Die Nacht in den Bergen (Hohe Tatra)
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Die Nacht in den Bergen (Hohe Tatra)

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Toni Jiskra, Herisau

Bilder 14 und /J Der Schöpfer fühlte Mitleid mit einem wunderschönen Land. Da nahm er irgendwo einige Hügel, wo es ihrer genug gab, und setzte sie an die Grenze zwischen zwei Staaten nieder, damit beide etwas davon hätten. Nachher schmückte er die Berge mit einigen märchenhaften Seespiegeln verschiedenster Farben, rot, grün, blau, gelb, schwarz, liess einige Bäche mit kristallklarem Wasser rauschen, zur Abwechslung auch einige Wasserfälle und setzte das alles in den Rahmen tiefer, ewig rauschender Wälder ein, säte mit vollen Händen die Edelsteine der Enziane aus, breitete smaragdgrüne Teppiche blühender Wiesen mit weidenden Schafen aus, drückte dem Hirten eine « Fujara » — eine der Klarinette ähnliche Pfeife - in die Hand, gab ihm Schäferhunde einer edlen Rasse zur Hilfe, belebte die wilden Berge mit Bären, Luchsen, Rotwild, Auerhähnen, Steinadlern, Hunderten von Gemsen. Im Winter lockte er hungrige Wolfsmeuten aus dem benachbarten Polen hierher. Nachdem er diese Arbeit beendet hatte, rieb er sich zufrieden die Hände und sagte, auf sein gelungenes Werk zurückblickend: « Ihr habt ein zwar winziges Hochgebirge, darin aber alles, was sich ein Bergsteiger, Tourist, Skifahrer, Photograph, Geologe, Ornithologe, Entomologe und Botaniker nur wünschen kann. » Das ist sie - die Hohe Tatra; ein etwa 24 Kilometer langes und 12 Kilometer breites Gebirge. Aus einer Ebene ragen steil die kecken Spitzen und die wild zerklüfteten Berge in den Himmel, unvergesslich kühn und abweisend, als gehörten sie 10 Breithorn und Klein Matterhorn ( r. ), vom Fuss des Riffelhorns aus 11 Blick von der Theodulhüüe über das Aostatal zum Gran Paradiso nicht hierher, und trotzdem bilden sie einen nicht wegzudenkenden Teil dieser Landschaft.

Am liebsten besuche ich die Hohe Tatra im Winter, denn ich kenne kein schöneres Erlebnis, als im Schnee zu zelten. Während einer Klettertour über die Martinovka-Route auf die Gerlachspitze - mit ihren 2663 Metern der höchste Berg der Hohen Tatra - ist mir der Vorgipfel, die Hintere Gerlachspitze, als geeigneter Zeltplatz ins Auge gefallen. Ich habe mich in meinem Leben oft nach etwas Ungewöhnlichem gesehnt, nach einem engeren Zusammenleben mit den Bergen, nach einer Beziehung, die mir erlaubt, mich den Bergen wie ein Kind den Armen seiner Mutter anzuvertrauen. Ich wollte die Berge beim Tageserwachen, im Sonnenschein, in der Abenddämmerung und in der Stille der Nacht erleben, ihnen wenigstens für eine Weile durch die Erhabenheit meines Zeltplatzes ebenbürtig sein, sie um mich herum und unter mir haben und über mir nur den unendlichen Himmel mit seinen unzähligen Sternen.

Und so kam der Monat März. Schwer beladen kämpfen wir uns durch den weichen Schnee von der Bergbahnstation Tatranska Polianka nach Slezsky Dum durch. Die alte Hütte ist ein Jahr zuvor niedergebrannt und das neue Hotel noch nicht im Betrieb; wir haben nicht die geringste Ahnung, welcher Empfang uns hier zuteil wird. Aber die Bergsteiger legen das Schwergewicht nicht auf Komfort, und wie es sich später zeigt, ist der Hüttenwart ein Mann mit dem Herzen auf dem rechten Fleck.

