Die Herausforderung.
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Die Herausforderung.

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Karl- Wilhelm Specht, SAC Grindelwald, D-Mülheim a. d. Ruhr

( Bilder 12-16 ) Eigentlich bedarf es keiner Erklärung, weshalb man sich als Bergsteiger Chamonix zum Ferienziel aussucht. Bei mir jedoch gab eine gewaltsame Einwirkung des Schicksals den Ausschlag, die Erinnerungen an zahlreiche Touren in den Berner und den Walliser Alpen abzuschütteln und ein neues alpines Betätigungsfeld zu suchen. Dies muss für den uneingeweihten Leser vorausgeschickt werden, um einerseits für die Verbissenheit, andererseits für die herausfordernde Gleichgültigkeit eines Alleingängers wenigstens etwas Verständnis zu wecken.

Nun ist der Mont Blanc sicher nicht das geeignete Ziel, die ganze Ohnmacht menschlicher Unzulänglichkeiten, den Zorn über Unabwendba-res, die trüben Gedanken an nicht mehr Wieder-kehrendes an ihm zu entladen - oder ist er es doch?

Ein ständiger Widerstreit spontaner Einfälle zerzaust mein Inneres, wenn ich morgens vor dem Restaurant « La Terrasse » bei Kaffee und Brot sitze. Da oben muss es wunderschön sein, da oben, wohin Jacques Balmat von seinem Denkmal aus deutet. « Ich will da'rauf, ich muss da'rauf! » rede ich mir dauernd ein. « Und wenn es schief geht? » mahnt es als Erwiderung. Es darf nicht! Es darf einfach nicht! Ich will da oben stehen, auch wenn mich hinterher Wind und Wetter, Eis und Schnee verschlingen! Was gibt es denn schon zu verlieren nach dem Jahr? Tiefer als der absolute Nullpunkt geht es doch nicht mehr! Es kann doch nur noch aufwärtsgehen! Aufwärts? Ja! Nur noch aufwärts! Da hinauf!

Aber so ganz ist der verantwortungsbewusste Alpinist in mir nicht kleinzukriegen, und realistische Gedanken, nüchterne, sachliche Überlegungen gewinnen zeitweilig die Oberhand. Das Resultat sind Wanderungen, Trainingstouren, ausgedehnte Erkundungen, um dem weissen Berg doch nicht ganz so dilettantisch gegenübertreten zu müssen. Ungezählte Male wandert der Blick zu der Bastion aus Eis, obwohl vielleicht der Argentière-Kessel viel abwechslungsreicher, die Nadel der Dru viel faszinierender, der Rochefort-Grat viel aufregender ist. Allein, nur der weisse Berg beherrscht mein Denken.

Es gibt ja auch kaum einen Platz, wo er nicht der dominierende Blickfang ist. Eigentlich sollte es eine abwechslungsreiche Hangwanderung sein, von Montenvers am Mer de Glace zur Plan de l' Aiguille. Aber schliesslich wartete ich doch sehnsüchtig auf den letzten Gratrücken, hinter dem der Mont Blanc wieder ins Bild kam. Auch auf den Brévent stieg ich hauptsächlich des Kletterns wegen. Aber dann nahm mich doch die grandiose Sicht auf das Dach Europas gefangen und liess mich nicht mehr los. Auch die Fahrt auf die Aiguille du Midi fesselte mich vor allem deshalb, weil unter kristallklarem Himmel die chaotischen Brüche im Bossongletscher und der darüber thronende Monarch fast mit der Hand zu greifen waren.

Nachdem das Wetter sich als beständig erwiesen hatte, bedurfte es keiner langen Überlegungen mehr, um die Hütte auf der Aiguille du Goûter anzusteuern. Wenn auch diese Nadel von Chamonix aus recht bizarr und ausgesetzt erscheint, so stellt sich ihre Besteigung zwar als hochalpin in jeder Beziehung, aber trotzdem als verhältnismässig einfach und zudem recht kurzweilig heraus. Blauer Himmel, warmer Sonnenschein und eine weltentrückte Fernsicht lassen den Gedankenfluss allmählich zur Ruhe kommen. Was kann jetzt eigentlich noch schiefgehen? Ich bin doch schon 3842 Meter hoch! Doch der Mont Blanc ist noch 1000 Meter höher. Und nachts sieht es draussen anders aus als bei Sonnenschein!

