Die letzten Mohikaner der Alpen
Peter Donatsch, Mastrils ( GR )
Life is sad, Life is a bust All you can do, is do what you must.
You do what you must do and you do it well.
Das Leben ist traurig, das Leben ist'ne harte Nuss Da kann man bloss tun, was man tun muss.
Man tut, was man muss, und macht es ordentlich.
Bob Dylan, Buckets of Rain Von überall her sichtbar steht die 1754 erbaute St.Anna-Kapelle von Frunt direkt am Abgrund. Hier, knapp unter der Zweitausendmetergrenze, wohnten die Walser einst ganzjährig.
Mit der Natur verwurzelt Wasserdurchtränkter Schnee hängt schwer auf den Tannenästen, zieht sie tiefer und tiefer, dazwischen nassglänzende schwarze Stämme. Schneeregentropfen werden von den Kleidern aufgesogen, und die unverkennbare Ausdünstung von feuchtem Stoff vermischt sich mit dem Geruch von nassem Harz, während wir schweratmend auf dem steilen Weg bergan schreiten. Es ist warm, und der Schnee sumpft unter den Schuhen. Nebelschwaden kleben an den Berghängen, ziehen eine graue Decke über das Tal. Die Welt verschwindet in der Tiefe. Ganz schwach ist unter dem Neuschnee dieses Tages eine Fussspur zu erkennen, die sich hin- und herwindend den Hang hochzieht, geschickt ebene Terrässchen nutzend und steile Borte umgehend. Hin und wieder rutscht einer von uns auf einem verborgenen Stein aus, rudert haltsuchend mit den Armen in der Luft.
Ludwig Illien steigt langsam. Er setzt Fuss vor Fuss, nimmt nie zwei Tritte auf einmal. Der Weg vom Dorf ins Maiensäss hat sich ihm eingeprägt, er geht ihn seit Jahren, im Herbst und Frühwinter zweimal täglich. Ein weiter Umhang schützt ihn vor herunterfallenden Schneeklumpen, mit dem Stock sondiert er den Untergrund. Mensch und Natur sind in diesem Mann zur Einheit geworden, der sich mit der Bedächtigkeit, Ausdauer und dem unaussprechlichen Selbstverständnis von Generationen, die diesen Weg vor ihm schon gegangen sind, bewegt.
Sein Weg führt zuerst in den Stall; ohne Tiere kein Leben. Ludwig spricht mit ihnen, man versteht sich. Sieben Geissen und zwei Kühe, das ist für viele nicht der Rede wert. FurTrudi und Ludwig Illien aber bedeuten sie das Leben. Die Tiere sind das Kapital des Bauern und deshalb behandelt er sie wie sich selbst.
Steinplattenlandschaft in Frunt. Schützend stehen die massigen Häuser und Ställe vor der zierlichen Kapelle.
Andere Werte Bergbauer zu sein war nie einfach, aber mit dem Schicksal zu hadern, das ist nicht Trudi Illiens Art:
Zurückgebliebene? Unverbesserliche Ewiggestrige? Oder Menschen mit einer eigenen Sicht der Dinge, die sich über Jahrhunderte bewährt hat, aber heute nicht mehr ist. Ist sie deswegen falsch? Aber Kraft braucht es schon, inmitten unserer schnell-lebigen Zeit Gespött und Kritik zum Trotz Altbewährtes hochzuhalten. Inmitten von Com-puterspielen und ferngelenkten Agrarsub-ventionen scheint die Zeit von Bergbauern wie Ludwig Illien abgelaufen. Doch wer sich die Mühe nimmt, ernsthaft die wesentlichen Zusammenhänge des Lebens zu betrachten, wird nicht darüber lächeln. Es scheint, dass das Wort des Indianerhäuptlings Seattle auch für die Menschen in den Alpen Gültigkeit hat:
Auch in Peil, dem anderen Seitental des Valsertales, steht eine Kapelle. Solche einfachen kleinen Gotteshäuser sind fast überall dort entstanden, wo die Walser siedelten.
Wandel der Generationen Seit vier Jahren gibt es auch auf Peil ein Telefon. Das beruhigt.
Das Wort fehlt im Wortschatz der Illiens. Wichtig war und ist der regelmässige Znüni und Zvieri beim Heuen, da konnten die Regenwolken noch so drohend aufziehen.
( Jede Arbeit, die gemacht werden musste, ist trotzdem gemacht worden ), sagt Trudi.
( Aber Pausen gehören zur Arbeit. ) Ein zufriedener Magen arbeitet eben lieber. Und besser. Der Magen hat das ganze Leben im Griff: Ist er gesund, so spielt es keine Rolle, wenn die Beine nicht mehr so schnell wollen und die Arme nicht mehr so kräftig sind.
