Die Vertikale im Blut
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Die Vertikale im Blut Der Wanderfalke

An den Felsen kommen sie einander manchmal ins Gehege: Wanderfalken und Kletterer. Beide haben eine ausgesprochene Vorliebe für die Vertikale. Biologe Marc Kéry erklärt die besonderen Lebensumstände der Speedspezialisten unter den Vögeln dieser Welt.

«Ein Wanderfalke schaut sich die Landschaft an und hält gezielt Ausschau nach auffälligen Vertikalen», sagt Marc Kéry, Spezialist für den Wanderfalken bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Diese Beschreibung würde auch auf manche Kletterer zutreffen, die sich von mächtigen Felswänden genauso magisch angezogen fühlen.

Während Letztere nach schönen, kletterbaren Linien suchen, halten die Wanderfalken Ausschau nach Brutplätzen. Der Wanderfalke ist auf senkrechte Felswände angewiesen, um seine Fortpflanzung zu sichern. Er brütet in Nischen oder auf Felsbändern in hohen Wänden, wo er vor Feinden sicher ist – vorausgesetzt, sie können nicht fliegen oder klettern. Ein guter Horst ist das A und O im Leben eines Wanderfalken. Die Falken bauen keine eigenen Nester, sondern scharren eine kleine Mulde in ein Felsband. Von diesem Startplatz aus lernen die kleinen Vögel später, wie man als schnellstes Tier der Welt im Sturzflug jagt. Wanderfalken erreichen dann eine Geschwindigkeit von über 250 Stundenkilometern.

Kampf um die besten Horstplätze

Manchmal bewohnen die Wanderfalken auch ein bereits gebautes Nest. «Es ist ein bisschen wie bei den Menschen», erklärt Marc Kéry, «wenn wir eine Villa an einem schönen Südhang sehen, dann möchten wir automatisch dort leben.» Die Wanderfalken bleiben einem Standort überaus treu, wenn sie eine Südlage gefunden haben, die ihren Ansprüchen genügt. An gewissen Felsen sind seit Jahrhunderten Horstplätze von Wanderfalken überliefert. Für die besten Orte gibt es eine eigentliche Warteliste, was auch bedeutet, dass um sie gekämpft wird.

Wanderfalken leben auf allen Kontinenten der Welt, sind aber nicht überall richtige «Wandervögel». In den mittleren Breitengraden bewegt sich ein Wanderfalke normalerweise in einem Gebiet von 50 bis 100 Quadratkilometern rund um seinen Horst. Tatsächlich wandern nur diejenigen, die in nördlichen Regionen leben, sowie junge Wanderfalken während einer gewissen Zeit.

Der schönste Vogel überhaupt?

Der Name ist deshalb irreführend, lässt sich laut Marc Kéry aber damit erklären, dass die Bezeichnung aus Ostengland stammt, wo die Menschen den Wanderfalken nur als Zugvogel kannten. Wegen der flachen Landschaft fehlten dort die Nistplätze in der Vertikalen. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert, da Wanderfalken vermehrt auch hohe Gebäude in Städten als Nistplätze entdeckt haben.

Für Marc Kéry ist unbestritten: Der sportliche Jäger ist der schönste Vogel überhaupt. «Die Wanderfalken sind unglaublich ästhetisch», sagt der in Basel wohnhafte Biologe und Ornithologe, der jeden Brutplatz im Jura kennt. «Ich mag die Einfachheit der Form und der Zeichnung ihres Gefieders», erklärt er. «Und die aerodynamische Figur, die bei den breiten Schultern beginnt und sich gegen den Schwanz hin verjüngt – das ist einfach umwerfend schön.»

Während es für den Laien schwer sein kann, einen Wanderfalken zu erspähen, tourt Marc Kéry regelmässig durch die Gegend, um «seine» Vögel zu beobachten. Besonders beeindruckend sei dies während der Balzzeit. Dann schrauben sich die Vögel gemeinsam in den Himmel und ziehen weite Kreise, bevor sie unvermittelt zu Sturzflügen ansetzen.

Für eine seiner jüngsten Publikationen untersuchte der Wissenschaftler die Bestände in mehreren Gebieten des französischen und des schweizerischen Juras und fand heraus, dass es den Wanderfalken nicht in allen Regionen so gut geht wie noch vor 15 Jahren.

Der Bestand hat sich erholt

Dazu muss man wissen, dass die Geschichte des Wanderfalken eine ganz besondere ist. «Eigentlich ist der Wanderfalke eine Erfolgsgeschichte des Naturschutzes», erklärt Marc Kéry. «Nur sehr selten kann sich eine Art, die praktisch ausgestorben ist, erholen und wieder zurückkommen.»

Die Bestände des Wanderfalken sind in den 1950er- und 1960er-Jahren regelrecht eingebrochen. Man fand heraus, dass gewisse Umweltgifte wie das berüchtigte Insektizid DDT einen verheerenden Einfluss auf die Populationen von verschiedenen Greifvögeln hatten. Mehrere Substanzen wurden in der Folge verboten. Nach diesem «DDT-Crash» setzte eine Trendwende ein, und die Bestände erholten sich. Gemäss den Daten der Vogelwarte verzeichnete die Schweiz bei den Wanderfalken in den Jahren zwischen 2005 und 2010 einen Höchststand mit rund 340 Paaren. Für den Zeitraum von 2013 bis 2016 waren es 260 bis 320 Paare.