Eine beinahe feierliche Atmosphäre herrscht am Morgen des 9. Juli 1972. Oder gaukelt mir die Herausforderung der Ungewissheit diese spannungsgeladene Feierlichkeit vor? Gedämpfte Gesprächsfetzen und die Geräusche hastig eingenommenen Frühstücks sind die einzigen Laute in der Gouterhütte. Draussen herrscht kalte Dunkelheit. Böige Windstösse jagen mir Schauer den Rücken hinauf. Eine Seilschaft nach der anderen verlässt das schützende Refugium. Für mich gibt es keinen Seilgefährten, denn aufdrängen will ich mich nicht. Letzte Bedenken schüttle ich ab. Jetzt will ich auch keinen mehr. Jetzt will ich allein sein! Angst? Pah, vor was denn? Höchstens vor Schlechtwetter und vorzeitiger Umkehr. Aber sonst? Ich will nur hinauf, ich will auf den Mont Blanc. Ich will auf den Mont Blanc!

Tiefe Nacht liegt in den vereisten Hängen hinter der Hütte. In der ersten Aufregung stürme ich die Spur hinauf- doch nicht lange. Immerhin bin ich schon fast 4000 Meter hoch. Da geht kein Dauerlauf mehr. Als ich in die Führe zum Dôme du Goûter einbiege, packt der Wind erbarmungslos an. Wind? Nein, ein eisiger, rüttelnder Sturm wirft mich beinahe aus der Spur. Nadelspitze Eiskristalle peitscht er mir ins Gesicht. Es brennt und sticht. Ich hülle mich ein bis auf die Brille. Auf dem Grat wird es noch schlimmer. Mit dem Rücken zum Wind kämpfe ich um jeden Schritt, stosse den Pickel in den klir-rendharten Firn, ziehe mich mühsam weiter, werfe mich gewaltsam gegen den anbrausenden Sturm. Den Partien vor und hinter mir geht es nicht anders. Aber ich bin allein. Kein Seil hält mich, wenn die nächste Bö mich in den Abgrund wirft. Doch nein! Jetzt noch nicht! Vorher will ich auf den Mont Blanc. Ich will!

Fahlblau ist der dämmernde Morgen. Erstes rotgelbes Licht zieht hinter den Grandes Jorasses auf. Der Sturm wird stärker. Fast orkanartig kommt er mir vor. Er reisst mir die Luft vom Mund, bevor ich sie einatmen kann. Selbst der Pickel wird mir in der Hand hin- und herge-schleudert. Einige Gruppen bleiben bereits zurück. Soll das schon das Ende sein? Nein und nochmals nein! Ich trotze der Herausforderung!

Am Mont Maudit schiebt sich die Sonne aus dem Nichts hervor. Ich sehne mich nach einer Pause. Bis zur Hütte noch durchhaltenSchnell wird es hell. Schon lässt sich der Bosses-Grat überschauen. Eigentlich sieht er ganz leicht aus. Wenn nur die Höhe nicht wäre, und der Wind, dieser mörderische Wind...!

Vallot, 4362 Meter. Nur einmal stand ich höher, damals, am Dom, nach einem Kampf in der firnversumpften Nordflanke. Damals noch zu zweit... Ein gutes Dutzend Bergsteiger drängen sich in der spartanischen Aluminiumschachtel. Gesprochen wird kaum. Man isst, trinkt, ruht aus.

