Die Pelle oder Roche Courbe (Vercors)
Eine Entdeckungsfahrt in den Vercors
François Mattern, La Chaux -de-Fonds
Eine Entdeckungsfahrt in den Vercors In dem Führer, den Serge Coupé diesem Gebirgsmassiv gewidmet hat ', erfährt man dass die Pelle nicht eigentlich zum Vercors gehört: Sie erhebt sich im Süden der Drôme, die ihrerseits die südliche Begrenzung des Vercors bildet. Im Grunde genommen bildet aber das Gebiet eine Einheit. Die Pelle — es ist der volkstümliche Name einer Wand, die das nationale Geographische Institut ( IGN ) als Roche Courbe bezeichnet - ist die höchste und glätteste in einer ganzen Reihe von Wänden: der Mont des Trois Becs, der auf 1545 Meter gipfelt. Man mag darüber lächeln: niedriger als unsere Voralpen, kaum höher als unsere Jurafelsen! Ich aber finde, es gibt keinen Berg, der nicht würdig wäre, bestiegen zu werden, auch wenn er noch so bescheiden ist. Die Pelle-Wand ist nämlich 300 Meter hoch und absolut senkrecht, wenn nicht sogar überhängend, und bietet eine herrliche Kletterei durch die sogenannte Pariser Route. Man kann nachlesen: 300 Meter hohe, vollständig überhängende Wand, ED sup., 100 Haken, Aufstiegszeit der Erstbegeher neunzehn Stunden. Kleinodien sind am meisten begehrt; also war es ganz natürlich, dass ich den Wunsch verspürte herauszufinden, ob die Pelle einen so schmeichelhaften Ruhm verdient.
August 1969. Beim Zeltplatz von Pierre à l' Orta in Chamonix treffe ich zufällig eine äusserst sympathische Marseiller Gruppe und bemerke sofort, dass es sich um harte Burschen handelt. Man bedenke: Fou-Südwand, Frêney-Mittelpfeiler, Walker usw. Das Wetter ist gut, man sitzt gemütlich beisammen, erzählt von sei- 1 Serge Coupé, « Guide d' escalades dans le Vercors et la Chartreuse », 1963. ( Herausgegeben von der Französischen Bergsteigervereinigung, 7, rue La Boétie, Paris 8e .) nen Bergerlebnissen, unternimmt auch etwas zusammen. Und dann, eines Abends, erklärt Jacques, während wir abkochen: « Morgen reise ich ab, um einen Kumpel für die Sud de la Meije zu treffen. Wahrscheinlich werden wir auch dem Vercors einen Besuch abstatten. » Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, denn Jacques hat ausgerechnet die Pelle im Sinn. Die Kameraden muntern uns auf: « Nicht allzu schwierig, vier bis fünf Stunden, V. Schwierigkeitsgrad ». Es wundert mich trotzdem, dass Kletterer wie Berardini und Paragot eine Führe überschätzt haben sollten.
Am nächsten Vormittag brechen wir auf; es eilt nicht: 300 Kilometer ungefähr, kein Hüttenaufstieg, weil es keine Hütte gibt. Die Aussicht, unter den Sternen zu schlafen, verleiht dem Ausflug schon allein einen ganz besonderen Reiz. Die einzige Unannehmlichkeit besteht darin, dass wir beide Wagen nehmen müssen, weil sich nachher unsere Wege trennen. Von Albertville an achte ich gespannt auf die das Tal begrenzenden Wände. Da ist die Dent de Crolles, die dem Chartreuse- und Vercorsmassiv das Gepräge verleiht: senkrechte, glatte Wände über steilen Wäldern, oben Hochebenen mit wenig Relief: Tatsächlich, die meisten Gipfel sind über wenig geneigte Grashänge leicht zu ersteigen, so dass es keine Abstiegsschwierigkei-ten gibt.
