz zu Gunsten des P^ten-dard von zwrei Meter ergab. Auf der Militärkarte von Bourcet steht statt des Namens Etendard Pointe des Grands Glaciers und eine der südlichem Spitzen,

wahrscheinlich die auf den Etendard folgende und ihm ebenbürtige, wird daselbst le Haut Le vir ent genannt.

Die westliche Abdachung des höchsten Kammes der Grandes Rousses ist auffallend steiler als die östliche. Kahl und felsig stürzen die Gipfelwände ab. Eis und Schnee vermag nur in den Couloirs, welche die Wände vertikal durchschneiden und auf den vorstehenden Gesimsen oder auf den flachen Terrassen und in den schattigen Gründen sich aufzuhäufen und bleibend zu haften, welche dem Fusse dieser Wände entlang sich ausdehnen. Die Terrassen und Thalgründe charakterisiren sich durch die Existenz einer Anzahl kleiner Alpenseen, denen man in diesem öden Revier begegnet. Von dieser ersten Stufe fallen die Hänge wieder steil ab, hier jäh und felsig nach tiefer liegenden Stufen, dort ohne Abstufung bis zu der nächsten Thalsohle sich versenkend. Das Gehänge ist von Bachrunsen durchzogen, die sich mitunter tief eingefressen haben. Ein weiter gegen Weste© sich auszweigender, an Alpweiden reicher Gebirgsausläufer lässt zwischen der unmittelbaren Abdachung des Gebirgskammes und dem Thaleinschnitt der Olle noch Raum übrig für das in diesen Raum eingebettete Thälchen vonVaujany, das von dem F1 u m a y durchflössen wird, der in tiefer enger Schlucht dahin braust und bei dem Dorfe Oz mit der Olle sich vereinigt. Jener Gebirgsausläufer schwingt sich nach seiner Ablösung von dem Hauptstamm in den grünen Firsten der Côté Belle empor und seine äusserste Erhebung umfasst die Montagne de Crouzes.

Die östliche Abdachung ist weniger complizirt und weniger steil. Daher sind die oberen Flanken des Gebirgskammes in reichem Maasse mit Schneefeldern und Gletschern bedeckt und die Firne, die im hohem Sommer vielfach zerklüftet sind, reichen bis an die Kammschneide und an die höchsten Gipfel hinauf und verleihen ihnen ihr blendendweisses Gewand. Nur da, wo sich lothrecht abgebrochne Felsrippen von der Kammhöhe in vertikaler Sichtung gegen das tiefere Gehänge hinunterziehn, wird die Firndecke durch das nackte Gestein unterbrochen. Geröllhänge, Moränen, Felsabstürze, Schafweiden, bilden die unterste Zone der östlichen Abdachung der Grandes Kousses und besäumen die niederhängenden Gletscher, denen der Féran entströmt. Auf den beidseitigen Lehnen des Thalein-schnitts, durch welchen dieses Gewässer der Romanche zufliesst, liegen die Dörfer Clavans, Besse und Misoin.

Nördlich vom Etendard verliert der Kamm der Grandes Rousses an Höhe und Mächtigkeit. Indem er sich stufenweise erniedrigt, zeigt er eine Reihenfolge ziemlich gleichförmiger, in die Länge gestreckter Gipfelformen, deren Profile immerhin noch scharf ausgeprägt sind und deren steile Wände, wenigstens auf der nach Osten gekehrten Seite und in der Nähe des Etendard noch den glänzend weissen Firnmantel tragen. Der nördlicher liegende Theil des Kammes verliert allmälig seinen Schneeschmuck und erhebt sich in schroff abstürzenden felsigen Gestalten, an denen der ewige Schnee nur an einzelnen Stellen haftet, bis auch diese schwinden und die Einsattlung des Col de la Petite Olle das Auge schon mit dem freundlichen Grün der alpinen Vegetation erfreut.

Die einzelnen Gipfel dieser Kammstrecke heissen: Ouille Noire, Rocs de la Balme, Grand und Petit P a r o n. Am östlichen Fuss des Col de la Petit Olle liegt das Thalbecken von St-Sorlin — an den westlichen schliesst sich der hinterste Grund des von der Olle durchfiossenen Thales an, der bis weit an die ihn umschliessenden Höhen hinauf mit schönen Alpweiden austapezirt ist. Der Col selbst gewährt einen leichten und frequentirten Uebergang zwischen St-Jean d' Arves und den Ortschaften des Ollethals.

So wie nun die obengeschilderte Gipfelreihe zwischen dem Etendard und dem Col de la Petite Olle die in nordwestlicher Richtung sich fortsetzende, nur im Höhenniveau veränderte, Kammlinie der Grandes Rousses ist, so schwingt sich dagegen unmittelbar von der Spitze des Etendard aus o s t w ä r t s ein Schneerücken in graziöser Curve hinab nach einer Einsattlung, welcher wiederum ein Gebirgsstock entsteigt, der sich trotzig und wild, felsig und vergletschert zu einer Spitze aufgipfelt, die den Namen la Tête du S au vage trägt und die, wenn auch nicht die Höhe des Etendard erreichend, doch eine hervorragende Stelle im Massiv der Grandes Rousses beansprucht. An den Vorbau des Sauvage lehnt sich ein verhältnissmässig niedriger, doch theilweise noch mit dauerndem Schnee gekrönter Grat, der ebenfalls nordöstliche Richtung hat und sich in einer Reihe ziemlich gleichförmiger Gipfelanschwellungen allmälig abstuft, bis er nach kurzer Strecke in das Thai des Arvan sich versenkt. Das weite in seinem Lauf sich verengernde Becken zwischen dem Nordgehänge des Etendard und jenen beiden, unter sich parallelen Ausläufern, wird von einem Gletscher ausgefüllt, der in seiner grossteil Ausdehnung eine tellerebene Eis- und Schneefläche darbietet, welche gegen oben sanft ansteigend mit der Firnmasse zusammenhängt, die das Gipfelgehänge des Etendard und die ihn umgebenden Kammhöhen bekleidet.

In seinem untern Lauf wird der Gletscher durch die von Westen her sich vorschiebenden Bergmassen zusammengedrängt und nach stärkerer Senkung mündet er in ein Felsentobel aus, durch dessen Grund der Gletscherbach sich Bahn bricht, um sich weiter unten mit dem Arvan zu vereinigen. Während nun jener vom Sauvage ausgehende Gebirgsgrat westwärts gegen das Gletscherbecken und jenes Felsentobel steil abstürzt, wird seine östliche Abdachung nahe unter der Kammhöhe durch ein Hochplateau unterbrochen, das durch den flachen Rücken des Schaf berges les Valettes gebildet wird. Dieser Rücken rundet sich in seinem östlichen Auslauf ab und vertieft sich gegen eine flache Gebirgseinsattlung, die nicht nur als Wasserscheide zwischen den Quellen des Arvan und des Féran Bedeutung hat, sondern auch die orographische Verbindung des Massivs der Grandes Rousses mit dem östlich liegenden Gebirgssystem vermittelt*

So weit der flüchtige Ueberblick über die topographische Gestaltung des Massivs der Grandes Rousses. Von unserm Standpunkte aus hatten wir die Gruppe des Etendard in voller Sicht. Der prächtige Schneegipfel mahnte mich an das Wildhorn der Berner Alpen, wie es sich von den Höhen der Lenk aus darstellt. Doch ist der Gipfel des Etendard schärfer zugespitzt.

Ihm zur Linken machte sich, weniger malerisch aber wilder und nackter anzusehen, der Sau vage geltend. Rechts vom Etendard sahen wir, scharf gegen den Horizont ausgeschnitten, die Kammstrecke in ihrer Ausdehnung bis zum Col de la Petite Olle. Aus dem Schooss dieses schneeigen Gipfelkranzes, der gegen uns zu von nähern grünen Höhen emgefasst war, schimmerte uns die weisse Fläche des Gletschers entgegen.

Peter richtete seinen Blick mit gespannter Aufmerksamkeit nach diesem Bilde hin, als er von mir vernommen hatte, dass ich die Besteigung des schönen Schneegipfels vorhabe. Als Sohn meines langjährigen, bewährten Leibführers hatte der junge, doch immerhin schon 28jährige Mann zwar bis dahin noch keine eigentlichen Führerdienste geleistet und das Gebirgsland, in dem wir uns befanden, zum erstenmal in seinem Leben betreten; allein seine Beschäftigung als emsiger « Strahler » ( Kristallsucher ) hatte ihn mit Eis und Felsen vertraut gemacht und ich konnte seinem Ausspruche und seinen Rathschlägen vertrauen. Funkelnden Auges betrachtete er die zferliche Spitze und nach schweigender Prüfung meinte er lächelnd: « Da hinauf kommen wir schon und zwar alleine. » Seine Zuversicht war darauf gegründet, dass die Schneemasse noch in zu grösser Mächtigkeit den Gletscher bedecke, als dass wir von Schrunden etwas zu befürchten hätten und dass die wenigen Firnspalten am Gipfelgehänge, die man allerdings deutlich wahrnehmen konnte, wohl zu umgehen sein werden. Nur die Steilheit der obersten Gipfelwand erregte bei mir einige Bedenken, aber auch diese schlug Peter mit beruhigenden " Worten nieder.

— Wer den Etendard vom Col d' Arves aus sieht und die Gebirgsgestaltung nicht kennt, der ahnt nicht, dass dieser, scheinbar isolirt am Horizont aufsteigende Gipfel nur das äusserste Glied einer fast eben so hohen Gipfelreihe ist, die, weil in der gleichen Axe liegend, durch ihn verdeckt wird.

