Die Lawinenlunge
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Die Lawinenlunge Versuche mit «AvaLung» revidieren die Lehrmeinung über den Lawinentod

Ersticken ist die häufigste Todesursache bei Lawinenopfern. Warum sollte man sich nicht mit einem Atemgerät gegen diese 20 Gefahr rüsten? «AvaLung» heisst die jüngste Errungenschaft der Lawinenprävention. Sie könnte die Überlebenschancen im Lawinenschnee erhöhen.

Der Bergführer Ueli Bühler, Schweizer Importeur der «Lawinenlunge», hat sich als Testperson zur Verfügung gestellt. Bevor er in warme Daunenkleider eingepackt und durch viele Kabel und Schläuche mit der Aussenwelt vernetzt im eineinhalb Meter tiefen Schneeloch eingegraben wurde, erläuterten die Firmenvertreter das Prinzip des Gerätes: Als äusserste Schicht über der Kleidung trägt Bühler die 700 g wiegende Netzstoff-Weste. Aus dem Kragen ragt ein In kritischen Situationen wird das Mundstück aus dem Kragen hervorgeholt und vor das Gesicht gezogen. Ob man in einer Lawine genügend Beisskraft hat, damit man den Schnorchel nicht verliert, kann erst der Ernstfall bestätigen. ( Der dünne Plastikschlauch und das Klebeband sind nicht original; diese wurden für das « Live Burial » befestigt. ) schnorchelähnliches Mundstück vor sein Gesicht. Im Ernstfall, also wenn er von einer Lawine erfasst würde, beisst er sich in diesem Schnorchel fest. Das Mundstück führt zur einer perforierten Röhre auf der Vorderseite der Weste. Atmet er durch diese Röhre, so wird dem Schnee Sauerstoff entzogen - sogar dichter Nassschnee besteht noch zur Hälfte aus Luft. Beim Ausatmen sorgt ein Rück-schlagventil dafür, dass die jetzt verbrauchte Luft über eine zweite Röhre zum Rücken des Verschütteten wegströmt.

Das Gerät verfolgt eine neue Überlebensstrategie: Weder schützt es vor einer Verschüttung, wie es der Lawinenballon verspricht, noch ersetzt es das Lawinenverschütteten- Suchgerät (LVS). Vielmehr soll es die kritische Zeit bis zur Bergung überbrücken. Denn laut Statistik verstreichen trotz LVS durchschnittlich 35 wertvolle Minuten, bis eine verschüttete Person geortet und ausgegraben werden kann. In dieser Zeitspanne sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit auf einen Drittel ab. «Tod durch Ersticken» lautet denn auch die häufigste Diagnose. Als vorbeugende Massnahme wird empfohlen, wenn irgendwie möglich in einer Lawine die Hände vor das Gesicht zu halten. Damit sollte verhindert werden, dass Schnee in die Atemwege gerät. Ausserdem schafft man sich bei Lawinen-stillstand eine kleine Atemhöhle. Trotz einer solchen Höhle konnten aber viele Opfer nur noch tot geborgen werden. Die Ärzte rätselten.

«Die Resultate der mehr als dreissig Vergrabungsversuche revidieren unsere Thesen über das Sterben in der Lawine», erklärt Notfallarzt Schnider. Er verfolgt seit einiger Zeit die Experimente der Amerikaner. Denn erst seit diesen Tests weiss man, dass die Luftdurchlässigkeit des Schnees trotz Atemhöhle oft ungenügend ist. Zudem schmilzt und vereist die Oberfläche der Höhle durch die feuchte und warme Ausatemluft sehr schnell. Dann ist es, als atme man in einen Plastiksack. Das Opfer stirbt an einer CO2-Vergiftung.

Dank der Trennung von Frisch-und Abluft durch die « Lawinenlunge » übersteht Ueli Bühler die Stunde in der imaginären Lawine ohne Probleme. Um das Phänomen der CO2-Vergiftung den Anwesenden vor Augen zu führen, lässt er sich anschliessend nochmals vergraben, jetzt ohne Gerät, dafür mit Atemhöhle. Bereits nach wenigen Minuten zeigt das Pulsoximeter einen dermassen tiefen Blutsauerstoffgehalt, dass die Ärzte das Experiment abbrechen und den Probanden aus dem Schnee befreien müssen.

Beim Aufwärmen im Bergrestaurant erzählt der Bergführer von rasch eintretenden Schwindelgefühlen, Atemnot und Kopfschmerzen während dieses zweiten Versuchs ohne Atemgerät.

«Ich bin von der Demonstration in Laax beeindruckt», sagt Frank Tschirky vom Eidgenössischen Schnee- und Lawinenforschungsinstitut SLF, Davos. Der Lawinenexperte und Bergführer ist überzeugt, dass man in einer Lawine mit « AvaLung » bessere Karten habe als ohne. Doch er mag das neue Gerät nicht einfach nur rühmen. Das offensichtliche Hauptproblem liegt darin, in der turbulenten Situation eines Lawinenniedergangs das Mundstück nicht zu verlieren. Auch die Hersteller betonen, dass bis jetzt jegliche Erfahrung im Ernstfall fehle. Zwar hätten Versuchspersonen selbst bei heftigen Stürzen über Schneehänge den Schnorchel nicht losgelassen und die Weste hätte sich nicht von Puppen gelöst, die in eine Versuchslawine geworfen worden seien. Wie tauglich diese Erfindung aber wirklich ist, wird sich makaberweise erst im Ernstfall weisen, wenn mit « AvaLung » ausgerüstete Wintersportler verschüttet werden.

Falsch wäre es, die verschiedenen Lawinennotfallgeräte wie LVS, Lawi-nen-Ballon oder « AvaLung » gegeneinander abzuwägen. Tschirky meint: « Jeder muss selbst entscheiden, wie gross sein Sicherheitsbedürfnis ist, welche Massnahmen er ergreifen möchte. » Er empfiehlt das neue, doch ein wenig umständliche Gerät in erster Linie für Profis wie Pisten-patrouilleure oder Bergführer, die sich oft in heikle Situationen begeben müssen.

Oberstes Ziel: Lawinenverschüttung vermeiden!

Bei jeder Lawinenverschüttung bleibt trotz aller technischer Hilfs-geräte ein erhebliches Restrisiko bestehen. Der grösste Teil der lebend geborgenen Personen erleidet erhebliche Verletzungen auf Grund mechanischer Einwirkungen und/oder ist in vielen Fällen schon nach kurzer Zeit unterkühlt. Der beste Schutz vor solchen Risiken ist, gar nicht erst in eine Lawine zu geraten. Dies setzt für sicheres Tou-ren- und Variantenskifahren gute Schnee- und Lawinenkenntnisse voraus. Solides Grundwissen kann z.B. beim Besuch von SAC-Lawi-nenkursen erworben werden. Es lässt sich auch durch wiederholtes Üben der Ernstfallsituation unter Führung sachkundiger Personen erwerben. Im Ernstfall auf dem Lawinenfeld wird schliesslich nur jener seine Kameraden innert nützlicher Frist aus der Lawine befreien können, der zweckmässig ausgerüstet ist, die Situation richtig beurteilt und einen kühlen Kopf behält.

Hans Jaggi, Administrator für Bergrettung SAC

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