Die Toten im Gletscher
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Die Toten im Gletscher Wo der Gebirgskrieg nie wirklich vorbei ist

Im Mai 1915 brach der grösste Gebirgskrieg der jüngeren Geschichte aus, im November 1918 endete er. Doch in Peio, einem Dorf im Trentino, ist er ständiger Begleiter: Die Gletscherschmelze lässt das Grauen der Gebirgsfront wieder ans Tageslicht kommen.

Auf den ersten Blick ist Peio ein kleines Skigebiet wie viele andere in Italien. Im Winter gern von der heimischen Mittelschicht frequentiert, erfreut es sich mittlerweile auch bei russischen Touristen immer grösserer Beliebtheit.

Aber in Peio muss man nicht weit suchen, um auf seine besondere Vergangenheit zu stossen. Bei einem kleinen Spaziergang durch das Dorf kommt man am winzigen Weltkriegsmuseum vorbei und landet schliesslich bei der Kirche San Rocco aus dem 15. Jahrhundert. Daneben ein Friedhof und Schilder mit dem Appell: «Massimo rispetto». Im September 2012 versammelten sich hier 500 Einwohner, um zwei Soldaten zu beerdigen, die im Mai 1918 gefallen waren. In Peio, das spürt man, ist der Erste Weltkrieg noch nicht wirklich vorbei.

Der Grund: Eis hat die Überreste der Soldaten konserviert, die im Gebirgskrieg 1915–1918 auf den Gletschern oberhalb des Dorfes ums Leben kamen. Dieses Eis schmilzt nun, und gibt fast jährlich sterbliche Überreste frei.

Eine Infrastruktur des Todes

Vor über 100 Jahren, noch unter österreichisch-ungarischer Herrschaft, war Peio auf 1473 Metern das höchstgelegene Dorf im Kaiserreich. Als Teil der Grafschaft Tirol gehörte die heutige Provinz Trento zu Österreich. Für Italien, das erst 44 Jahre zuvor zu nationaler Einheit gefunden hatte, ein «unerlöstes» Gebiet, dass es zu befreien galt.

Der Erste Weltkrieg bot die Gelegenheit: 1915 trat Italien an der Seite der Alliierten in den Krieg ein. Da ein grosser Teil der Front auf über 2000 Metern lag, musste eine neue Kriegsstrategie her. Italien verfügte mit den «Alpini» bereits über eine Truppe spezialisierter Gebirgsjäger. Österreich musste sich seine Gebirgstruppe erst aufbauen: die Kaiserjäger. Unterstützt wurden sie von einer Artillerie und Ingenieuren. Diese entwickelten eine ganz neue Form der Kriegsführung, installierten im Hochgebirge eine Infrastruktur des Todes. Schützengräben wurden durch Gletschereis gezogen, Seilbahnen gebaut, die Mann und Munition bis auf die Gipfel transportieren konnten.

Seit sich die Gletscher zurückziehen, kommen die Überbleibsel des «Weissen Krieges», wie der Gebirgskrieg in Italien genannt wird, wieder ans Tageslicht. Was seit den 1990er-Jahren aus dem Eis aufgetaucht ist, ist bemerkenswert gut erhalten. Da ist zum Beispiel ein Liebesbrief an eine Maria, adressiert und nie abgeschickt. Oder eine Ode an ­einen «Freund von früher», gekritzelt in das Tagebuch eines österreichischen Soldaten. Ans Tageslicht kommen auch die sterblichen Überreste der Soldaten: von der Kälte mumifizierte Gletscherleichen.

«Als hätte man sie erst gestern begraben»

Die zwei Soldaten, die man in Peio im September 2012 zur letzten Ruhe bettete, waren blonde, blauäugige Österreicher, 17 und 18 Jahre alt. Sie waren oben auf dem Presena-Gletscher ums Leben gekommen und von ihren Kameraden in einer Gletscherspalte begraben worden. In beiden Schädeln fand man Einschusslöcher. Einer von ihnen hatte noch einen Löffel in seiner Wickelgamasche stecken: ein verbreiteter Brauch unter den Soldaten, die von Schützengraben zu Schützengraben wanderten und aus Gemeinschaftstöpfen assen. Als Franco Nicolis vom archäologischen Denkmalschutzamt in Trento die beiden sah, musste er zu allererst an ihre Mütter denken: «Es fühlte sich an, als ob es Menschen von heute wären. Sie kommen so aus dem Eis, als hätte man sie erst gestern begraben», sagt er. Wahrscheinlich haben die Mütter nie etwas über das Schicksal ihrer Söhne erfahren.