Aber die erhabene Gruppe des Etendard war nur ein einzelnes Bild in der grossen Gebirgslandschaft, die wir vor Augen hatten, und die es wohl verdient, in ihrer Gesammtheit geschildert zu werden. Wir befanden uns auf dem Col d' Arves in einer Höhe von 1800 m, auf der tiefsten Stelle eines zahmen, auf weitere Strecke fast horizontal sich ausdehnenden Bergrückens, dessen nördliche Abdachung westwärts vom Col mit Alpweiden bekleidet ist, die sich bis auf die Grathöhe hinaufziehn. Viehherden tummelten sich auf den freien, luftigen Höhen herum. Die Aussicht nach Norden war beschränkt durch den gleichförmigen, durchweg begrasten Gebirgskamm, der auf dieser Seite jenes Thalbecken einschliesst, das wir durchschritten hatten und dessen Gewisser unterhalb des Dorfes Yillarambert mit dem Arvan sich vereinigen. Steiler, aber kürzer erschien die südliche Abdachung. In begrasten, baumlosen Halden fiel das Gehänge gegen eine schmale, sonnige Wiesenterrasse ab, aufweicher, dicht zu unsern Fussen, die Häusergruppen und die Kirche von St-Jean d' Arves sichtbar waren. Unterhalb dieser Terrasse lag tief eingeschnitten die enge Kluft des Arvan, die wir'auf eine längere Strecke verfolgen konnten, ohne jedoch den Fluss selbst erblicken zu können. Jenseits dieser Kluft

hoben sich wieder begraste Berghänge ziemlich steil uns der Tiefe empor, um sich zu freien, sanftgeformten Gipfeln und Hochrücken zu gestalten. Diese zahmen, durch kleine, in sie hineindringende Thalverzweigungen von einander gesonderten Vorwälle, hinter denen erst noch die höhere Gipfel und Gebirgswände emporstiegen, prangten im schönsten Grün ihres Rasenschmuckes, der sie von unten bis oben bekleidete, waren aber von Waldung und überhaupt von Baumwuchs fast entblösst. Nur bei den wenigen zerstreuten Häusern, die hie und da die untern Berglehnen belebten, zeigten sich, neben der Kultur von etwas Frucht und Gemüse, einige spärliche Baumgruppen und dort links in dem unsern Blicken erschlossenen Alpenthal von la Sausse war die unterste Thalwand von lichtem Nadelholz beschattet. Die Krone des Gemäldes jedoch fand sich in dem riesigen Gipfelkranz, der in wenigen, aber grossartigen und charakteristisch ausgeprägten Gestalten hinter diesen Vorbergen am Horizonte sich erhob und die Bewunderung zu fesseln vermochte. Da fiel der Blick zunächst thalauswärts auf eine jäh'ansteigende, die an sie gelehnten grünen Alphöhen weit überragende, mit ewigem Schnee bepanzerte Gebirgswand, deren Zinne drei aneinandergereihte, himmelanstrebende Felszacken krönten. Das waren die berühmten Aiguilles d' Arves, welche auf der Marke zwischen dem Thalgebiet des Arvan und dem Thal von Valloires stehn und eine Höhe von 3500 m erreichen. Die mittlere Aiguille soll die höchste sein, wird indessen die südliche um Weniges übertreffen. Die nördliche, welche sich in zwei Zacken ausspitzt,

2 ist die niedrigste der drei Spitzen.

Da der Kamm, dem sie entragen, die Richtung von Süd nach Nord hat, so steht man demselben auf dem Col d' Arves gegenüber und geniesst den vollen Anblick dieser eigenthümlichen Erscheinung. Im Jahr 1864 wurde der schmale Sattel zwischen der nördlichen und mittlern Aiguille vom Thale von Yalloires aus von den HH. Whymper, Moore und Walker und ihren Führern M. Croz und Christen Almer überschritten. Im Jahr 1870 führte Hr. A. B. Coolidge mit Chr. Almer und Chr. Gertsch die nämliche Tour aus und es trägt nun dieser Uebergang den Namen Col des Aiguilles d' Arves. Am 3. Juli 1873 wurde die südliche Zacke der Nordspitze von Miss Brevoort und Hrn. Coolidge mit Chr. Almer und drei Grindel waldnern bestiegen. Ob eine Besteigung der beiden andern Aiguilles schon stattgefunden, ist ungewiss und kaum anzunehmen.

Zur Rechten der Gruppe der Aiguilles d' Arves krönte eine ähnliche, doch weniger charakteristisch ausgeprägte Gipfelbildung die Zinne der Bergwand, die den Hintergrund des Alpenthales von la Sausse oder Bouchard abschliesst und die in ihrem Mantel von Schnee strahlend erglänzte. Es waten die drei in Gestalt und an Höhe zurückstehenden Aiguilles de la Sausse, deren südlichste die HH. Whymper, Moore und Walker bei der Ueberschreitung des Col de Martignère erstiegen haben.

Zwischen dieser Gruppe und derjenigen des Etendard nahm eine hohe in schlanker Pyramidenform zulaufende, von schmalen, vertikal die Gipfelwand durchziehenden Schneebändern gezierte, schwarz aussehende Spitze die Mitte des Gemäldes ein.

Sie stand uns direkt gegenüber und streckte ihr stolzes Haupt und ihren Felsennacken aus dem grünen Gewände heraus, welches ihre breiten Schultern und ihren Leib bekleidet. Der Name dieser Spitze stand nicht auf der Karte. Ihr zur Linken und Rechten waren die Gebirgseinsattlungen ausgespannt, über welche verschiedene Pässe nach dem Thal der Romanche hinüberführen.

Aber immer mit neuer Lust suchten unsre Blicke die malerische Gruppe des Etendard auf, die durch ihre edeln und doch zierlichen Formen und ihre wunderschöne Firnbekleidung einen besondern Zauber ausübte.

Während wir, auf dem Rasen der Passhöhe gelagert, die entzückende Aussicht mit Interesse betrachteten, schritten einige Männer bei uns vorüber, welche den Markt in St-Jean de Maurienne besucht hatten und auf dem Heimwege nach St-Jean d' Arves begriffen waren. Einer von ihnen schien einige Kenntniss von den umliegenden Bergen zu haben. Er zeigte mir die Stelle, wo der Pass über den G o 1 d' A ,g n e l i n hinüber nach la Grave führt. Jene schwarze Spitze rechts davon nannte er Pointe de la B a t i a. Rechts von derselben wies er mir den Col de la F r a t t i è r e, über den man nach Besse gelangt. Er machte mich auf einen zur Seite des Passes sich erhebenden, « abern » Berggipfel aufmerksam, der von der Passhöhe aus leicht zu besteigen sei und eine schöne Aussicht gewähre und nannte denselben la Los a. Die Tête du Sauvage hiess er Pointe du Grand Sauvage und den Gletscher am Fusse des Etendard Glacier du Grand Sauvage oder Glacier des Aiguës Rousses-Den Namen Etendard kannte er nicht, wusste überhaupt diese Spitze nicht zu benennen, was, so unerklärlich es scheint, sich doch desshalb begreifen lässt, weil dieselbe für ihn auf fremdem Gebiete stand.

Die Grenzlinie zwischen der Maurienne und dem Dauphiné, welche aus dem Thal der Olle gegen den Kamm des Etendard emporsteigt, berührt nämlich die Spitze selbst nicht, sondern wendet sich nördlich davon quer über den Gletscher nach dem Grand Sauvage, so dass der Gipfel des Etendard ausschliesslich zum Dauphiné gehört.

In Zeit einer halben Stunde w'ar der Abstieg nach St-Jean d' Arves vollbracht und wir fanden in dem kleinen Weiler von la Tour, etwas oberhalb der Kirche gelegen, eine Wirthschaft, wo wir zwar nicht gerade zuvorkommend, doch nicht unfreundlich empfangen wurden. Zimmer und Betten waren sauber und was etwa an Speise gebrach, wurde durch den vortrefflichen « St-Jean » reichlich ersetzt.

Der 20. Juli brach in vollkommener Klarheit an. Die Lage des Hauses, in dem wir Herberge gefunden hatten, gestattete einen freien Ausblick nach Süden. Da war im Zauber des Morgenduftes ungefähr dasjenige Gemälde vor uns entrollt, dessen Schönheit wir gestern auf dem Col d' Arves bewundert hatten — zwar nicht so erhaben, nicht so vollständig entwickelt, weil auf einen engern Rahmen beschränkt, aber eben deswegen von mehr landschaftlichem Reiz. Von dem Fenster meines Schlafgemaches aus sah ich den gra- ziösen Schneegipfel des Etendard hinter den grünen, lichthellen Vorbergen im Purpur der aufgehenden Sonne erglühn. Selbst die starren Felsen seines Nachbars, des Grand Sauvage, sprühten Feuer, angefacht vom ersten Morgenstrahl.

Einladend lächelte mir im Schmuck ihrer Beleuchtung die hohe Spitze der B âtia zu und von den Aiguilles d' Arves vermochten noch die obersten Zacken hinter den goldenen Alphöhen in hehrer Klarheit hervorzutauchen. Thalauf-wärts blickend, erschloss sich dem Auge das kleine, freundliche Thalbecken von St-Sorlin und die beiden Nachbar-Kirchen konnten einander den Morgengruss zuwinken. Unmittelbar hinter dem Dorfe St-Sorlin zog sich das grüne Gehänge nach dem Col de la Petite Olle empor und hinter diesem ragten noch einige nackte, trotzige, von der Sonne beleuchtete Felsgestalten hoch an den Horizont hinauf. Es waren die zackigen Felsen von B i 11 i a n, welche der rechtseitigen Thalwand der Olle entsteigen.

Wir hatten Sonntag — fürwahr ein Sonntag von solcher Pracht, dass er die Herzen unwillkürlich zur Feier desselben stimmte. Ein Friedenshaiich und eine festliche Stille waltete über dem lieblichen Berggelände. Sie wurde nur durch den Klang der Kirchenglocken unterbrochen, welche die Gemeinde zum Gotteshause riefen. Allmälig kamen denn auch festlich geputzte Leute auf den verschiedenen Wegen dahergeschritten, die von den zerstreuten Weilern nach der Kirche führen. Diese liegt anmuthig und weit sichtbar auf der untersten Terrasse des Thalgehänges.

Während die Männer keine auffallende Kleidung trugen, scheint sich dagegen bei den Weibern eine alte Landestracht erhalten zu haben.

Die Kopfbedeckung besteht aus einer schneeweissen Haube, hinten glatt anliegend, vorn aber zum Schutz des Gesichtes mit weit ausstehenden Flügeln versehn. Um den Hals ist ein blaues oder rothes Tuch gelegt. Das Mieder wird durch eine hohe, breite Binde von blauem oder rothem Zeuge ersetzt, in welcher Brust und Leib stecken. Dann folgt ein kurzer, knapp anschliessender schwarzer Bock, der etwas oberhalb der Mitte mit einem ringsumgehenden, blauen Bande garnirt ist. Dieses blaue Band ist gleichsam die Kokarde, die von dem ganzen Weiberregiment getragen wird. Den Schluss macht die Fussbekleidung, die in klappernden Holzschuhen besteht.

Doch, so wonnig und erhebend der herrliche Morgen in diesem heitern, grünen Berggelände war, so entzückend der Genuss, sich im Anschaun der strahlenden Firne und Felsenhäupter zu vergessen, es litt mich, nach behaglich genossenem Frühstück, nicht länger in der Thalniederung, obgleich wir uns immerhin noch in einer Höhe von 1548 m befanden. Nach freier, aussichtsreicher Bergeshöhe, nach frischer, leichter Alpenluft, nach dem schimmernden Schnee, ging mein Sehnen. Mein Entschluss war gefasst. Ich gedachte mit Peter eine Entdeckungsreise in das vor mir liegende, mir fremde Alpengebiet zu unternehmen und es sollte eine günstig gelegene Alphütte oder nöthigenfalls an passender Stelle ein Bivouak in unmittelbarer Nähe jener Bergspitze aufgesucht werden, deren Besteigung ich vorhatte.

* Mit unsern Alpenstöcken, meiner Zeielmungsmappe, Fernrohr und einigem Proviant ausgerüstet, verliessen wir zwischen 8 und 9 Uhr unsre Herberge, in der Avir das übrige Reisegepäck zurüekliessen.