Grenoble. Der Mont Aiguille - ich sehe ihn zum erstenmal - erinnert mich an einen überdimensionalen zersetzten Käse. Col de la Croix-Haute. Zwei Kilometer südlich davon zweigen wir rechts in ein schmales Strässchen ab, das schnell auf die Hochebenen führt. Die Landschaft ist ähnlich wie in unseren Voralpen. Und die Fahrt hinunter ist aussergewöhnlich schön: Kurz bevor sich der Fluss mit der Drôme vereinigt, zieht er sich durch eine bunte, bald grüne, bald ordentlich wilde Gegend. Schade, dass wir hier nicht länger verweilen können! Unten, im abendlichen Dunst, gewahre ich eine unbestimmte Masse. Und plötzlich geht mir ein Licht auf! Da ist ja die Strasse zum Col de la Chaudière. Da ist ja die Pelle, riesengross im diffusen Licht der untergehenden Sonne, und für einen Moment wird mir ein wenig angst und bange ums Herz.
Wir fahren noch bis La Chaudière: ein kleines Ortschäftchen, aber Hauptort des Distriktes, der ziemlich ausgestorben wirkt, denn seine jungen Leute sind in die Stadt abgewandert. Und doch hat der Fortschritt auch hier nicht haltgemacht: Das EDF hat dem Dorf eine grässliche Neonbeleuchtung geschenkt, unter der das traditionelle Kugelspiel vor sich geht. Die Steine wirken zwar sehr effektvoll, hier auf der Strasse, aber das altmodische Dorfbild war sicher reizvoller. Während wir eine Mahlzeit verschlingen, welche sich zum grossen Teil aus den herrlichen Käsesorten der Gegend zusammensetzt, wird es dunkel. Die Stille der klaren Sternennacht hilft uns, im Schlaf die bedrohliche Wand zu vergessen.
Die Sonne scheint schon lange, als wir uns zu regen anfangen; im übrigen hat es auch keine Eile. Wir frühstücken ausgiebig und bereiten dann in aller Gemütsruhe das Material vor. Jacques pflückt sogar Lavendelblüten. Dann plötzlich brechen wir Hals über Kopf auf. Glaubt etwa mein Freund auf einmal, wir hätten zuviel Zeit vergeudet?
Der Aufstieg ist wundervoll: Üppige südliche Vegetationen schützt uns bisweilen vor der sengenden Sonne.Von Zeit zu Zeit weht uns berauschender Lavendelduft entgegen. Der Wald verwandelt sich in Dickicht, und ich vermag Jacques nur mit Mühe zu folgen. Der Weg gabelt sich: Unmittelbar über uns zieht sich das Couloir von der Picourère-Route herunter, die Abstiegsführe; rechter Hand führt die Route hinauf zu ausgesetzten Bändern und zum Einstieg, wo die Vorsehung einen kleinen schattenspendenden Baum wachsen liess. Wir ziehen uns aus, um unsere verschwitzten Körper zu frottieren, in der Hoffnung, die Sonne ver- schwinde bald hinter der Wand. Dann gehen wir zum Angriff über. Es ist abgemacht, dass Jacques, der viel besser trainiert ist, die Seilschaft anführt; ich übernehme dafür den Rucksack, der aber nicht sehr « gewichtig » ist.
Die erste Seillänge mit den aufgetürmten Blöcken ist wenig ermutigend, und schon kommt die kleingriffige Platte - mit Schwierigkeitsgrad VI; wir klassieren sie zuversichtlich mit V. Weiter oben bildet ein Überhang die eigentliche Schlüsselstelle der Besteigung: extreme Ausgesetztheit, die ich wenig gewohnt bin. Jacques entdeckt bei den Griffen mit einem Wulst seinen wunden Punkt: die Kletterei mit künstlichen Hilfsmitteln; doch gelangen wir zur grossen und breiten Verschneidung in zwei Fünfteln der Wand. Während wir uns eine kurze Pause gönnen, betrachten wir den Weiteranstieg; aus der Verschneidung kommt man durch eine schräge Rechtstraverse, die um einiges weniger schwierig ist als angegeben. Ein verteufelt luftiger Mini-Standplatz, wo das Gefühl der Leere noch durch gigantische Überhänge betont wird, die, unmittelbar rechts davon, den obern Teil der Route beherrschen. Und schon vagabundiere ich im Geiste in diesen Dächern umher auf der Suche nach einem, wie mir scheint, unmöglichen Durchgang. Jetzt bin ich wieder an der Reihe. Eine glatte Platte mit einer erstaunlich kleingriffigen Oberfläche führt zu einem Riss, der mich an unsere Plagne-Felsen erinnert. Merkwürdig: die Kletterei, obschon immer in der Senkrechten, geht fast überall frei vor sich und fordert selten zum Kampf heraus: Immer wieder erspart ein richtiger Griff für den Fuss dem Körper eine akrobatische Haltung, wenn auch von Zeit zu Zeit ein Block gewisse Vorsicht erheischt. Diese Besteigung ist wirklich begeisternd.