In der neusten Ausgabe der Roten Liste bedrohter Brutvögel rutscht der Wanderfalke eine Stufe zurück in die Problemzone. Er wird neu als «vulnerable», verletzlich, taxiert und nicht mehr als «near threatened», potenziell gefährdet.

Menschen als Störfaktor

Die Gründe für den jüngsten Rückgang sind unterschiedlich und werden weiter untersucht. Auch Freitzeitaktivitäten spielen eine Rolle. Je nach Situation können sie Stressfaktoren sein. Abgesehen von kletternden Zweibeinern, die den Wanderfalken in ihren Brutplätzen und Rückzugsgebieten zu nahe kommen, können auch Gleitschirme ein Problem sein, campende oder picknickende Naturfreunde oder Geo-Cacher. «Im Jura gibt es oberhalb der Felswände oft Wanderwege», sagt Marc Kéry. «Daran haben sich viele Wanderfalken anscheinend gewöhnt. Schlimmer sind neu auftretende Störungen.»

Betrachtet ein Falke den Brutplatz als nicht mehr sicher, benutzt er ihn entweder gar nicht oder beginnt zwar mit der Brut, gibt sie bei Störungen aber wieder auf. Die Anpassungsfähigkeit der Vögel sei nicht immer gleich hoch, sagt Marc Kéry. Während sich einzelne Individuen an Störungen gewöhnen, sind andere sehr empfindlich – eine weitere Analogie zu den Menschen. Man könne nicht von Extrembeispielen auf die breite Masse schliessen.

In den untersuchten Gebieten im Jura zeigt sich ein weiteres Problem, da sich mit dem Uhu ein natürlicher Feind des Wanderfalken genau in diesen Regionen im Aufwind befindet. Uhus und Falken nisten beide in Felswänden. Aufnahmen mit Fotofallen zeigen, wie sich der Nachtjäger Uhu junge oder brütende Wanderfalken als Beute greift.

Gezielte Vergiftungen

In der Nähe von Siedlungsgebieten und bei den gut dokumentierten Stadtbewohnern unter den Wanderfalken sind zudem Fälle von gezielten Vergiftungen aktenkundig. Naturschützer und Polizei fahnden dabei konkret im Umfeld von Taubenzüchtern, die ihre Sporttauben von den Wanderfalken bedroht sehen. In diesem Zusammenhang ist es auch schon zu Verurteilungen gekommen. Dass sich der Wanderfalke in jüngster Zeit auch zu einem «Gebäudebrüter» entwickelt hat, sich damit aber neuen Gefahren aussetzt, ist ein weiteres Phänomen, das die Forschung nicht genau versteht. Der faszinierende Rekordjäger unter den Greifvögeln ist nicht nur aus biologischer Sicht spannend, sondern wirft auch viele Fragen auf, was das Zusammenspiel von Mensch, Umwelt und Natur betrifft.

Steckbrief

Länge:36 bis 48 cm

Spannweite: 89 bis 113 cm

Gewicht: 600 bis 1300 g

Nahrung: Vögel

Lebensraum: verschiedene offene Lebensräume, Felsen

Zugverhalten: überwiegend Standvogel

Brutort: Felsnischen, Gebäude

Gelegegrösse: 3 bis 4

Anzahl Bruten pro Jahr: 1

Nestlingsdauer/Flugfähigkeit: 35 bis 42 Tage

Quelle: www.vogelwarte.ch

Flexible Schutzmassnahmen für Felsenbrüter im Berner Jura

Felsenbrütende Vögel wie Wanderfalke, Bartgeier, Steinadler oder Uhu sind während der Brutzeit besonders sensibel. Damit diese gefährdeten Tiere ungestört brüten können und ein Nebeneinander mit kletternden Menschen gelingt, werden im Berner Jura bei vorhandener Brutaktivität einzelne Kletterrouten saisonal gesperrt. Kletterinnen und Kletterer werden mithilfe einer Plakette beim Einstieg in die Kletterroute auf die Brutaktivität und die damit verbundene Sperrung der Route hingewiesen. Die Routensperrungen werden im SAC-Tourenportal publiziert.

Solche flexiblen Schutzmassnahmen waren schon seit März 2021 im Klettergebiet Le Schilt in Kraft. Nach konstruktiven Gesprächen zwischen den lokalen SAC-Sektionen, den Burgergemeinden als Eigentümern, Ornithologen und den Betreibern des nahen Steinbruchs konnte eine bestehende Vereinbarung angepasst und ein Kletterverbot für das Gebiet vermieden werden. Während der Brutzeit des Wanderfalken von Januar bis Ende Juni bleibt ein Teil des Gebiets für Kletterinnen und Kletterer zugänglich. Einzelne Routen können jedoch vorübergehend gesperrt werden, wenn die Anwesenheit des Raubvogels beobachtet wird. Ironischerweise hat der Wanderfalke dieses Gebiet im Jahre 2021 verlassen. Verdrängt wurde er wahrscheinlich vom Uhu, der hier ein Habitat nach seinem Geschmack gefunden zu haben scheint.

Feedback