Der Weg führte bei der Kirche vorbei, aus der uns Gesang entgegentönte. Wir stiegen vom Rande der Terrasse hinab in die Schlucht, welche der Arvan durchfliesst. Nach dessen Ueberschreitung hatten wir « in Dörfchen zu passiren, das in dem engen Becken eingekeilt ist und auf den Karten mit dem Namen S t - J e a n d' A r v e s bezeichnet wird. Aber stracks ging es an der jenseitigen, steilen Thallehne wieder empor nach der hoch am Abhang liegenden Häusergruppe von 0 r n o n, welche, von Nussbäumen beschattet und von Wiesen, Kornfeldern und Gemüsegärten umgeben, die Umgegend schon wieder etwas freier dominirt. Hier fanden wir einen gut gehaltenen, ziemlich breiten Weg, den wir schon drüben von La Tour aus ins Auge gefasst hatten und der in sehr sanfter Steigung der Seite eines grünen Bergrückens entlang sich einwärts zieht. Jeder Baumwuchs verschwand, sowie wir jene Häusergruppe hinter uns hatten. Nur einzelne Sträucher besäumten noch den Weg, aber auch diese blieben bald zurück. Ausgedehnte Mohnfelder und blumenreiche Matten mit fast kniehohem Gras, das zum Schneiden reif war, bedeckten die Hänge und den Rücken des Bergzuges, dessen flacher Höhe wir zusteuerten. Zu unserer Linken war ein Alpenthälchen geöffnet, Vallon d' Arve genannt, das sich gegen den Fuss der Pointe de la Bâtia hineinzog. Der jenseits desselben zu einem Vorwall der Bâtiaspitze sich aufstufende Bergrücken prangte im sonnigen Grün schöner Alpenweiden.

Das frische, labende Grün der Matten und Weiden, das uns jetzt umgab, wird ohne Zweifel in späterer Jahreszeit das Auge kaum mehr so wohlthuend erfreuen. Denn diese Berge sind wasserarm, und wenn die Matten abgemäht, die Alpweiden ihres ersten Blumenschmuckes von der grasenden Herde beraubt worden sind, so mögen diese baumlosen Triften öde und ausgedörrt aussehen und ein falbes Roth ihr freundliches Jugend-Kolorit ersetzen. Wir schritten an einem kleinen Dörfchen vorüber, dessen steinerne Häuschen mit Stroh gedeckt waren und erreichten sodann nach einer Stunde Marsches die Höhe, welche uns von dem Thale des Arvan schied, das gegen St-Sorlin ausmündet. Die Übergangsstelle heisst Col d' Or non. Wir hatten von hier die Gruppe des Etendard und des Grand Sauvage wieder in ihrer ganzen Pracht im Gesichte. Auch war uns ein freundlicher Rückblick nach den Häusergruppen der Gemeinde St-Jean d' Arves gestattet.

Statt nun aber in das zu Fussen liegende Arvan-thal hinunterzusteigen, verfolgten wir die Höhe des Bergrückens in südlicher Richtung und betraten die eigentliche Alpenregion. Dicht vor uns gewahrten wir auf dem äussersten Vorsprung einer grünen Egg, welche sich stufenweise gegen den Avestlichen Fuss der Bâtiaspitze hinanzog, eine Alphütte, deren Bewohner, Weiber und Kinder, auf dem sonnigen Rasen des aussichtsreichen Hügels gelagert, den Sonntag Morgen in behaglichem Faullenzen feierten, während das Vieh, ein kleiner, aber kräftiger Schlag, an den höhere Hängen des Berges dem reichlichen Futter nachging.

Von der Hütte weg folgten wir einem gut gebahnten Alpweg, der uns in querer Richtung dem Gehänge entlang von Stafel zu Stafel führte. So ging es eine Strecke weit lustig über grüne Alpen dahin und überall ertönte das Geläute der weidenden Herden, die die grasreichen Triften besetzt hielten. Dann aber hemmten einige tiefe Tobel, die das Gehänge durchschnitten, den ungehinderten Fortgang. Der Weg wandte sich abwärts dem Thale zu. Um die schon gewonnene Höhe beizubehalten, mussten wir uns Bahn suchen, um diese Tobel zu umgehen, was einige Mühe und Schweisstropfen kostete. Endlich war der letzte hinter uns und nach Erklimmung einer jähen Halde, erschloss sich vor unsern Blicken ein offenes liebliches Hochalpenthal, nach welchem der Weg aus dem tiefern Thalgrunde durch eine enge steile Schlucht hinaufführte. Durch diese Schlucht stürzt sich auch der Bach hinunter, der jenes Hochthal durchfliesst. Es ist der Ar van, der in dessen hintersten Gründen entspringt. Das Hochthal selbst gestaltet sich zu einem ziemlich weiten, bergumschlossenen Becken, das in seiner ganzen Ausdehnung mit futterreichen Alpweiden geschmückt ist, welche theilweise bis auf die höchsten Kämme hinaufreichen. Das Gelände trägt den Namen Pré N o u v e a u. Stafel an Stafel lehnen sich an die sanft ansteigenden Thalwände an. Ostwärts erhob sich die Bâtia spitze und heben ihr kam ein anderer ihr ähnlicher Gipfel zum Vorschein, wahrscheinlich die Cime des Tor c h e s. Südwärts wird das Becken eingefasst von einem niedern?

bis zu oberst mit Gras bewachsenen, weitausgespannten Bergrücken, an dessen Hängen noch einige Schneeflecken sichtbar waren und auf dessen freier, luftiger Höhe Viehherden und ihre Hirten sich des Tages freuten. Westwärts oder zu unserer Rechten schwangen sich blumengeschmückte Halden gegen den Gipfel der L o s a empor. Dieser Berg hatte uns lange schon seinen breiten nördlichen Absturz zugekehrt, in welchem die ganze mächtige Bergwand in kahlen, schroff abgerissenen, von tiefen Runsen ausgehöhlten Schieferfelsen in den untern Thalgrund des Arvan sich versenkt. So wie wir jedoch den Boden jenes Hochthals betraten, kehrte uns die Losa ihre östliche Flanke zu. Längst schon hatten wir den Etendard und nun auch den Grand Sauvage nicht mehr in Sicht.

Dem Bach entlang wandernd durchschritten wir die Thalmulde. Im hintersten Grunde angekommen, war noch die Gratwand zu besteigen, was keine halbe Stunde erforderte, und nach einem Gesammtmarsch von 3l/2 Stunden befanden wir uns auf der Wasserscheide zwischen Romanche und Are. Wir standen auf dem ColPerrant oder Col de laFrattière, welcher einen leichten Uebergang von St-Jean d' Arves nach Besse und Bourg d' Oisans gewährt. Etwas östlicher führt über den nämlichen Rücken der Col du Pré Nouveau, der wahrscheinlich identisch ist mit dem Col de laBâtia. Beide Uebergänge mögen ungefähr die gleiche Höhe von 2350 m behaupten. Einen flüchtigen Blick werfend auf die hübsche Aussicht, die sich uns auf der Passhöhe darbot, machten wir aber sogleich rechtsumkehrt und erstiegen das begraste Gehänge,

das in nördlicher Richtung nach dem Gipfel der L o s a ansteigt. Auf dem Wege dahin begegnete uns ein Hirte, der unter weitschallendem Peitschenknall eine Herde Ochsen nach einem tiefern Weideplatze trieb. In drei Viertelstunden war der Gipfel erreicht und wir lagerten uns an dessen äusserstem Rande, Angesichts des offenen, jähen Absturzes gegen das Arvanthal, auf den Rasen nieder, der das südliche Gehänge des Berges von unten bis oben bedeckt.

Ich war überrascht von der Schönheit des Panorama's, das mir hier trotz des beschränkten Horizontes und der verhältnissmässig geringen Höhe des Standpunktes, welche 2600 ra oder 8000 P.F. kaum übersteigen wird, zu Theil ward und ich wusste dem Manne von St-Jean d' Arves Dank, der mich auf diesen Aussichtspunkt hingewiesen hatte. Es lässt sich wirklich dessen Besuch leicht mit dem Uebergang über den Col Perrant verbinden und der geringe Zeitaufwand und die kleine Mühe, die derselbe erfordert, werden reichlich durch den Genuss belohnt, den man dort findet. Von ganz besonderer Pracht ist der Ausblick nach Süden, wo hinter den baumlosen Triften der niedern Gebirgsmasse, die sich gegen das Thal der Romanche ausbreitet, die riesenhaften Gebirge von la Grave und Oisans mit ihren zackigen Felsgipfeln, ihren Schneehäuptern und Gletschern bis hoch an den Horizont hinauf reichen. Es war ein kleiner Vorgeschmack von dem Bilde, das wir auf dem Etendard zu erwarten hatten. Da streckt vor allem aus die Meije ihre, wahrscheinlich noch jungfräulichen Felsnadeln in das blaue Firmament empor; ihr zur Seite erhebt sich der mächtige Schneegipfel des Râteau und an diesen reiht sich der langgezogene, sanft gewölbte, blendendweisse Schneerücken, dessen nördliche Abdachung in ihrer ganzen Länge und bis tief hinab an der Bergwand mit dem Eispanzer des Glacier de Mont de Lans bekleidet ist.

Rechts davon para-diren in stolzer Reihe die vergletscherten Gipfel, die dem Hintergrunde des von dem Yénéon durchflossenen Thales von St-Christophe angehören. Diesseits des Thalbeckens der Romanche ist das Alpenthal von A Tal, durch welches der Passweg hinunter nach Besse führt, den Blicken erschlossen. Gegen Westen schliesst der hohe Gebirgskamm der Grandes Rousses in seiner ganzen Ausdehnung von der Herpia bis zum Col de la Petite Olle den Horizont ab und weist dem Auge seine zackige Schneide und die ausgedehnten Hochfirne und Gletscher, die seine östliche Abdachung bekleiden. Doch bleibt ein Theil des Centralkammes hinter der Masse des Grand Sauvage verborgenT der mit seinen schneeigen Wänden und Felszinnen in unmittelbarer Nähe aufgethürmt ist, so dass selbst der Etendard nur mit seiner höchsten Spitze sie zu überragen vermag. Im Norden dehnen sich die grünen Höhenzüge aus, die das Thal von St-Jean d' Arves und seine Verzweigungen umfassen. Weit in die blaue Ferne aber schweift in dieser Richtung der Blick über die Gipfelreihen der Gebirge der Maurienne und Taren-t&ise und an der äussersten Grenze thront silberhell des Mont Blancs Haupt und um ihn ein Gipfelkranz, dem der Dôme de Goûté, die Aiguille de Goûté, die Grande Jorasse und andere hohe Majestäten entsteigen!

Ostwärts liegt das liebliche Alpengelände, das wir mit Lust durchschritten hatten, mit seinen schäumenden Bächen und den friedlichen Alphütten malerisch zu den Fussen des Schauenden und jenseits fassen die breitschultrigen Gestalten der Bâtiaspitze und ihres Nachbars den Gesichtskreis ein. Ihre scheinbar kühne Erhebung und ihre grossartigen Umrisse sind aber gerade ein Zeugniss, dass man mit der Losa noch keinen bedeutenden Gipfelpunkt erobert hat.