Wir sind nun schon hoch oben, und die Zeit ist vorgerückt. Müssen wir biwakieren? Wir sind trotz der ungewöhnlichen Umgebung nicht eben darauf erpicht, denn wir haben nur einen Pullover dabei und kaum etwas zu essen und zu trinken. Wir erreichen ein geräumiges, von einer grauen überhängenden Mauer überragtes Band. Jacques will ihm erst nicht folgen, denn er hegt gewisse Zweifel wegen der Route. Schliesslich erreicht er nach der freien Traversierung eines Dachvorsprunges einen mit Haken versehenen Riss. Ich kann für einen Augenblick, während ich automatisch die Seile kontrolliere, meine Aufmerksamkeit der Umgebung zuwenden, einer Gegend, die immer prächtiger wird: im Osten allüberall von Buschwald überwachsene Grate wie eine Art Leitmotiv in der Musik, und die Beleuchtung verleiht der ganzen Erscheinung eine seltsam geheimnisvolle Stimmung. Wo nur habe ich schon diese verwirrende Empfindung gehabt, diese eigenartige Gemütsbewegung, wo diesen undefinierbaren Drang empfunden, mich weiter und weiter tragen zu lassen in diese Unendlichkeit und in ihr aufzugehen? Auf einmal erinnere ich mich: in der Sahara! Es mag merkwürdig erscheinen. Im letzten Frühjahr habe ich Gelegenheit gehabt, etwa 60 Kilometer dieser Wüste in der Unendlichkeit dieser Sanddünen mit ihren an Vollkommenheit grenzenden Formen und Linien bis nach El-Oued zu erleben. Benommen von einem unvernünftigen Lauf im Sande, spürte ich, wie sich mein geistiges Ich von der irdischen Wirklichkeit löste. Ich stieg auf die Düne, die mir gerade am höchsten erschien, und dann drehte ich mich langsam, ganz langsam im Kreise. Meine eigenen Fussspuren waren hinter einer Sandwoge verborgen, so dass ich nichts als Wüste und ihre sich in Bewegung befindlichen und gleichzeitig unwandelbaren Dünen sah. Und plötzlich konnte ich mir nicht mehr vorstellen, dass es auf der Welt überhaupt etwas anderes als diese unwirkliche, scheinbar ausgestorbene Einöde gebe. Ich konnte einfach nicht mehr glauben, dass sie irgendwo dort hinten ein Ende nehme. So wurde ich nun auch hier auf diesem schmalen Band von einem unerklärlichen Drang befallen, geradewegs in dieses monotone Gewoge hinauszuschreiten, mit ihm eins zu werden, auf dass es mich hinausführe in die Unendlichkeit. Ich fühlte mich jenseits von Leben und Tod; es gab keine Zeit mehr, oder wenigstens hatte sie die ihr von uns Menschen zugedachte Bedeutung verloren. Das Gefühl, ins Unendliche vorgedrungen zu sein, ihm das Geheimnis entlockt zu haben, berauschte mich.. Als ich wieder zu mir kam, wurde mir bewusst, dass das Streben von uns Bergsteigern jenem Drange ähnlich ist, in den uns die verzaubernde Wüste verstrickt: Es ist der Wunsch nach Losgelöstheit, nach Vollkommenheit, der uns immer wieder auf neue Gipfel, ins Neuland drängt, und hätten wir auch sämtliche bezwungen, unser Bedürfnis wäre nicht befriedigt, ja es würde noch grosser, denn nie, so glaube ich, werden wir wirklich jene Freiheit finden, die wir oft so verzweifelt suchen.