Im Einklang mit sich selbst Es muss an der frischen Luft liegen. Oder an der ausgesuchten Lage, denn oben zu sein ist immer schöner als unten. Jedenfalls ist die Welt ( jener da unten ) unendlich weit entfernt. Ja, für einen Moment scheint sie nicht mehr zu existieren. Kein Laut stört den Lauf der Gedanken. Die Stille selbst verbreitet Harmonie. ( Wird es nie langweilig, so allein hier oben>, wollen wir von dem alten Mann wissen, aber im selben Moment bedauern wir die Frage. Man braucht ja nur vor die Hütte zu treten und ehrlich gegenüber sich selber zu sein. Und während ich da so stehe und ins schwarze Dunkel hinausblicke, gehen mir Trudis Worte durch den Sinn: ( Ganz früher war Vals eine einfache Schafalp, und ich glaube, es wird wieder soweit kommen. ) Es ist Morgen am 18. November. Feiner Schnee rieselt aus undurchsichtigen Wolken. Im Süden zerfasert feiner Nebel vor einem blassblauen Himmel, aber drüben über dem Valsertal stehen schwarze Wolken. Es heisst Abschied nehmen. Trudi Illien weist Wenn Ludwig Wien mit seinen Ziegen und den zwei Kühen vom Maiensäss Peil nach Vals-Platz hinunterzieht, ist er der letzte im Tal, der die traditionelle Walser-Wan-derschaft mit den Tieren noch praktiziert.
Alltag in Peil: Während der Bauer den Stall aus-mistet, müssen die Tiere für einen Moment ins Freie, auch wenn sie in der Kälte frieren. Mit Macht drängen sie zurück in den warmen Stall.
Wo bisher noch Leben war, wird ab heute Stille sein. Der Bauer verlässt seine Hütte bis zum nächsten Frühling. Zurück bleibt - Einsamkeit.
Verlassene Ställe und Häuser im ersten Novemberschnee, stumpfe Augen in einer ehemals lebendigen Kulturlandschaft. Bald werden diese vielleicht ganz verschwinden.
Ludwig Illien schliesst die Tür zu seiner Hütte in diesem Winter zum letzten Mal ab. Bis zum Frühjahr wird er mit seinen Tieren unten bleiben. Dann beginnt der Kreislauf von neuem.
auf den Gegenhang, beschreibt mit der Hand einen Bogen. ( Das alles wurde früher geheuet, bis hinauf zum Grat und auf der anderen Seite hinunter ins nächste Tal. ) Steckna-delgross lugen verstreute kleine Heuställe unter dem Schnee hervor, kirchturmsteil scheinen uns die Hänge, unglaublich das eben Gehörte. Heute gammeln die Ställe vor sich hin, leere Augen in einem ausdruckslosen Gesicht, ohne Leben, ohne Sinn. Das Heu wird jeweils ins Tal gebracht, dass es ein pausenloses Hinauf- und Hinunterfahren ist zur Heuzeit und kaum mehr Zeit bleibt für den Zmarend oder den Znüni. Das Gras dort oben wächst oder wächst nicht, egal. Was zu steil für den Schilter ist, wird nicht mehr gemäht, lohnt sich nicht. Trudi Illien zuckt die Schultern: ( Hier stehe ich und kann nicht anders. Ich kann doch nicht mein Leben ändern, bloss weil die anderen über meine Art zu leben lachen. ) Den Begriff ( Rendite ) gebrauchen auch die Illiens oft. Doch bei ihnen erhält das Wort einen anderen Sinn: Rendite meint, es muss aufgehen für dich, du musst mit dem leben können, was du hast. Nicht nach den Sternen greifen, der Apfel am Baum tut es auch. Und unbeirrt seinen Weg gehen, das ist alter Walsergeist.
Ludwig sperrt die Tür des Maiensäss zu, und dann gehen sie, hintereinander in der Spur, talwärts. So wie sie es schon hundertmal getan haben und vor ihnen ihre Mütter und Väter und vor denen deren Mütter und Väter und... Abschiednehmen ist ein bisschen wie sterben. Aber ich fürchte, es wird der Tag kommen, wo es nicht nur ( ein bisschen wie> ist.
Es bleibt uns eine Hoffnung: Die Letzten werden die Ersten sein.
Nur noch aus einer Hütte auf Peil leuchten im Spätherbst die Augen. Wenn Trudi und Ludwig Wien einmal nicht mehr hinaufkommen, wird auch dieses Hüttenge-sicht dunkel bleiben.