Während ich fleissig an meiner Skizze der Aussicht arbeitete und Peter mit Wohlbehagen an meiner Seite den gerade nicht nach Havanna riechenden Knaster rauchte, wurde unsere Aufmerksamkeit durch ein Geräusch und eine Bewegung im hohen Grase der Gratkante erregt. Siehgucken da nicht die langen Ohren eines Thieres hervor? Das fremde Geschöpf entpuppt sich bald als ein ehrlicher Maulesel, der, gefolgt von menschlichen Gestalten sich schnaubend dem Gipfel der Losa nähert. Die ankommende, etwas sonderbar Aussehende Gesellschaft, hatte das nämliche Ziel im Auge, von dem wir bereits Besitz genommen hatten, und machte bei uns gemüthliche Rast. Es waren Leute aus einer kleinen Ortschaft bei St-Sorlin, welche sich auf einem Sonntagsspaziergang befanden. Die Gesellschaft bestand aus einem jungen, saubergekleideten Manne, der Flinte und Waidsack umgehängt hatte, seiner muntern, gesprächigen Gattin, der zu lieb wohl das Maulthier gesattelt und reichlich mit Proviant, beladen worden war, und einer jungen Aelplerin, welcher, wie ich denke, der Besuch gegolten hatte, und die ihren Freunden jetzt das Geleite bis auf den Gipfel der Losa gab.

Endlich machte eine wohlgenährte Ziege, wahrscheinlich das treue Hausthier des jungen Ehepaares, den Schluss der Karawane und ihr volles Euter mochte wohl dazu ersehen sein, die dürstenden Kehlen mit seinem duftenden Inhalt zu erquicken.

Es sei hier bemerkt, dass wir schon bei unserer Ankunft auf der Passhöhe ganz nahe am westlichen Fuss der Losa, eine vereinzelte Alphütte wahrgenommen hatten, deren Lage für das Nachtlager uns sehr passend zu sein schien. Unmittelbar hinter ihr stiegen begraste Hänge zu einem breiten, flachen Bergrücken empor, der sich an den vom Grand Sauvage nordwärts ausgehenden Zwischengrat anlehnte. Es schien nun keine Schwierigkeit obzuwalten, diesen letztern zu erreichen und von da hofften wir die jenseits liegende Gletscherebene leicht gewinnen zu können. Die Besichtigung dieser Oertlichkeit vom Gipfel der Losa fiel ganz zu Gunsten unserer Vermuthung aus. Auf meine Frage, ob jene Hütte bewohnt sei, erwiederte mir der junge Mann, sie sei nur von Schafhirten bezogen und wir würden dort ein schlechtes Unterkommen finden. Genug, die Antwort beruhigte mich vollkommen, war uns doch ein schützendes Obdach gesichert.

Der Jäger von St-Sorlin bezeugte grosses Wohlgefallen an meinem Fernrohr, das ich ihm zum Gebrauche anbot. Er hatte wohl nie ein so gutes Instrument in Händen gehabt und das ganze Stück Welt, das man erblickte, musste vor seinem Auge Revue passiren.

Wir liessen die Gesellschaft, unter gegenseitigem Abschiedsgruss, ihren Rückweg antreten, als sie sich Grandes Rousses.81

dazu anschickte und genossen noch eine Weile die herrliche Umschau, bis es auch für uns Zeit war, aufzubrechen.

Den Grat der Losa und ihren äussern niedrigeren Gipfel überschreitend, vollbrachten wir den Abstieg am westlichen begrasten Gehänge in weniger als einer halben Stunde und gelangten auf eine sumpfige Fläche, auf welcher schwarze Torferde zu Tage brach. Das war jene Einsattlung zwischen dem Berge les Valettes und der Losa, welche die orographische Verbindung zwischen dem Massiv der Grandes Rousses und dem östlich liegenden Alpengebiet vermittelt. Jenseits dieser Fläche um eine Ecke herumbiegend, gelangten wir nach wenigen Schritten zu der gesuchten Hütte, die jedoch verschlossen war und um welche herum sich kein lebendiges Wesen regte.

Wie wir später vernahmen, befanden wir uns auf der Alp la Valette oder wie Dausse schreibt les V a le t t e s. Die dazu gehörende Hütte liegt etwas erhöht an der Mündung einer flachen, mit dem schönsten Rasenteppich geschmückten und von einem klaren Bache durchflossenen Thalmulde, die sich in kurzer Strecke bis an den Fuss der felsigen, aber noch in reichem Maasse mit Schnee und Eis bekleideten Wände des Grand Sauvage hineinzieht und dort das Schmelzwasser aufnimmt, das unter dem Namen Sauvage die hinterste Quelle des Féran bildet. Zu beiden Seiten wird diese Mulde von zwei massigen Bergrücken eingefasst, die sich vom Kamm des Grand Sauvage ablösen und nach kurzem, östlichem Lauf in ziemlich steilem Abfall ihr Ende nehmen. Das Nordgehänge des südlichen Kückens ist in kahlen Schieferwänden jäh abgebrochen, enthielt aber bei unserm Besuch an den weniger steil abstürzenden Stellen noch bedeutende Schneemassen.

Das südliche Gehänge des nördlichen Rückens, an dessen Fuss die Alphütte liegt, ist weniger wild anzusehen und neben kahlen Trümmerstrecken von verwittertem Gestein mit reicher Schafweide bekleidet. Die ganze Thalmulde und der breite Bergrücken, der dieselbe nordwärts einfasst, gehören zur Alp les Valet tes, die trotz ihrer hübschen Lage und ihres üppigen Graswuchses als Schafberg benutzt wird. Wie sahen denn auch grosse Trupps dieser Thiere hoch oben am Gehänge herumspazieren und ein Mann, der uns bemerkt haben mochte, stieg raschen Schrittes herunter dem Stafel zu, vor welchem wir Stand genommen hatten.

Es war der Schafhirte. Nach gewechselten Grüssen that ich ihm den Wunsch kund, hier Nachtherberge zu nehmen. Wir waren ohne Zweifel die ersten Gäste, die ihn in seiner Einsamkeit besuchten und er schien einiges Misstrauen in uns zu setzen. Er habe keine Speise und keinen Raum für uns, war seine kühle Antwort, und wies uns nach einer Alp auf dem gegenüber liegenden Berge, die wir in einer Stunde erreichen könnten und auf welcher sich ein Sennthum befände. Allein ein solcher Abweg konnte für uns von keinem Vortheil sein und ich erklärte dem Manne, dass wir bleiben wollen, so gut oder so schlecht er es habe, indem ich ihn auf unsere noch unangetastete Provianttasche aufmerksam machte und — wir blieben! Er aber schloss die Thüre auf und hiess uns eintreten.

Allmälig schwand das Misstrauen des Schäfers, so wie wir ihm von unserer Heimath und unseren Reisezwecken nähere Kunde gaben und er sich durch das Studium unserer ehrlichen Gesichter von der Harmlosigkeit seiner Gäste überzeugt hatte. Ja, als mich sehr dürstete, ging er hinaus, um seine Ziegen vom Berge herunter zu holen. Es verging keine halbe Stunde, so kam er mit den Thieren daher und reichte mir nun frisch von der Ziege Milch, so viel mich gelüstete — und ich war nicht sobald satt. Aus seinen Mittheilungen erfuhren wir: er komme aus der Provence und es sei der erste Sommer, den er auf diesem Eerge zubringe. Dreizehnhundert Schafe, ein halbes Dutzend Ziegen und drei Maulesel ständen hier unter seiner Obsorge; der Eigenthümer der Schafe sei ein reicher Herr aus der Gegend von Arles, in dessen Diensten er stehe.Vierzehn Tage und Nächte habe er auf der Heise zugebracht, bis er mit seiner Schafherde auf der Alp angekommen sei und im Herbst müsse er sie auf dem gleichen Wege zurückführen. Seine einzige Aushülfe bei der Hut der Schafe werde .ihm von einem Knaben und einem kleinen Hunde -ge-leistet, welche seine Gesellschaft bilden. Das Herz des Mannes öffnete sich je mehr und mehr und er brach in Klagen aus über das langweilige und elende Leben, das er hier führen müsse. Man merkte wohl, dass er kein Kind des Gebirges war, sondern ein Sohn der Ebene, der des Sinnes und Triebes für die Reize des Aelplerlebens gänzlich entbehrte. Freilich, wenn man vernahm, dass seine Beschäftigung während der ganzen

Alpzeit ausschliesslich in der Hut der Herde bestehe,

3 3éStuder.

dass Schwarzbrod und Ziegenmilch Tag für Tag seine und des Knaben ausschliesslich^ Nahrung ausmache; dass das Brod je den vierten Tag in einer vier Stunden entfernten Ortschaft der Gemeinde Besse abgeholt werden müsse, so konnte man sich einigermassen in die Lage des improvisirten Schafhirten hineindenken und seine Klagesäusserimgen begreifen. Da der Mann hier fremd war, so wusste er mir natürlich über die Namen der Berge und über den von uns einzuschlagenden Weg nicht die mindeste Auskunft zu geben.

Der innere Raum der Hütte war eng und klein und jeder Bequemlichkeit bar. Neben der Thüre befand sich der kleine Feuerheerd und im hintern Raum ein schmales, elendes Lager von Heu. Einige Milchgefässe lagen auf einem Gesimse und schlechte, zerrissene Kleidungsstücke hingen an der Wand. Was die Feuerung betrifft, so wird hiefür der Torf aus dem nahen, kleinen Torfmoor verwendet. Denn auch diese Alp ist von Holz durchaus entblösst und schon ihre hohe'Lage würde dessen Wachsthum kaum gestatten.

Der Abend rückte heran. Es war einer jener schönen, milden Abende auf hoher Alp, die das Gemüth erheben und mit Wonne erfüllen — welche unvergesslich sind und durch ihren mächtigen Eindruck die Begeisterung für den Zauber der Alpenwelt zu wecken vermögen. Als wir in 's Freie traten, war die Sonne zwar schon hinter den hohen Kamm des Grand Sauvage hinabgesunken und die uns zugekehrte riesige Bergwand stand im Dunkel des Schattens ernst und finster, ja. fast drohend vor uns aufgerichtet. Aber die rasengeschmtickten Hänge der Losa, die baumlosen, grünen Triften, die ihren Fuss umziehen und die zahmen Höhen, die den Baum zwischen uns und dem Thal der Romanche ausfüllten, strahlten dafür im goldenen Glanz einer intensiven Beleuchtung, die gerade ihren Höhepunkt erreichte. lieber den Thaleinschnitt zwischen jenen noch von der Sonne verklärten Höhen und dem, uns gegenüber, aus der Tiefe der Thalschlucht sich erhebenden, schattenumfangenen Bergrücken war uns ein wunderschöner Ausblick nach den Gebirgen von la Grave gestattet.