Der Erste Weltkrieg war ein Krieg voller Widersinnigkeiten. Sowohl die Alpini als auch die Kaiserschützen rekrutierten ihre Männer aus den Reihen der Einheimischen. Diese kannten sich in den Bergen aus – was bedeutete, dass sie sich oft genug auch gegenseitig kannten. Der Riss ging quer durch die Familien. «Viele erzählten, sie hätten im Kampf die Stimme eines Bruders oder Cousins gehört», sagt Nicolis.

Gipfel weggebombt

Der grösste Feind für beide Seiten war jedoch das Wetter. Es tötete mehr Männer als jede Kampfhandlung. In diesen Höhen konnten die Temperaturen auf bis zu –30 °C sinken. Auch die Lawinen, der «weisse Tod», verschlang Tausende von Leben.

Die Einwohner von Peio haben diese Geschichten hautnah miterlebt. Im Gegensatz zu anderen Dörfern an der Front­linie wurden sie nie evakuiert. «Der Kaiser entschied, dass dieses Dorf nicht geräumt werden durfte», sagt Angelo Dalpez, Bürgermeister von Peio: «Als höchstgelegenes Dorf des Imperiums galt es als Symbol – eine Botschaft an alle anderen.» Die Einwohner arbeiteten als Träger und Nahrungszulieferer. Sie pflegten Verletzte, begruben die Toten – und wurden Zeugen der Umgestaltung ihrer heimischen Landschaft. So trugen Artilleriefeuer den Gipfel des San Matteo regelrecht ab: Sechs Meter Fels und Eis sprengten sie einfach weg. 1919, ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, sprach das Abkommen von Saint-Germain-en-Laye die Provinz Trentino Italien zu. Ihre Geschichte vergassen die Einheimischen jedoch nie. Viele Vorfahren hatten auf der Seite der Habsburger gekämpft.

Als die Soldaten aus dem Eis schmolzen, begegneten die Einheimischen sozusagen ihren Grossvätern und Urgrossvätern. 2004 fand Maurizio Vicenzi, dessen Vorfahren selbst für Österreich gekämpft hatten, die mumifizierten Gebeine von drei österreichischen Soldaten. Sie hingen kopfüber aus einer Eiswand auf 3650 Metern. Hier, am San Matteo, hatte am 3. September 1918 eine der höchstgelegenen Schlachten der Geschichte getobt. Alle drei waren unbewaffnet und trugen Bandagen in ihren Taschen. Anzeichen dafür, dass sie als Sanitäter im Einsatz waren. Als ein Pathologe die Erlaubnis erhielt, die Leichen zu untersuchen, ging ein Aufschrei durch die einheimische Bevölkerung. Sie empfanden die Untersuchung als Entweihung ihrer Vorfahren.

Eine Postkarte aus Tschechien

2005 begann Vicenzi, Bergführer und Museumsdirektor in Peio, eine Stelle über dem Dorf in 1950 Metern Höhe mit dem Namen Punta Linke zu erforschen. Er fand eine natürliche Höhle im Eis und diverse Utensilien verstreut an der Oberfläche: Stahlhelme, Überschuhe aus Stroh und Munitionsschachteln. Er begriff, dass sich darunter etwas befinden musste. Zwei Sommer später grub Franco Nicolis Team an der Stelle eine Holzhütte aus: eine der Seilbahnstationen, die die Truppen mit Lebensmittel versorgt hatten.