Der Zug der Seile ruft mich in die harte Wirklichkeit der Kletterei zurück - ein plötzliches Erwachen. Und in diesem Moment würde ich viel darum geben, hier das Biwak aufschlagen zu können, um noch einmal im Geiste jene Stunden in der Sahara an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zu erleben. Ganz automatisch klettere ich weiter. Jetzt erscheint mir der Aufstieg lang. Neuer Standplatz. Als Jacques das Gipfelplateau erreicht, ist er aus meinem Blickfeld entschwunden, und in der wachsenden Dämmerung empfinde ich die Bedeutung dieser Stunde doppelt. Diese letzten Meter machen es uns nun auch möglich, die Steilheit der Wand zu beurteilen: Ein Stein würde nicht einmal die Einstiegsbän-der berühren. Und dann, was für eine Freude, mit den müden Füssen auf die hohen, erfrischenden Gräser zu treten! Ganz im Westen zeichnen sich am Horizont im letzten Licht des Tages unendlich viele feine Grate ab, die, wie die Dünen der Sahara, meine Sinne der Wirklichkeit entheben. Man möchte sich ausstrecken, den intensiven Erdgeruch einschlürfen und warten... Auf wasEin bissiger Wind treibt uns in Richtung der Picourère-Route, die wir iBesteigung der Pelle oder Roche Courbe ( Vercors ) 2Kletterei an der Pelle Photos François Mattern, La Chaux-de-Fonds noch vor Einbruch der Nacht erreichen wollen. Der Abstieg ist einfach, doch verlieren wir bald den Weg und irren kreuz und quer durch das Dickicht hinunter, wo es noch unheimlich heiss ist. Die Wagen, Wasser! Ein Rausch der Begeisterung!
Wir kehren nach La Chaudière zurück, um unsern Proviant zu ergänzen, aber die Gegend ist zu ärmlich, als dass man uns nur Eier und etwas Milch geben könnte. Wir schwatzen mit den paar Leuten, die wir zufällig antreffen: Sie sind stolz auf ihre Wand; die Pelle ist wirklich das einzige Prunkstück der Gegend und, so meine ich, kein schlechtes. Sie sind über alles informiert, was sich dort zuträgt, und können jede notwendige Auskunft geben. Dann suchen wir unsern gestrigen Zeltplatz auf. Vor dem Einschlafen gehen mir nochmals die Menschen hier durch den Kopf, die — so scheint es mir wenigstens — am Ende der Welt leben; wirklich, ich kann es verstehen, dass die jungen Leute heute ihr Dorf und dieses eintönige Leben abseits jedes materiellen Reichtums - aber auch allen Lärms und aller Schwierigkeiten der modernen Welt - verlassen. Ich selbst aber ertappe mich dabei, dass ich im Begriff bin, die Menschen hier um ihr sich in aller Monotonie dahindämmerndes Dasein zu beneiden, das sicher reich an innern Gütern sein kann, reich an inneren Glücksgütern, die heute so schwer zu finden sind. Ich weiss auch, dass mir morgen die Abreise nicht leicht fallen wird in der Gewissheit, ein für kurze Zeit erhaschtes, zerbrechliches Glück, das uns immer wieder zu entgleiten droht, zu verlieren. Und warum? Warum diese Flucht, diese Suche nach Neuem, warum dieses Bemühen um ein Leben, das anders sein soll als das eigene, das wir abstreifen möchten, aber das wir nicht abschütteln können?
Ein letzter Blick hinauf zur Wand, eine letzte Aufnahme.Vorwärts. Der Reiz ist weg, das Abenteuer beendigt. Wir trinken in Eile noch etwas; dann trennen sich unsere Wege. Der Abschied fällt zwar schwer, aber wir wissen, dass es im nächsten Sommer ein Wiedersehen in Chamonix gibt und, wer weiss, vielleicht im Vercors. Ich fühle mich sehr einsam auf dieser Landstrasse, die nach Valence führt; bei den Echelles regnet es. In Chamonix herrscht grässliches Wetter. Dann der Zeltplatz von Pierre à l' Orta. Alles ist leer. Ich bin traurig; es ist mir, als ob ich die letzte Seite eines schönen Buches zu Ende gelesen hätte.