Von der Meije zeigte sich noch in ihrer schönsten Pracht die felsige Gipfelkrone, wie sie dem blendendweissen Firnkleide entstieg. An sie lehnte sich der langgezogene, auf kahlen Felseiibollwerken ruhende Firnrücken, der mit dem glänzenden Eispanzer des Glacier de Mont de Laus bedeckt ist. Dieses, wenn auch beschränkte Bild der hohem Alpenwelt lag in unvergleichlicher Schönheit vor uns und die Majestät, die in seiner Erscheinung lag, verlieh der ganzen Gebirgslandschaft eine höhere Weihe. Der Himmel war wolkenlos, die Berge vollkommen klar, die Gletscher und Firne strahlten im hellsten Glänze und selbst die starren Felsen hatten ihre Furchtbarkeit verloren durch den goldenen Schimmer, der ihnen Leben und Glanz gab und die kalten Leiber zu erwärmen schien. Der Zauber dieses Bildes erreichte den höchsten Grad, als der letzte Sonnenstrahl einen milden Purpurschein über diese Felsen und Firne ergoss, während zu unsern Fussen schon nächtliche Dämmerung über der Tiefe waltete, in welcher das Vallon d' Aval sich dahinzog. Lange, ja bis der letzte Hauch des « Alpenglühens » erloschen war, staunten wir in stillem Entzücken diese wunderbar schöne Scenerie an.

Aber noch war uns ein Schauspiel anderer Art vorbehalten.

Der Zeitpunkt war eingetreten, wo jeden Abend die Schafe von ihren Weideplätzen hinab nach der Hütte getrieben werden, in deren unmittelbarer Nähe sie an mehr vor Kälte und Wind geschützter Stelle für die Nacht ihren Lagerplatz beziehen. Diese Aufgabe lag dem Knaben und dem wohleingeübten Hunde ob.. Schon sahen wir die ganze Herde in einer Linie aufgestellt, welche hinten in der Thalmulde ihren Anfang nahm und sich bis weit hinauf über das Gehänge der Bergwand, ja fast bis an den Rücken des Berges erstreckte. Die gesammte Front bewegte sich langsam gegen uns zu. Es war von Ferne anzusehen wie ein weiss uniformirtes Regiment Soldaten. Unten im Thale kommandirte der Knabe, oben auf der Höhe hatte der Hund seine schwierigere Aufgabe zu lösen, was er auch mit bewunderungswerther Geschicklichkeit that. Ohne dass man einen Laut von ihm hörte, wusste das flinke Thier die gewaltige Schaar in Ordnung zu halten, indem er die Faulen zur Eile antrieb, den allzu hitzig vorschreitenden Halt gebot. So rückten die 1300 in regelrechtem Frontmarsch trotz Graben und Gestein vorwärts. Allmälig wurde der linke Flügel in einer Schwenkung nach Rechts vorgeschoben und zuletzt konzentrirte sich die ganze Truppe so dicht als möglich auf dem ihr angewiesenen Lagerplatz, die Ziegen und Maulesel in ihre Gesellschaft aufnehmend.

Mit lebhaftem Interesse hatten wir diesem Manöver zugeschaut;

dann, noch einen Blick hinauf an den klaren Abendhimmel werfend an dem schon einige Sterne als Verkünder eines schönen Tages funkelten, traten wir wieder in die Hütte, wo das Nachtlager unser harrte. Auf der, eigentlich nur für zwei Menschenkinder berechneten Schlafstätte ward uns der beste Platz angewiesen. Schäfer und Hirtenjunge legten sich neben uns auf den nakten Boden; als aber ein allzu-frischer Nachtwind durch die Mauerritzen sich Bahn brach, versuchten sie von beiden Seiten so dicht als möglich sich an uns anzuschmiegen, um noch einen Lappen von der alten schweren wollenen Decke zu erwischen, die man sammt ihrer springenden Bevölkerung über uns gelegt hatte. So lagen wir zusammengedrängt wie die Häringe und konnten unsere Glieder kaum rühren. Selbstverständlich hatten wir uns keiner sonderlichen Nachtruhe zu rühmen. Ich wette, Freund Weilenmann, mit dem ich einige ähnliche Nachtlager getheilt, hätte die ganze Nacht durch kein Auge geschlossen.

Schon zu früher Stunde standen wir auf und machten uns reisefertig. Unser Schäfer holte draussen zwei seiner Ziegen, die er in die Hütte hereinbrachte und nachdem wir uns an der frisch gemolkenen Milch erlabt und einen Bissen Brod verschluckt hatten, brachen wir um halb drei Uhr Morgens auf und schieden in gutem Frieden und unter gebührender Anerkennung der genossenen Gastfreundschaft von den Bewohnern der Hütte.

Die Herde lag in gemüthlicher Ruhe draussen im Freien. Ueber uns wölbte sich der prachtvolle Sternen- himmel und die Sichel des Mondes beleuchtete spärlich unsern Weg.

Gleich hinter der Hütte begann der Anstieg an dem Rasengehänge des Bergrückens, der zunächst unser Ziel war. Bald hatten wir die gewölbte Höhe erreicht und nun ging es, meistens auf Raseii-boden, über den breiten, sanft ansteigenden Rücken in westlicher Richtung hinweg. An klarer, frischer Quelle schöpften wir einen gesunden Morgentrunk. Es begann zu tagen. Wir näherten uns zusehends der niedern Kammhöhe jenes Grates, der vom Grand Sauvage nordwärts ausläuft. Noch bevor wir sie vollends erreicht hatten, genossen wir das entzückende Schauspiel eines vollkommen reinen Sonnenaufgangs. Die Schneeüberreste, die wir antrafen, wurden immer reichlicher. Nach einem leichten angenehmen Gang von ungefähr zwei Stunden standen wir auf dem schneebedeckten Rücken der Kammhöhe und in überraschender Schönheit breitete sich dicht zu unsern Fussen der Glacier des Aiguës Rousses aus. Die blendendweissen Hochfirne stiegen von dem weiten, flachen, von schneeigen Kämmen eingefassten Gletscherbecken in sanften Stufen empor bis zur jähen eisigen Gipfelwand des Etendard, dessen schlanke Spitze, von « der Sonne vergoldet, uns freundlich zuzuwinken schien. Dieser herrliche Anblick elektrisirte uns. Mit gehobener Thatkraft machten wir uns nach einer kurzen Pause rasch wieder auf den Marsch, dem lockenden Ziele zu, das wir nun in seiner vollendeten Schönheit vor unsern Augen hatten. Der Weg war gleichsam vorgezeichnet. Jähe Schneehalden, von Felsklippen durchbrochen, dachten sich stufenlos gegen den Gletscher ab, den wir erreichen mussten.

Indem wir uns std-wärts wandten und in'schiefer Richtung den steilen Schneehang durchkreuzten, gelang es uns, ohne merkbaren Fall, auf die Gletscherebene zu kommen, die in ihrer ganzen Ausdehnung eigentlich nur ein weites Schneefeld bildete, auf dem keine einzige Spalte zu bemerken war. Wir überschritten die glänzende Schneewüste in der Richtung des Etendard, aber es bedurfte wohl eines stündigen Marsches, um bis an den Fuss der nach dem Gipfel sich emporziehenden Firnhänge zu gelangen. Hier befanden wir uns ungefähr im Niveau mit jenem Firnjoch, das die Verbindung des Etendard mit dem Grand Sauvage vermittelt, dessen Gipfel vlis hart zu unserer linken Seite liessen. Es galt nun. den Etendard selber anzupacken! Der nördlichen Gipfelkante entgegenschreitend, ging es auf gutem festein Firnschnee, mitunter ziemlich steil, daher auch langsam, über die aufeinanderfolgenden Wölbungen des Berges empor. Das obere Gehänge war von einigen Schrunden durchzogen und da wir wreder Seil noch Pickel zur Hand hatten, so erforderte die Sachlage Vorsicht und gespannte Aufmerksamkeit, an der es denn auch der vorangehende Peter nicht fehlen liess. Ohne besondere Schwierigkeit passirten wir das Revier der Schrunde und rückten vor bis an die letzte steile, mit hartem Firnschnee bedeckte Wand, die nach der Spitze hinaufführte. Wäre die Firnmasse hier um ein Geringes härter oder gar in festes Eis umgeschmolzen gewesen, so hätte uns die Erklimmung dieser Wand grosse Verlegenheiten bereitet. So aber konnten wir mittelst Ausstechens einiger Stufen mit der eisernen Spitze -des Bergstockes die Wand in etwas schiefer Richtung quer durchziehen " und uns der nördlichen Kante des Gipfels zuwenden, deren schwarzes Aussehen uns schon von weitem zur Annahme berechtigt hatte,, dass an der westlichen Rückwand des Gipfels das nackte Gestein zu Tage komme.

Die aus gebrochenen und verwitterten Felsen aufgebaute, daneben ziemlich scharf zulaufende Kante wurde nach einigen misslichen Schritten, bei denen mir Peter die Hand bot, glücklich erreicht und über die Felsen emporkletternd in kurzer Zeit die Spitze erklommen.

Das Werk war vollbracht! Nach einem weitern Orange von drei Stunden, also nach einem Gesammt-marsehe von fünf Stunden von der Alphütte les Valettes hinweg, standen wir siegreich auf dem Etendard, dem höchsten Gipfel der Grandes Rousses. Es war halb acht Uhr. Trotz meiner 69 Jahre fühlte ich mich wenig ermüdet. Die Temperatur war während der ganzen Wanderung angenehm frisch, der Weg im Ganzen bequem, der Schnee in vortrefflichem Zustande gewesen. Die schneeige Spitze bot wenig Raum dar,, doch konnte man mit Sicherheit darauf stehen. Westwärts zog sich die Schneedecke einige Schritte weit hinunter, bevor der steile'Felsabsturz begann. Ostwärts war man durch eine Schneewächte von dem Abhang getrennt, der sich ziemlich sanft abdachte und schneelose, mit Felstrümmern bedeckte Strecken aufwies. Nach Norden und Süden senkte sich die Gipfelkante schmal und steil nach der Tiefe. Merkmale früherer Besteigungen fanden sich keine vor. Es wäre aber auch zu mühsam gewesen, das Material zu einem Steinmann herbeizuschaffen und, wenn auch errichtet, hätte ein solcher Bau auf der vollständig mit Schnee bedeckten Spitze kaum lange bestehen können.

Es ist mir eine einzige frühere Besteigung des Etendard bekannt geworden, diejenige der Herren M. A. Mathews jun., seines Bruders Georg und Rev. T. G. Bonney, welche am 6. August 1863 stattgefunden hat. Diese Thatsache schliesst jedochT wenn man die verhältnissmässig leichte Zugänglichkeit des Berges von der Ost- und Nordseite in Betracht zieht, die Möglichkeit, ja selbst die Wahrscheinlichkeit anderweitiger Besteigungen keineswegs aus.

