Die Mythen
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Die Mythen

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Selten prägt sich eine Gebirgsform so tief ins Bewusstsein wie die scharfen Bänder jenes Kalkmassives, das wir gemeinhin als die « beiden Mythen » zu bezeichnen pflegen, während es in Wirklichkeit drei Erhebungen sind, welche Bau, Gliederung und Türmung der Gruppe bestimmen. Vielleicht wirkt ihre Erscheinung darum noch riesenhafter, weil die Mythen, die so überraschend hinter den Einsiedler Waldbergen aufragen und gegen diese eine natürliche Grenze bilden, uns fast unvermittelt in die Felsromantik der Voralpen führen. Mit einemmal redet hier das Gestein, und zwar aus eigener Kraft, ohne die mildernden Akzente von Nadelwald und Mattengrün, rauh und hart, aber klar und bezwingend in seiner lapidaren Wesenheit. So wurde denn, in der Gebärdensprache der Berge, den Mythen eine viel lautere, ungestümere Rolle zuteil als der benachbarten ausgeglicheneren und weicher gekurvten Bigikette; ja selbst den Pilatus übertreffen sie in dieser Hinsicht, der, als Felspyramide ebenfalls reichlich gekerbt und gefurcht, trotzdem noch begrünte Alphänge zu seinen starren Zinnen emporzieht.

Im Anblick der Mythenstöcke hat man das Gefühl, als ginge das tellurische Reissen, das sie als gewaltige Steinmale ans Licht emporwarf, noch heute durch ihren Körper, als dauerte das Zucken, das vom kreisenden Welt-stoff ausging, noch immer fort. Erstarrte Materie zwar, aber mit verhaltener Energie geladen und ungemein ausdrucksvoll selbst in ihrem scheinbaren Totsein. Nicht allein dem Geologen, der aus der Gesteinsmasse herauszulesen versteht, zurück in die Jahrmillionen und vorwärts in unendliche Zeiträume, enthüllen die Mythen ihres Wesens Kern, auch dem Unkundigen erschliessen sie ihre Erlebnistiefen, sofern sein Menschentum ihn mit der Natur verbindet und er jene Urkräfte zu erfüllen vermag, ohne die es keine Daseinsformen gäbe.

Zum schwyzerischen Talgelände, auf das sie bedrohlich und schweigsam herniederschauen, steht ihre Wildheit in merkwürdigem Gegensatz. Ihre ab-wehrende, schroffe Haltung jedoch gilt nicht dem an ihren Fuss geschmiegten, weitverzweigten Gemeindewesen Schwyz, sondern weist wie ein versteinerter Warnungsruf in die Ferne, der Muotaebene ein gewaltiger Bückenschild. Kein Wunder, dass sie zum Symbol wurden heldenhafter Wehr und kriege- rischer Unnahbarkeit. Die Mythen, so wurzelfest verwachsen mit dem Landschaftsbilde, das man von der Rütliwiese her erschaut, sind vom Schauplatz gar nicht wegzudenken, auf welchem die Frühgeschichte der Urkantone dramatisch sich entrollte. Als unbesiegbare Hüter wurden sie dem Lande gegeben, und über dem helvetisch-klassischen Gau wachen sie als unwandelbare Getreue, ein Gleichnis der Stärke und der Beständigkeit.

Aber nicht nur der Menschen Geschicke sind ihnen anvertraut, ihre Beziehungen reichen viel weiter noch, hinunter in die Märchengründe der Erdgeister und ringsherum durch jene Fabelwelt des Äthers, die uns im Höhen-rausche so oft zur Wirklichkeit wird. Man muss die Mythen beobachten im Kampf mit den Wolkenheeren, im zischenden Dampf und mörderischen Gedröhn der himmlischen Geschütze, man muss sie belauschen in ihren geheimen Spielen mit den Nebelfrauen, mit den wesen- aber nicht seelenlosen Gespinsten der Lüfte, um zu ermessen, welche Bedeutung ihnen im Bereiche der wahrhaftigen und der erdichteten Gestalten zukommt. Auch unter geläutertem Himmel, wenn sie, von keinem Gedünste beschlichen, nackt und sozusagen beziehungslos im Räume stehen, selbst dann herrscht Geschäftigkeit an der Oberfläche ihres Gesteins, und in Furchen und Runsen, am bezähnten Grat und über den jähen Felsabstürzen regt es sich von mysteriösem Geschehn. Traumbilder drängen sich in den Ablauf der Sinnenwelt, heben die Gesetze der Erfahrung auf und bevölkern den Berg mit ihren gleichmasslosen Geschöpfen: die Mythen haben ihre Geisterstunde.