« Meiner Meinung nach müssen wir nicht über unser Herz und unsere Lungen eine Untersuchung ergehen lassen, die sind sicherlich in bester Ordnung; dafür verdient unser Kopf eine um so genauere Prüfung, wenn wir solche unternehmen », äussert sich Karl in einer seiner philosophischen Überlegungen, als er mit Mühe und Not seinen Rucksack zu schultern vermag.

Die ersten Tage unseres Aufenthaltes widmen wir den trainingsmässigen Besteigungen in der Umgebung des Hotels.

12 Blick vom Breith'orngipfel zum Monte Rosa und Liskamm 13 Breithorngipjel; dahinter das Matterhorn, Dent Blanche, Grand Cornier Photo » W. Spechi, Mülheim a.d. Ruhr Am 24. März brechen wir in den frühen Morgenstunden zu unserem Wagnis auf. Wir tragen beide umfangreiche Rucksäcke mit einem Gewicht von mindestens 20 Kilo: das Zelt mit Doppeldach, Schlafsäcke, Matratzen, Proviant für drei Tage mit der dazugehörigen « Notration » und natürlich die Bergsteigerausrüstung. Die Sonne hat schon lange den Schnee in einen dicken Brei umgewandelt, als wir eine schattige, auf die Lomnicka Rampa führende Schlucht erreichen. Das am Anfang mild ansteigende Schneefeld nimmt an Steilheit zu, der Schnee im Schatten ist härter, und die Füsse und Hände finden nicht genügend Tritte und Griffe. Bald links, bald rechts nützen wir die Randfelsen aus, um dem harten Schnee auszuweichen. Unsere Steigeisen ohne Vorderzacken bedeuten für uns einen zu grossen Zeitverlust, weil wir Tritte schlagen müssen. Erst um 12 Uhr erreichen wir den Grat und schalten hier eine kurze Pause ein, um erstens das immer stärker werdende Hungergefühl etwas zu stillen und um zweitens uns psychisch und physisch für die saubere Gratkletterei vorzubereiten. Die Gratfelsen sind grösstenteils schneefrei; nur in einigen Rissen liegen noch Schneereste. Wir kommen zum Verzweifeln langsam vorwärts; die umfangreichen, schweren Rucksäcke verlangen ein sehr vorsichtiges Balancieren. Bergauf, bergab - wir müssen eine Unzahl von Türmen und Türmchen überwinden. Beim Abstieg von einem Turm gelange ich als zweiter auf eine schmale Leiste; unter mir befindet sich nun eine kleine Stufe, nicht höher als drei Meter, jedoch vollkommen ohne Griffe und Tritte - eine glatte Wand. Es ist ausgeschlossen, sie mit dem Rucksack auf dem Buckel zu bewältigen. Ich balanciere auf einem Fuss und versuche den Rucksack abzulegen. Jede schnelle Bewegung, die mich aus dem Gleichgewicht bringen könnte, muss ich vermeiden. Mein Gefährte sichert mich 1 o Meter tiefer: ein kleiner Trost, das wären immerhin 20 Meter Sturz im Fels. Mauerhaken und Hammer stecken natürlich im Rucksack. Ich binde den Rucksack auf das Seil und lasse ihn Zentimeter um Zentimeter hinunterglei- 14 Hohe Tatra: das Katschi- Tal 15 ten. Endlich kommt er hinter einem Stein zum Stehen. Kalter Schweiss perlt auf meiner Stirn, und die Beine fangen glücklicherweise erst nachträglich zu zittern an. Gleich folgt ein schmales Kamin durch einen überhängenden Aufschwung. Ohne Rucksack packe ich ihn an, muss zweimal zurück; beim drittenmal gelingt es mir. Der Rucksack wird angeseilt, und nun beginnt eine zeit-, nerven- und kraftraubende Arbeit. Er bleibt immer irgendwo stecken; also hinunter und nochmals hinauf! Eine volle Stunde nehmen die Rucksäcke in Anspruch. Ich bin schon seelisch und körperlich ziemlich erledigt; auch sehe ich keine Möglichkeit mehr, den Gipfel noch vor Einbruch der Nacht zu erreichen; ja ich bin sogar bereit, das ganze Unternehmen aufzugeben, solange noch Zeit zum Abstieg vorhanden ist. « Kommt nicht in Frage; es war deine verrückte Idee! Jetzt ziehe weiter !» lautet die lakonische Antwort meines Gefährten. « Wohin mit den Wandkästen? » fragt eine Seilschaft, die eben im Abstieg von der Gerlachspitze an uns vorbeikommt.