Jene Engländer brachten mit ihren Führern M. Croz und J. B. Simond, aus Chamounix, die Nacht in den obern Sennhütten der Alp Cochette zu, welche am nordwestlichen Fusse des Etendard liegt. Am Morgen stiegen sie bei dem Col de Cuard vorüber durch das Thal von Cochette aufwärts bis zum kleinen See von la Sasse. Hier wandten sie sich östlich gegea den Fuss eines steilen, durch eine Schlucht herunterkommenden Gletschers und unternahmen dessen Erklimmung. Das Eis war ausserordentlich hart und es mussten Tritte gehackt werden. Von oben fielen Steine herab. Endlich erreichten sie den Firn und die Höhe der Moraine. Sie waren an der Basis des Gipfels, von welchem sie noch ein Schneeband trennte. Nach kurzer Rast wurde das Schneegehänge überschritten und eine ermüdende und sehr schwierige Kletterei über steile, brüchige Felsen, welche an die Erklimmung des letzten Kegels der Grivola erinnerte, brachte die Reisenden um 10 Uhr 15 Minuten nach einem Marsch von 6 7* Stunden auf die Spitze, wo sie sogleich erkannten, dass der Gletscher, der auf der Seite der Maurienne in zierlichen Windungen sich hinabzieht, den bequemsten und natürlichsten Anstieg dargeboten hätte.

Der Rückweg wurde nach dem See von Balmerousse eingeschlagen und sodann, auf sehr ermüdendem Wege durch das Thal von Yaujany niedersteigend, um 7 Uhr Abends das bei Allemont an der Mündung des Ollethals gelegene Eisenwerk erreicht, von wo ein Wagen die Gesellschaft noch bis Bourg d' Oisans führte.7 )

Der Geologe Dausse hat auf seinen Wanderungen im Gebiet der Grandes Rousses sowohl die Spitze der Herpia besucht als auch von les Valettes aus den Grat überschritten, der vom Grand Sauvage nördlich gegen das Thal des Arvan ausläuft. Er nennt denn auch die Stelle der Überschreitung Col des Valettes. Dagegen scheint er keinen der höchsten Gipfel des Massivs erstiegen zu haben.

Bei unserer Ankunft auf der Spitze wurden wir von einem scharfen Nordwind begrüsst, der nicht gerade heftig war, aber doch eine unbehagliche Empfindung von Kälte verursachte. Dafür hatten wir aber diesem unliebsamen Gaste den wolkenlosen Himmel und die Klarheit der Aussicht zu verdanken, die uns zu Theil ward. Dieselbe charakterisirt sich hauptsächlich dadurch, dass sie ausschliesslich Gebirgsaussicht ist und zwar in dem Maasse, dass selbst die nächstliegenden Thäler dem Auge entzogen sind. Wohl aber ist ihr der Vorzug eigen, dass, ungeachtet der grossen

. ' ) Vergl. Alpine Journal. Tora. 1. 294.

Ausdehnung des Gesichtskreises und der Mannigfaltigkeit der Gegenstände, der Horizont fast in seinem ganzen Umfange durch die bestimmt ausgeprägten Profile noch deutlich erkennbarer, ja zum Theil ganz naheliegender Bergketten scharf begrenzt wird. Nur gegen Norden und Nordwesten verliert sich ein Theil der Aussicht in unbestimmter Ferne.

Es mag zwar etwas gewagt erscheinen, in eine Detailschilderung des grossartigen Panoramas einzutreten, zumal die alpine Literatur auf dem Standpunkte angekommen ist, wo dergleichen eingehende Schilderungen sich dem Vorwurfe aussetzen, sie seien unpassend, die trockene Aufzählung einer Menge von Bergnamen sei langweilig und ermüdend und es dürfe der Gesammteindruck, den ein allgemeines Charakterbild hervorrufe, durch solche prosaische Zuthaten nicht gestört oder sogar verwischt wrerden.

Es liegt allerdings einige Berechtigung in diesem Vorwurf, aber er führt unwillkürlich auch zu dem Gedanken, dass man mit dem Tadel gegen Andere, es sich selbst leicht machen und den eigenen Mangel an Ortskenntniss bemänteln möchte, der es dem Besucher eines hohen Berges nicht gestattet, sich in dem vor ihm ausgebreiteten Gipfelmeer zu orientiren und in seiner nachherigen Schilderung anzugeben, nicht nur wie, sondern was er Alles gesehen hat. Zudem ist es nicht Jedermanns Gabe, eine Aussicht in allgemeinen Charakterzügen so zu schildern, dass der Leser dadurch ein richtiges Bild gewinnt und ich bin überzeugt, dass es namentlich unter den Clubgenossen noch manche gibt, welche neben der idealen und ästhetischen auch die praktische und belehrende Seite zu schätzen wissen und für welche die erklärende Schilderung einer ihnen fremden Gebirgsaussieht, die doch kaum ohne Namensnennung der sichtbaren Gebirgszüge und der hervorragenden Gipfel geschehen kann, einen gewissen Werth hat.

Gerade die Namensnennung bringt dem Leser manchen bekannten und vielleicht liebgewonnenen Berg in Erinnerung und setzt ihn dadurch in die Möglichkeit, sich in der geschilderten Aussicht selbst mehr oder weniger heimisch zu fühlen und um so leichter sich darin zurecht finden zu können.

Für solche Leser will ich es denn auch wagen, die Rundschau vom Etendard, wenn auch in möglichst gedrängten Zügen, doch etwas eingehend, zu beschreiben.

Wohl zuerst richtet sich der Blick des Schauenden nach Süden, von wo ihm, nur durch die nächste Gebirgsabdachung und das Thal der Romanche getrennt, ein Kranz leuchtender Eis- und Felsgestalten, aus unsichtbarer Tiefe emportauchend, in hehrer Majestät entgegenstrahlt. Auch mich fesselte die Schönheit dieser Erscheinung und so wie ich jetzt das grossartige Bild der Pelvouxgruppe mit den stolzen Gipfeln und den glatt abstürzenden Eisflanken vor mir entfaltet sah, erkannte ich mit Befriedigung, dass meine Erwartung mich nicht getäuscht hatte. Freilich ist es zunächst nur die hochaufgethürmte nördliche Randkette dieser Alpenerhebung, die sich aber in ihrer vollen Ausdehnung und Mächtigkeit präsentirt, und wenn auch der Blick nicht bis in den Grund des Thales hinabzudringen vermag, so steigen doch die wilden, vergletscherten Gestalten noch so gewaltig über die ihren Fuss ver- deckenden, diesseitigen grünen Vorberge in den blauen Aether empor, dass man den vollständigen Begriff von der Erhabenheit und dem kühnen Bau dieses Gebirgs-niassivs erhält.

Dort in der Richtung von Briancon mit dem schneebedeckten Kamme des Mont Combay-not und seiner namenlosen Nachbargipfel beginnend, aus deren Schooss die junge Romanche hervorströmt, erhebt sich auf riesigem Fussgestell die Hauptmasse in der Prachtsgestalt der vierzackigen Meije, an deren jähen Flanken und breiten Schultern gewaltige Firne und Gletscher, von scharfen Scheidekämmen durchbrochen, tief herunterhängen und ihre blendende Schönheit zur Schau tragen. Redhts an die Meije lehnt sich die graziös gewölbte Schneekuppe des Râteau mit ihrem felsigen Gipfelabsturz. Ein scharf ausgezackter Kamm dehnt sich von ihr nach dem Pic de la Grave aus und nun folgt der weisse, in sanftem Bogen sich ausstreckende Rücken des Glacier de Mont deLans, dessen Eiszungen weit hinab gegen das Romanchethal sich ausspitzen. Alle diese genannten Gipfel und Kämme tibersteigen die Höhe von 3000 m und an der Meije berühren sie fast die Grenze von 4000 m. Der innere Gebirgscomplex der Pelvouxgruppe, der zwischen der Bérarde und Yallouise sich zu hohen Kämmen und Spitzen emporschwingt, bleibt dem Auge allerdings in seiner Gesammtmasse verborgen. Um ein übersichtliches Bild von dieser centralen Gruppe zu gewinnen, müssten noch westlich und östlich davon liegende, hohe Standpunkte aufgesucht werden. Immerhin vermögen es einige ihrer höchsten Gipfel die tieferen Stellen des nördlichen Randgebirges zu überragen und sich von unserm Standpunkte aus sichtbar zu machen.

So zeigt sich zur Linken der Meije im Hintergründe ein zackiger Kamm, den ich für die Crête des Pave au s halte. Hinter der Lücke, welche Breche de la Meije genannt wird, erscheint der Doppelgipfel des Grand Pelvoux, dessen Culminationspunkte 3934 und 3938 m, also die Höhe des Bietschhorns und Trugbergs erreichen. Hinter dem Râteau steigt in kühnem Schwung die Firnspitze der Pointe des E crin s so dominirend empor, dass ihr Anblick einen Glanzpunkt in diesem Gebirgsgemälde bildet. Diese Spitze, die höchste des Massivs, hat eine Höhe von 4103 m, übersteigt also unser Schreckhorn und kommt der Höhe des Mönchs gleich. Endlich tritt zur Rechten des Râteau noch die ausgezackte Wand der Aile froide hoch am Horizonte empor, welche immer noch eine Höhe von 3925 m behauptet. Da wo der schöne Firnrücken des Glacier de Mont de Lans gegen die niedrigen, zahmen Höhen sich versenkt, welche sich in westlicher Richtung der Stelle zuwenden, wo der Vénéon mit der Romanche sich vereinigt, beginnt im Hintergrunde die stattliche Reihe kühn geformter Gipfel sichtbar zu werden, die den südlichen Verzweigungen des Thales von St-Christophe entsteigt. Diese Gipfelreihe bildet den Centralstamm der westlichen Auszweigungen der Pelvouxgruppe und erstreckt sich bis unterhalb Bourg d' Oisans. Es sind meistens stolz empörgerichtete, eisumpanzerte Gestalten mit kahlen Felszinnen oder lothrecht abfallenden Gipfel-wänden. Ihre Höhe bewegt sich zwischen 3300 und 3 500 m. Während schon hinter dem Rücken des Glacier de Mont de Lans einige Spitzen dieser Gruppe aufzu- tauchen vermögen, folgen sich mehr westlich freier und imposanter hinter den niedrigeren Höhenzügen hervortretend:

Cime du Vall on, Aiguille d' Olan, Aiguille des Arias, Tête de Loranoure, Roche de la Muselle, kenntlich an dem flachen Firnrücken, der jäh ansteigend bis an die höchste Zinne reicht; ferner die Tête Mitraillette und der Mont Journale t. Diese Gipfel sind fast durchgehends durch tiefe Einsattelungen von einander getrennt, die indessen nirgends unter die Schneelinie herabsinken, aber doch einzelnen Spitzen entfernter liegender Bergketten gestatten, ihr Haupt noch über sie zu erheben.

Bei dem Mont Journalet wird der Gesichtskreis, der von der Gipfelreihe der Oisansgebirge bekränzt wird, durch den hohen Kamm der Grandes Rousses selbst unterbrochen, der nun am Horizonte aufsteigt. Das Auge kann die scharfe Schneide dieses Kammes mit seiner ungleichen Abdachung sehr deutlich übersehen, wie derselbe vom Etendard in gebrochener Linie gegen den ihm ebenbürtigen zweiten Gipfel ausläuft, welcher in dem Profil einer breitabfallenden, schönen Schneespitze den blauen Himmel in einer Höhe schneidet, die nach der Schätzung des blossen Auges die des eingenommenen Standpunktes zu übertreffen scheint: Ohne Zweifel ist diese Schneespitze identisch mit derjenigen, die in der Karte von Bourcet den Namen Haut Le virent trägt. An einigen Stellen ist es gestattet, einen Blick zu thun auf das westlich abstürzende, kahle Felsgehänge, aber fast mit Grauen nimmt er die Steilheit der Abdachung wahr und wendet sich gern von diesem Bilde ab,,um auf dem sanfter geneigten Gehänge der östlichen Abdachung zu ruhen und die strahlenden Gletscher und Hochfirne zu betrachten, die, von drohenden Klüften durchzogen, von den untern Terrassen bis an die höchsten Zinnen hinauf den Felsenleib bedecken.