Ab und zu kracht die Tür ins Schloss, wenn jemand die Hütte verlässt. Mir ist furchtbar übel. Der Proviant muss hineingezwungen werden. Doch aufgeben? Niemals! Das Wetter ist passabel, der Firn ausgezeichnet, Schwierigkeiten keine - nur die eigene Unzulänglichkeit ist zu überwinden. Und das soll mir nicht gelingen? Wir werden ja sehen. Hartnäckigkeit paart sich mit einem gehörigen Schuss Kaltblütigkeit und macht aus mir ein Wesen aus erzwungener, aber nicht so schnell zu beugender Energie. Kuriose Gedanken wirbeln mir im Kopf herum, als ich den ersten Steilhang des Bosses-Grates in Angriff nehme. Einmal stelle ich mir vor, welchen Text ich auf die Mont-Blanc-Karten schreiben werde. Dann wiederum sehe ich mich irgendwo im Gletschereis liegen, unfähig, mich selbst aus der verzweifelten Lage zu befreien. Ich teile mir den überschaubaren Weg in Etappen ein und rechne im stillen die zu benötigende Zeit aus. Nach der dritten Etappe gebe ich es auf. Der Zeitverzug ist zu entmutigend.

Es ist heller Tag geworden. Schneefahnen fegen über den Bosses-Grat. Da oben verschwinden die ersten Seilschaften hinter einer Kuppe. Da muss der Gipfel sein. Es ist nicht mehr allzu weit. Nach einer weiteren Phase des Übelseins, die ich verbissen niederkämpfe, packt mich der Gipfelrausch. Ich weiss jetzt: ich will nicht nur, ich kann auch auf den Mont Blanc. Und ich muss! Ich bin es mir selbst schuldig. Die letzte Steilstufe an den Bosses-Felsen liegt hinter mir, auch der makabre Anblick des Flugzeugwracks, das hier aus dem ewigen Eis ragt. Der Grat wird flacher, schmaler, will kein Ende nehmen. Aber ich weiss jetzt: An seinem Ende ist Europa zu Ende. Wenige Minuten noch, dann sehe ich den Punkt, wo es nicht mehr weiter aufwärts geht. Auch diese Minuten vergehen. Meine Schritte werden langsamer. Irgend etwas schüttelt mich. Es ist kein Wind. Ein überwältigendes Gefühl der Zufriedenheit überkommt mich, ein Zittern, ein Glücklichsein. Es ist zwanzig nach neun. Ich stehe auf dem Mont Blanc. Jawohl! Keine Fragezei- 12 Blick von der Vallothütte auf den Bosses-Grat 13 Der Bosses-Grat oberhalb der Vallothütte 14 Mont Blanc und Glacier des Bossons, vom Piton auf der Aiguille du Midi aus gesehen chen mehr! Keine Ungewisshcit! Alles liegt unter mir. Mont Blanc, höchster Punkt Europas! 4807 Meter! Nur noch die Weite des Himmels wölbt sich über diesem Punkt. Meine Gedanken-flut überstürzt sich. Der Verstand will nicht fertig werden mit dem grossen Ereignis, obwohl ein eiserner Wille nur dies eine Ziel hatte. Es dauert eine ganze Zeit, bis ich zur Kamera greife. Aussicht? Was kümmert mich die Aussicht !? Und wenn brodelnder Nebel um mich wäre, er könnte mir den Mont Blanc nicht nehmen. Hier stehe ich auf dem höchsten Punkt; da ist mein Rucksack, daneben der Pickel. Nichts und niemand kann mir diesen Augenblick nehmen. Auch wenn ich nachher irgendwo im Eis verschwinde! Wahnsinn? Von mir aus! Wo soll ich denn noch etwas Glück suchen, wenn nicht hier im Hochgebirge? Die Berge wollen mich zwar auch nicht in ihrer unnahbaren Erstarrung. Aber ich will sie und schöpfe Kraft aus ihrer Bewältigung.

Der Wind hat sich gelegt. Es ist ruhig, sonnig, dunstig. Friedlicher kann es an diesem Platz kaum zugehen. Drüben lagern etliche andere Berggänger - ein Bild bergsteigerischer Erfüllung. Und hier stehe ich, allein. Meine Gedanken wan-

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