Doch dann, um i8 Uhr, drücken wir uns doch endlich die Hände auf dem Gipfel der Hinteren Gerlachspitze ( 2630 m ), volle sechs Stunden später, als ich gerechnet habe. Es dämmert zusehends; eine drohende Wolkenwand wälzt sich aus Polen in die Berge hinein. Rasch wird der Schnee auf dem Gipfel zurechtgemacht, das Zelt aufgeschlagen und dieses mit dem Seil in den Flanken des Berges gesichert. Um 20 Uhr summt vergnügt der Kocher in der Zeltapsis, und ein ausgiebiges Abendessen wird vorbereitet. Wir haben es verdient.

Bei Kerzenlicht ist Karl dabei, unsere heutige Leistung in astronomische Ziffern umzuwandeln: Rucksackgewicht 20 Kilo zuzüglich 80 Kilo für den Bergsteiger = 100 Kilo; bei 1000 Meter Höhendifferenz bedeutet unsere heutige Leistung 100 000 kgm - eine respektable Arbeit.

Nachts weckt mich ein helles Licht, das durch das Doppeldach dringt. Ist es etwa schon Morgen? Ich bin doch erst vor einer Weile eingeschlafen! Ich raffe mich auf und krieche aus dem wär- 15 Kleine Eis-Spitze und Eis-Spitze ( Mitte ) Photos Toni Jiskra, Herisau mespendenden Schlafsack. Sprachlos stehe ich vor dem Zelt, überwältigt von der ergreifenden Schau:

Der Mond steht im Zenit seiner Laufbahn; die Täler schimmern schneeweiss, und wie Spiegel glänzen Eisschollen in der Tiefe. Krivan, der Bergriese auf vorgerückter westlicher Vorhut der Hohen Tatra, sonst so weit, scheint unglaublich nah zu sein, zum Greifen nah, als ob er gekommen wäre, seinesgleichen einen Besuch abzustatten. Lockten ihn der Mond und der Zauber dieser stillen Nacht aus seiner einsamen Warte heraus? Die Ergriffenheit und Steilheit der Berge wird noch durch kaltes, grelles Mondlicht und dunkle Schatten erhöht. In schwindelnder Tiefe scheinen die senkrechten Flanken ins Katschi-Tal abzustürzen, dessen Boden das Auge nicht erreicht; es verliert sich in der Finsternis der Tiefe. Gegen Süden zeichnen sich deutlich die Grate der Niedrigen Tatra; tief in den Tälern schimmern die Lichter als einzige Lebenszeichen. Und über allem breitet sich absolute Stille; sogar die Fahne auf der Zeltspitze hängt schlaff herunter. Flimmerndes Licht der Sterne - der Mond, der sich langsam gegen Westen neigt - unvergessliches Panorama der Berge.

Du liebkosest die geliebten Berge mit einem Blick von Westen nach Osten, kehrst zurück und kannst nicht satt werden. Nie hat Karl geahnt, dass ihm die Berge zu seinem 50. Geburtstag eine so überwältigende Schau bereiten würden.

« Besonders viele Menschen spazieren nicht gerade zu dieser Zeit in den Bergen », presst er zwischen den Zähnen hervor, wirft die Zigarette weg und verschwindet im Zeltinnern...

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