In auffallendem Kontrast mit dem erhabenen Charakter des so eben geschilderten Theils unserer Rundschau, erschliesst der westliche Gesichtskreis, in dessen Rahmen zwar theilweise schon die Grandes Rousses fallen, dem Auge niedrigere Bergketten, an denen nur noch hie und da Schneeflecken hängen " bleiben. Es sind die äussersten Ausläufer der Pelvouxgruppe, zwischen denen der Drac und die Romanche schon; als mächtigere Bergströme sich ihre Bahn gebrochen haben, um bald vereint bei Grenoble mit der Isère sich zn verbinden. Noch in weiter Ferne zeigen sich in der Richtung von Valence Gruppen unbekannter Berge mit Schnee gezierten Gipfeln, welche das Rhonethal beherrschen mögen. Ein schärferes Auge, als das meine, dürfte vielleicht noch die Ebene von Lyon und den Höhenzug des Forez erkennen. Im nächsten Vordergrunde taucht der Blick in den Abgrund hinab, wo das grüne, schneegefleckte Hochthal von Cochette dem Fuss der Gipfelwand entlang sich hinzieht. Er überfliegt die zahmen Alphöhen, zwischen denen die Thäler vonVaujany nnd der Olle eingebettet sind; er dringt an der Mündung des Ollethals in die Ebene von Sables uud am Fuss des jenseitigen Berghangs schimmert ihm eine Ortschaft entgegen, in der er das Dorf Allemont zu erkennen glaubt. Allein, es thürmt sich dahinter schon wieder die mächtige Gebirgsgruppe auf, welche den Raum zwischen den Thaleinschnitten der Olle und des Bredaz und dem von der Isère durchflossenen Thalbecken von Grésivaudan ausfüllt.

Hochaufstrebende, schneebedeckte Gipfel, wie der Belledon ne und der Pic du Grand Glacier, kahle wilde Felsgestalten, wie die Rocs de Billian entsteigen diesem Massiv. Aber man steht auf dem Etendard so hoch, dass man über diese Gipfel und Kämme noch hinausscbaut nach den steilen Gebirgswänden jenseits der Isère, hinter denen im tiefen Schooss wald- und alpenreicher Berghöhen die berühmte grosse Karthause verborgen liegt.

Wenden wir uns nach Norden! Da weilt das Auge zunächst auf den wunderschönen Hochfirnen, die sich von der jähen Gipfelwand des Etendard in graziösen Windungen nach dem Glacier des Aiguës Rousses hinunterziehen, dessen strahlende Schneefläche in ihrem ganzen Umfang zu den Fussen des Schauenden ausgebreitet ist. Man beherrscht in stolzem Bewusstsein die das weite Becken einschliessenden hohen Gebirgskämme und von der Region des ewigen Schnees schweift der Blick hinüber nach den grünen sonnigen Berglehnen, an deren Fuss die Häusergruppen von St-Jean d' Arves einen freundlichen Gruss empfangen.. Ueber diese Höhen hinaus entfaltet sich ein Wirrwar von Gipfeln und Bergketten, die der Maurienne angehören, theilweise noch einigen Schnee tragen, aber auch bis auf die höchsten Joche mit dem Grün reicher Alpweiden geziert siud! Dieses Netz von Bergen ist von dem Thale des Are durchschnitten, in dessen Grund

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zu schauen, jedoch durch die hohen Vorherge verwehrt ist. In weiterer Ferne liegt die ganze Bergwelt Savoyens ausgebreitet da. Es sind die Gebirgszüge, wrelche nord-Avärts der Isère das grosse Gebiet zwischen Rhone und Arve ausfüllen: die Berge, die das Becken von Chambéry und den Lac Bourget umkränzen, die Höhen bei Fa verges und Ugine, die Gipfel, die den Annecysee beherrschen; das Massiv der Bornandthäler und die Höhen jenseits des Arvethals. Wie - die Wogen eines grünen Meeres reihen sich Gipfel an Gipfel. Als Reminiscenzen meiner Wanderung winkten mir aus diesem Gipfelmeer der Col de Tamié, die Tour nette, der Mont Char vin, die lange Kette, die in der Aiguille Percée culminirt, der Môle, ja selbst noch die Cornettes und Dents d' O ehe am Genfersee entgegen. In der äussersten Entfernung waren in schwachen Umrissen Jurahöhen hinter Genf zu erkennen.

Schon mehr gegen Nordosten wird der Horizont durch das Profil der Montblanckette und ihrer Nachbargruppen abgeschlossen. Hoch und feierlich in seinem Schneemantel thronend, fesselte die breite Gestalt des Montblanc selbst den staunenden Blick. Zur Linken ist diese Gruppe flankirt von den Aiguilles Rouges, dem Buet, der Dent du Midi, der Pointe de Salières und hinter dem Einschnitt der Col de Bal me vermag noch ein einziger Gipfel der Berner Alpen, die Diablerets, in den Gesichtskreis zu treten, während zur Rechten des Montblanc der zugespitzte Kamm der Grandes Jorasses sich Geltung verschafft.

Nun aber beginnt eine lange ununterbrochene Reihe schneegekrönter Spitzen und Kämme, welche den ganzen östliche n Gesichtskreis umfassen und hinter den grauen niederen Gebirgszügen der Tarent ai se in mannigfaltigen Formen und in mehrfacher Gliederung den Horizont bekränzen. Zuerst begegnet dem Auge die Kette der penninisehen Alpen. Sie ist zwar schon entfernt- und ihre genaue Entzifferung etwas schwierig; doch erkannte ich über den düstern, kahlen, kaum zu bestimmenden Vormauern, die dem Grossen St. B e r n h a r d angehören, klar und deutlich den Kleinen und Grossen Combin und den Mont Vélan und weiter Rechts: Ruinette, Montblanc de S e i 1 o n und Dent Blanche. Hier wird diese Kette durch die Gruppe der G r a j i s c h e n Alpen, die sich im R u i t o r gletscher aufgipfelt, überragt. Dann folgen in noch näherem Gliede die schneebedeckten Kämme zwischen Yal de Tignes und Val Pesey: die zackigen A i g u i 11 e s R o u s s e s, die an das Balmhorn erinnernde Gestalt des Mont Thuria und andere, namenlose Gräte und Spitzen. Den Kamm der Aiguilles Rousses überragend, tritt aber der Felsenobelisk des Matt er hörn s wieder hoch und kühn am Horizont empor, und hinter den Bergen des Peseytlials erscheint die Gruppe des Monte Rosa. An jene Berge sich anschliessend, zeigt sich das Massiv der Grande Casse und mehr im Hintergrunde, diesem zur Linken, die Grande Sassière und zur Rechten der hohe ausgezackte Grat des Grand Paradis. Dem Auge schon viel näher gerückt, schwingt sich der breite mit einem Eispanzer bedeckte Rücken der Va- noise in schöner Wölbung empor und entfaltet seine volle Glorie.

Auf der Seite des Thales der Maurienne entsteigen diesem Rücken noch die Dent de Parasse und die Roche Chevrière, bevor er sich in die Tiefe des Thales versenkt. Wir nähern uns dem Mont Cenis. Fast sollte man glauben, bei Lans le Bourg sei die Thalsohle selbst noch sichtbar, so tief hinab kann der Blick die Bergflanken verfolgen. Doch ist ihm die hinterste Thalverzweigung theilweise erschlossen und er sieht derselben die schneeigen Gipfel des Pic d' Albaron, der Pointe duSea und der Pointe du Chardonnet entragen. Vor diese letztere Spitze sind die hohen Kämme hingepflanzt, die den Einschnitt des Mont Cenis-Passes umschliessen und diesseits der Mont Cenis-Gruppe erheben sich die schneeigen Gebirgskämme, welche dem südlichsten Cen-trais tamme der Grajischen Alpen und seinen gegen das Thal der Maurienne niedersteigenden Verästungen angehören. Man gewahrt die Einschnitte der verschiedenen Querthäler, aber die Zwischenwände sind zu hoch, als dass man die Thalsohlen selbst erblicken könnte. Ja, die nächste Scheidewand, die das Thal des Arvan mit seinen Verzweigungen vom östlich liegenden Thale von Valloires trennt erhebt sich aus der Tiefe des Abgrunds zu so mächtiger Höhe, dass die Aiguilles d' Arves, welche dieselbe krönen, den Gesichtskreis fast ausschliesslich beherrschen und kaum gestatten, dass noch die Felsengestalt des MontTa-bor und einige Sclmeegipfel, zwar nicht die Spitzen der Aiguilles selbst, aber doch die Einsattelungen des Kammes zu überragen vermögen. Die Aiguilles d' Arves in Verbindung mit den Aiguilles de la S a u s s e, indem sie die Zinnen einer schneebedeckten Bergwand zieren, gewähren ein Bild von grösser Schönheit und eigentümlichem Gepräge.

Die verhältnissmässig niedrigen, baumlosen Alphöhen, welche den Raum einnehmen zwischen dieser Gruppe und dem östlichen Vorbau des Etendard, der in dem Grand Sauvage aufgerichtet ist, tragen durch ihr einförmiges Grün nur dazu bei, den Effekt jenes Bildes zu erhöhen. Die schwarze Felsspitze des Grand Sauvage, so wie sie mit ihrem weissen Gewände angethan, malerisch aus dem schönen Firnbecken sich heraushebt, bildet eine Zierde des Vordergrundes. Sie hat jedoch ihre imponirende Grosse dadurch eingebüsst, dass man sie vollständig dominirt und selbst mit einiger Geringschätzung auf diesen überwundenen Riesen hinabblickt.

Zur Rechten des Massivs, das von den Aiguilles de la Sausse gekrönt wird und an dessen Fuss man die Stelle des Passübergangs des Colle di M artig n ara wahrnehmen kann, öffnet sich der Thaleinschnitt von la Grave, gegen den sich zackige Kämme niedersenken. Ueber diese hinausblickend, kann man die Gebirgszüge hinter Briançon erkennen und am fernen Horizont treten mächtige Kämme auf, welche den Centralstamm der Cottisehen Alpen bezeichnen. Gerade in der Richtung des Mont Combeynot und der dahinter aus dem Thal von Servières auftauchenden schwarzen Spitze der Pointe d' Ar vieux lässt der Gipfel des Monte Viso seine wilde Hoheit bewundern.

Und somit wäre das Schema unserer brillanten Rundschau zu Ende gebracht.