In der Hütte steht ein Motor, der beim Abzug der Österreicher demontiert worden war und der nun von den Archäologen wieder zusammengebaut wurde. Sie liessen auch drei Dokumente an der Wand angeheftet, die sie gefunden hatten. Eine handgeschriebene Betriebsanleitung für die Maschine. Zudem eine Seite aus einer Illustrierten, die Einwohner von Wien beim Anstehen für Lebensmittel zeigt – Anzeichen, dass das Imperium zu bröckeln begonnen hatte. Und eine Postkarte, adressiert an einen Georg Kristof, Chirurg des Pionierkorps, von seiner Frau in Böhmen. Die Karte zeigt eine friedlich schlafende Frau und ist auf Tschechisch mit den Worten «deine verlassene Liebe» versehen. Andere Funde zeigen Fragmente von kyrillischen Zeitungen. Russische Touristen, die heutzutage nach Peio kommen, wissen es vielleicht nicht, aber Russisch gehörte in dem kleinen Dorf schon einmal zum Alltag. Gefangene von der Ostfront mussten für die Österreicher Lasten tragen und fertigten die Überschuhe aus Stroh, die die Soldaten vor Frostbeulen schützen sollten.

Erobert, zurückerobert

Mehr als 80 Soldaten, die im Gebirgskrieg gefallen waren, wurden in den letzten Jahrzehnten um Peio entdeckt. Mit Sicherheit werden es noch mehr, aber eine Leiche entzieht sich bis heute seinen Rettern: die von Arnaldo Berni, einem 24-jährigen Hauptmann, der die Italiener am 13. August 1918 bei der Eroberung des San Matteo anführte. Bernis Geschichte ist ein Paradebeispiel für die Tragik eines Krieges, in dem triviale Gebietseroberungen durch einzelne Herkulestaten erreicht wurden und niemand unten im Tal es wirklich zur Kenntnis nahm.

Nach seinem Sieg beschwerte sich Berni in einem Brief, der wohl an den Zensoren vorbeigeschlittert war, über die armselige Pressearbeit: «Es gibt nur einen kurzen und verwirrenden Bericht über unsere Schlacht, die in Wirklichkeit brillant war und nur sehr wenigen das Leben kostete. Die Journalisten trauen sich nicht zu uns hoch, und deshalb bleiben die ungeheuren Bemühungen unserer Männer unbekannt.» Nur drei Wochen später eroberten die Österreicher den Berg zurück, Berni überlebte die Schlacht nicht. Zwei Monate später war der Krieg zu Ende.

In den letzten Jahren gab es unzählige Versuche, Berni zu finden. Erst von seinen eigenen Soldaten, dann von seiner Halbschwester Margherita. Noch Jahre nach dem Kriegsende pilgerte sie jedes Jahr in die Berge, auf der Suche nach ihrem Bruder.

«Vor allem anderen Europäer»

Manchmal, sagt Franco Nicolis, schaue er durch das Fenster der Hütte bei Punta Linke und versuche, die Berge so zu sehen, wie es die Soldaten getan hatten. So wie jene aus den entferntesten Winkeln des Imperiums, wie der tschechische Chirurg Kristof. Sie waren wohl verwirrt, dass sie für diese unwirtliche Wildnis kämpfen sollten. Ganz anders die einheimischen Bergler: Für sie waren die Berge der Preis, um den es sich zu kämpfen lohnte, sogar gegen Freunde, mit denen sie schon ihr ganzes Leben geklettert waren. Peios Bürgermeister hat einen anderen Ansatz. Bei der Beerdigung der zwei Presena-Soldaten liess er drei Hymnen spielen: die italienische, die österreichische und eine Ode an die Freude – die europäische. «Die Menschen, die hier gekämpft haben», sagt er, «waren vor allem anderen Europäer.»

Krieg um Gebietsgewinne

Am 23. Mai 1915 erklärte Italien dem österreichischen Kaiser Franz Josef den Krieg. Ziel Italiens war, seine Grenze nach Norden auf die Wasserscheide auf dem Brenner zu verlegen. Hintergrund war die Ideologie des Irredentismus, die die Eingliederung aller italienischsprachigen Gebiete in den italienischen Nationalstaat forderte. Der Konflikt entwickelte sich schnell zu einem zähen Stellungskrieg im Hochgebirge. Gekämpft wurde vom heutigen Südtirol bis zu den Julischen Alpen im heutigen Slowenien. Mit der Niederlage der Mittelmächte Österreich-Ungarn und Deutschland konnte Italien die angestrebten Gebietsgewinne realisieren: Der südliche Teil Tirols und Teile Sloweniens fielen an Italien. Nach der Machtergreifung Mussolinis wurden die deutsch- und slawischsprachigen Minderheiten in diesen Gebieten brutal unterdrückt.

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