In der Frühe schon, wenn die obersten Spitzen in die Röte der aufgehenden Sonne tauchen, wird es lebendig an den glatten Wänden, und in der kühlen Brise, welche durch die gekrümmten Gratföhren streicht, wispern Koboldstimmen und raunen allerlei Rätselworte. Hier blitzt es auf im kaum fasslichen Tempo eines Elfenreigens, dort schiesst es, über Erdkrummen und bröckelnden Schutt, auf einem Lichtstrahl hinab zur Tiefe. Und scheint es nicht, wenn im heissen Anprall der Nachmittagssonne der Fels erstarkt, als ob Tausende von flimmernden Geisterchen in der Gluthülle sich bärgen und die unnahbaren Flühe ironisch umtanzten?

Den eigentlichen Mythenspuk aber, den muss man bei Nacht erleben, wenn der Vollmond zwischen den beiden Hauptgipfeln hängt und sein Silber in die wilden Forsten, über die vom nächtlichen Brodem beruhigten Matten und höher auf die taudurchfeuchteten Planggen streut. Das Gebimmel der Herdglocken erstirbt im Geheul der Füchse, das vom Mythenbann herüber-hallt, und in den Wettertannen singt der Wind sein wirres Lied. Da steigt es aus Höhlen und Schächten, auf heimlichen Sohlen, in beutelustigem Zuge, gierig nach einem Fleckchen Mondschein und ein paar Tropfen balsamischer Nacht. Die Sterne sehn duldsam dem losen Treiben zu, wenn nicht der Föhnsturm aus den Muotaschluchten fährt und den Luftraum um den Königs-sitz der Mythen zu einem Hexenkessel wandelt. Der Riesenfaust des ungebärdigen Gesellen fällt mancher Baum zum Opfer, und selbst steinerne Schranken splittern unter ihren Schlägen.

Etwas Urgewaltiges spricht sich aus in der Bildung des Mythenmassives, und unnennbare Farben helfen mit, die Musik seines Gesteins erklingen zu lassen. Wie sich am grossen Gipfel die rote Malmkalkpyramide aus den untern Schichten des Grau herauslöst, das ergibt eine Steigerung, wie sie stilvoller kein Bildner der Antike hätte ersinnen können. Ihre Spitze wirkt erhabener noch durch die Nachbarschaft des spröden Mörtels, womit die Hänge des kleinen M.ythen beworfen sind und der in seinen Schattierungen wechselt vom grellen Kreideweiss über aschfahles Grau bis zu welkem Oliven-grün. Wie oft, unter der Einwirkung der Atmosphäre, erbleicht die ganze nördliche Berghälfte gleich einem erstarrten Phantom, wie eine in sich selbst zusammenfallende Leiche, mit schlaffer Haut und zermürbtem Mark. Freilich nur, um sich um so stolzer zu recken, wenn azurblaue Himmelstiefen oder die Rückstrahlung des Lichtes durch Wolkenwände die farbige Komponente schaffen. Nicht zu vergessen des dunkelklaren Grüns, das netzartig die Felsen überschleicht, einverleibt den seltsamsten Verkrüppelungen waghalsiger Nadelhölzer. Unvergleichlich ist der Farbenrausch, der die Mythen an hellsichtigen Abenden überkommt, wenn ein blutroter Feuerbrand ihre gesamte Westflanke ergreift, vom Wiesengürtel höher und höher leckend und den Überschuss der heiligen Lohe drüben an der Giebelfluh und am Querriegel des Urmiberges verströmend.

« O, dass das Weltmeer Schon errötete, Und in duftiges Fleisch Aufquölle der Felsl » In solchen Momenten wird sie Ereignis, die hymnische Vision des ver-zückten Novalis. Es fehlt allein noch der Regenbogen, der sich, ein Vorbote feuchter Nächte, in doppelter Spur über den Mythen wölbt, und der Farbenzauber des in seinem Wesen unerschöpflichen Berges ist vollkommen. Erschüttert steht der Mensch vor den flammenden Kulissen dieses stummen Welttheaters.

Der grosse Mythen mit seinem zweigipfligen nördlichen Trabanten ist nicht nur ein Wunderwerk naturkünstlerischer Gestaltung, nicht nur eine Stätte urweltlicher Andacht und schreckhafter Stille, er ist auch ein Paradies der Blumen. Um undurchdringliche Steinrätsel weben sie einen Flor zer-flatternder Juwelen reizender Vergänglichkeit. Und was die dünne Humusschicht, welche die Hänge bekleidet, an pflanzlichen Lebewesen erzeugt, das gehört zu Zeiten ganz und gar in die Welt des Blumenmärchens. Von Blatt zu Blatt, von Halm zu Halm springt der bunte Reigen, und mit ihm schwirrt und tanzt das Heer der Insekten. Gehört doch ihr Gesumm mit zum ewigen Gesänge, der um der Mythenhäupter erhabene Stille tönt. Fritz Gusi

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