Sie umfasst, wie gesagt, ein reines Gebirgspanorama, welches jenes landschaftlichen Reizes entbehrt, den der Anblick freundlicher Thäler und Niederungen mit ihren blinkenden Kirchen und Schlössern, ihren blauen uferbelebten See'n, ihren dunkeln Waldungen, ihren goldenen Fruchtfeldern einer Rundschau von hoher Bergesspitze, im Kontraste mit der ernsten und starren Hochgebirgswelt, zu geben vermag, das sich aber durch den umfangreichen Gesichtskreis, durch die malerische Gruppirung der Gebirgsketten und die Schönheit der Einzelbilder in hohem Grade auszeichnet.

Der Hochgenuss, der mit dieser Umschau verbunden war, hatte Geist und Gemüth genährt und gestärkt, allein der Leib machte nun ebenfalls seine Bedürfnisse und Ansprüche geltend und damit wir mit mehr Behagen uns auch dem leiblichen Genüsse hingeben können, der in dem Angriff auf den bescheidenen Inhalt unsers Proviantsackes bestand, vertauschten wir den Standpunkt auf der windigen Spitze mit einem sonnigen « abern » Plätzchen am östlichen Gehänge, wo wir uns, vom Winde geschützt, auf einige verwitterte Gneisstrümmer hinlagerten.

Nach den Mittheilungen von Dausse und Prof. B. Studerist das Massiv der Grandes Rousses in geognostischer Beziehung aus zwei Hauptformationen

. ' ) Dausse, Essai sur la forme et la constitution de la chaîne des Grandes Rousses. 1834. ( Mémoires de la Société Géologique de France ).

B. Studer, Geologie der Schweiz.B.ern und Zürich 1851.

zusammengesetzt, einer k r y s t a ] 1 i n i s c h e n und aus Sedimentgesteinen.

Der mittlere Hauptrücken des Massivs besteht aus Gneiss. Am westlichen Abhang des Rückens in den « Petites Rousses » wird der Gneiss granitähnlich — P r o t o g i n. Tiefer verliert sich jede Spur von Stratiii-kation und es herrscht wahrer Granit, als Basis der ganzen Gruppe. Aufs engste mit dem Gneiss verbunden ist die A n t h r a c i t b i 1 d u n g. Sie erscheint in mehreren ihm eingelagerten Streifen im höchsten Gebirgskamm. An seiner obern Grenze ist der Gneiss und Granit voll Schwefelkies und meist durch Zersetzung desselben aufgelockert und geröthet. Diese röthliche Farbe, die besonders am höchsten Kamme augenfällig ist, mag der Namensbezeichnung « Rousses » .zu Grunde liegen. Zunächst auf dem Gneiss zeigt sich, mit nackter Oberfläche, eine 4—5 m mächtige Schale von dolomitischem Kalkstein wie angeschmolzen, mit Adern und Knoten von Quarz. An mehreren Stellen wird dieser Kalkstein von Rauchwacke begleitet und in der Schlucht des Flumay tritt auch Gyps hervor. Die äussere Umwalluug der Centralmasse wird von dem gewöhnlichen grauen und schwarzen Belemniten führenden Schiefer gebildet. Die Schiefer-. masse begleitet die Gneissformation an den untern Hängen des Centralkammes und reicht bis in die Tiefe der Flussbette hinab; sie bildet die mit Alpweide bedeckten Vorberge, die sich an die Centralmasse an^ lehnen und breitet sich vorzugsweise in östlicher Richtung in dem Complex jener zahmen Berghöhen aus, über welche die verschiedenen Pässe aus dem öGStiidcr.

Thale von St-Jean d' Arves nach la Grave oder Oisans in 's Thal der Romanche hinüber führen. In der Flumay-schlucht ist der Gneiss in der Nähe des Contactes mit dem Schiefer sehr eisenschüssig und sowohl in der Flumayschlucht als in der Schlucht des Féran lehnt sich die Gneissmasse über die Kalkstein- und Schieferbildungen und diese sind umgebogen. Es ist als ob vom Innern der Centralisasse aus nach beiden Seiten ein mächtiger Druck ausgeübt worden wäre, wie wir es auch in unsern Berneralpen annehmen müssen.

.'Das ausgewählte « abere » Plätzchen befand sich nur wenige Schritte unterhalb der Spitze, so dass wir immerhin noch einen Gesichtskreis im Auge hatten » der die schönsten Partien der Aussicht umfasste und vom Montblanc bis zu den Bergen von Oisans sich ausdehnte.Vier volle Stunden dauerte der Aufenthalt auf dem Etendard. Ein grösser Theil des Panorama's war skizzirt, die Mittagsstunde angerückt: da war es denn auch Zeit, dem schönen Gipfel Lebewohl zu sagen. Unser Tagesziel war St-Jean d' Arves. Der kürzeste Weg dahin schien der zu sein, dem Lauf des Gletschers zu folgen und durch das Thal hinaus-zugehn, das sich gegen St-Sorlin d' Arves öffnet. Um den Abstieg über die steile Gipfelwand zu vermeidenT schritten wir eine Strecke weit an der breiten, östlichen Abdachung hinunter bis zur Stelle, wo sich das Gehänge in zierlicher Wölbung zu einem schmalen Schneerücken .ausbeugt, der sich sodann ziemlich steil nach der Einsattlung am Fusse des Grand Sauvage hinabsenkt. Bei jener Stelle hielten wir uns links und versuchten den nördlichen Firnhang in schiefer Richtung zu durch- Grandes Rousses.57.

schreiten, um die tiefer liegenden Firnterrassen zu gewinnen. Die einzige Schwierigkeit, die wir zu überwinden hatten, lag in der grössern Zerklüftung des Firns, welche für unsern Marsch die grösste Vorsicht erforderte. Als wir die letzte, uns direkt im Wege stehende Kluft an ihrer schmälsten Stelle glücklich passirt hatten, konnten wir ohne Sorge rascher vorrücken. Wir trafen bald auf die noch sichtbaren Spuren unserer Tritte und erreichten das ebene Schneefeld, das den Gletscher bedeckte. Dieser zog sich in sanfter Abdachung hinaus, allmälig zu einem schmalen Becken sich gestaltend. Nachdem unsere Schneewanderung über eine Stunde gedauert hatte, verliessen wir den Gletscher und benutzten noch so lange als möglich die mit Schnee überwölbten Bachbette, die sich gegen eine vor unsern Augen sich öffnende Felsschlucht hinauszogen, an deren äusserster Mündung wh* auf grünem Plan eine Alphütte gewahrten.

Als die Schneebrücken zurückblieben, mussten wir uns zuerst am rechten, sodann am linken Ufer des Gletscherbaches durch ein Gewirre von Felsklippen und Felsblöcken hindurch arbeiten und allmälig die Tiefe zu erreichen suchen. Im Rückblick erst bemerkten wir, dass der Gletscherbach an einer Stelle, wo er zwischen hohe Felsen eingezwängt wird, einige malerische Falle bildet. Eine Strecke weit waren wir genöthigt, uns noch in einer gewissen Höhe zu halten und pfadlos an den Hängen und auf schmalen begrasten Bändern vorzurücken, bis das Gelände etwas zahmer sich gestaltete und es uns gelang, an steilen Grashalden nach jener Alphütte hinunterzusteigen.

Es war die Hütte der Alp la Balme. Sie liegt öd und einsam in einem engen, baumlosen und steinichten Bergkessel, würde aber dem Reisenden, der von St-Jean d' Arves aus die Besteigung des Etendard auf direktem Wege vornehmen wollte, zu einem Nachtquartier sehr dienlich sein. Die Erklimmung der Spitze dürfte von da aus kaum mehr als vier Stunden Zeit erfordern.

Als wir uns der Hütte näherten, sahen wir alle die herumliegenden plattern Steine mit Kuhdünger belegt, der auf diese Weise an Sonne und Luft ge-dötrt wird, um bei dem gänzlichen Holzmangel als Feuerungsmaterial benutzt zu werden.

Von jetzt an hatten wir gut gebahnten Weg. Derselbe führte durch eine kleine Thalenge, durch welche der Gletscherbach sich Bahn gebrochen hat, in das Thal des Ar van, bog sich jedoch, ohne den Thalgrund zu berühren, um eine Bergecke herum und zog sich sodann frei und angenehm, in einiger Höhe über dem Thalgrunde, der Seite eines mit dem reichsten Oraswuchse bekleideten, zahmen Bergrückens entlang, thalauswärts. Mit diesem parallel laufend, sahen wir uns gegenüber den grünen Rücken des Col d' Or non. Dieser Col hätte uns vielleicht am raschesten nach St-Jean d' Arves gebracht, allein es war mir daran gelegen, auf einem für mich noch neuen Wege unser Ziel zu erreichen. Hell glänzte, nicht mehr fern vor unsern Blicken, das Dorf St-Sorlin, am Fuss grüner Berghänge in einem freundlichen Thalbecken gelegen. Nach kurzem Abstieg am Tlialausgange und nach Ueberschreitung des Wassers betraten wir das offene Becken, in dem sich mehrere Bäche, die den hintersten Thal- gründen einfliessen, mit dem Arvan vereinigen, der nun plötzlich seine nördliche Richtung in eine südöstliche wendet, um sodann unterhalb St-Jean d' Arves Avieder nördliche anzunehmen, bis er bei St-Jean de Maurienne in den Are sich ergiesst.

Von St-Sorlin aus ist der Etendard nicht mehr sichtbar, wohl aber der Gipfel des Grand Sauvage. Das Becken wird westwärts durch die begrasten und theils felsigen Hänge geschlossen, die nach dem Col de la Petite Olle hinaufführen und thalabwärts begrüsst man Häuser und Kirche der Gemeinde St-Jean d' Arves auf lieblicher Wiesenterrasse gelegen.

Ohne Rast durchschritten wir das Dorf St-Sorlin und die kleinern Ortschaften dieser Gemeinde und nach einem Marsch von fünf Stunden langten wir in unserm Quartiere an. Ich fühlte mich etwas erschöpft, aber ein paar Gläser St-Jean und eine kräftige Suppe brachten mich rasch wieder in vollkommen normalen Zustand.

Ich freute mich der gelungenen Expedition und Peter theilte diese Freude. Er hatte sich wacker gehalten und als guter Gebirgs- und Gletschermann trefflich bewährt. Als der Tag zu Ende ging und die grünen Yorberge bereits von den Schatten des Abends umfangen waren, richtete ich noch den letzten Blick mit einem gewissen Wonnegefühl nach der besiegten Spitze, die im Zauber ihrer Grazie am Horizonte sich erhob und harrte des Augenblicks, in dem der scheidende Sonnenstrahl ihr Silberkleid mit rosigem Lichte übergoss.

Studer. Grandes Mousses.

Der folgende Morgen stieg wieder in wolkenloser Pracht über das stille Alpengelände empor. Ich fühlte mich rüstig genug, um den zehnstündigen Weg über den Col de la Petite Olle bis nach Sables im Thale von Oisans zurückzulegen und ohne Unterbrechung mittelst einer Nachtfahrt von da bis Grenoble vorzurücken. Mit einem Besuch der Grossen Karthause und der sie beherrschenden Berghöhen schloss ich meine kleine Alpenwanderung.

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