Direkte Route durch die Westwand des Petit Dru
VON t JOHN HARLIN
Kurz vor seinem tödlichen Unfall vom 22. März 1966 an der Eiger-Nordwand teilte uns der bekannte amerikanische Kletterer John Harlin mit, dass er im Begriff sei, unserer Redaktion den Bericht seines Direktdurchstiegs durch die Westwand des Petit Dru zuzustellen, was dann aber wegen seines unglückseligen Todes vereitelt wurde. Es freut uns, dass wir den Bericht, welcher schon im American Alpine Journal 1966 erschienen ist, auch in deutscher Übersetzung veröffentlichen können.
Wie bekannt, stürzte der hervorragende Alpinist infolge Seilrisses tödlich ab, als er bei der « Spinne » anstieg. Zwölf Alpinisten gelang es damals mitten im Winter, in dreissig Tagen in hartem Kampf und mit vereinten Kräften eine direkte Route in der Eiger-Nordwand erfolgreich zu eröffnen.
Wir erwähnten schon verschiedentlich die erstaunlichen alpinistischen Leistungen John Harlins, welcher bestimmt einer der fähigsten Kletterer unserer Zeit war: Erste vollständige Besteigung des Nordostgrates der Cime de l' Est; Nordost- und Südostwand der Sphinx ( Tour d' Ai ) ( siehe Bulletin « Les Alpes » 1965, Seiten 265/266 ); Erstdurchsteigung der Südwand der Aiguille du Fou; Erstbesteigung des Pilier Dérobé du Frêney ( siehe « Les Alpes », März 1966, Seiten 64-68 ).
Der Bericht seines Direktdurchstiegs durch die Westwand des Petit Dru vom 10. bis 13. August 1965 dürfte sicher der letzte Artikel aus der Feder des verunglückten Alpinisten sein ( Red. ).
Es ist schon lange her, seit ich mit der gemischten alpinen Kletterei begonnen und grosse Freude daran gefunden habe. Für die eigentliche Felskletterei hatte ich mich aber trotz ihrer Anziehungskraft nie sonderlich interessiert, bis ich vor einigen Jahren den Petit Dru sah und mich seine tausend Meter hohe Granitwand beeindruckte.
Es schien mir, dass es einen Aufstieg geben müsste, welcher die rautenähnliche Platte der Westwand in der Mitte durchzieht, was aber nicht der Fall war, und so wurde ich immer mehr von dieser grossen geometrischen Figur dieses Berges angezogen, welcher Symbol unserer Alpen ist. Nach und nach verspürte ich das Verlangen, die « Direkte » des Dru zu eröffnen.
Ausser dem verstorbenen Kletterer Robin Smith habe ich nie von einem Alpinisten gehört, der sich für diese Route interessiert hätte. Ich selber war auch nicht überzeugt davon. Die Art der Route zeigte sich erst beim Studium und als mich ein erster Versuch mit den Komplikationen der Wand vertraut gemacht hatte. Erst als ich mich auf der Höhe der grauen Terrassen befand und den Aufschwung dieser Wand und ihre Überhänge, von denen einige die grössten sind, welche ich in Granit je angetroffen habe, eingehend betrachtet hatte, konnte ich mir eine Vorstellung von den Schwierg-keiten machen und entscheiden, wie ich sie anpacken müsste.
Im Gegensatz zu den meisten Routen, bei denen man die grossen Überhänge umgehen kann, verlangt diese Route, dass diese alle, einer nach dem andern, bezwungen werden. Ein anderer abschreckender Anblick bilden die beiden grossen, weissen Trümmerfelder, welche von neueren Felsstürzen herrühren und gefährliche Zonen unstabiler Blöcke und zerbrechlicher Felssplitter bilden. Die Natur hatte keine Zeit, die Fassade dieses gewaltigen Bauwerkes zu säubern.
Die « Direkte » des Dru wurde ein Unternehmen des Sommers 1964. Royal Robbins teilte mir brieflich mit, dass ein Kamerad von den USA unterwegs sei; er heisse Lito Tejada-Flores. Royal empfahl ihn mir als einen Kletterer von Format und, was noch mehr zählt, als einen zuverlässigen Gefährten. Auf diese Weise kannte ich Lito schon etwas, als ich ihn im Lager von Biolet antraf, und wir vereinbarten diese Kletterei für den Juli.
Mit Unterstützung C. Richards ', eines andern Amerikaners errichten wir ein Lager auf dem Geröll am Fuss der Wand. Für die Besteigung schliesst sich uns Nick Estcourt, der Präsident des Kletterklubs Cambridge an. Wir rechnen damit, zu dritt zu klettern, mit einem Helfer, der die Lasten am fixen Seil mit Prusikknoten hinaufziehen wird. Das ist eine gute Methode im Granit, um rasch solide Standplätze zu installieren, auf denen man auch photographieren kann. Das erlaubt im übrigen, schnell und ohne zu grosse Unannehmlichkeiten zu klettern.
Gary Hemming, mit dem wir uns besprachen, konnte uns überzeugen, nicht mit dem Couloir, sondern am Sockel, welcher die untere markante Partie der Wand bildet, zu beginnen. Es wird eine äusserst lange Route von mehr als 1000 Metern Höhe werden. Mein Einwand ist, dass sie der Felsstruktur zuwiderläuft und unlogisch scheint. Studiert man die Wand, so werden meine Zweifel verständlich, selbst wenn man, wie Gary, anderer Meinung ist. Die beiden untern Schichten der Wand bestehen aus einem System von Adern und Spalten, welche weit nach links führen. Diese sind vollständig von der oberen und der Hauptpartie der Westwand getrennt. Wenn man eine gerade Richtung einhalten will, um die obere Wandpartie zu erreichen, muss man « gegen den Strom schwimmen ». Also, « schwimmen » wir!
An einem kalten, schönen Morgen im Juli verlassen wir drei unsere Zelte und lassen uns in das Wagnis ein. Der Sockel lässt sich in der Route Robbins-Hemming gut an, und wir betreten bald Neuland, steigen leicht schräg auf die Höhe der grauen Terrassen, welche durch Felsbänder und Trümmer direkt am Fuss der glatten Partie der Wand gebildet werden. Die Besteigung wird mühsam, besonders wenn es sich darum handelt, von einer Spalte zur andern zu wechseln, wenn man mit dem Fuss die obere Wandpartie ansteuert. Breite Spalten und schwierige Übergänge führen uns zum gewünschten Ziel: auf die Höhe der grauen Terrassen. Es ist sehr spät, und wir sind erschöpft! Wir haben über fünfzehn Seillängen technisch schwieriger, freier und künstlicher Kletterei hinter uns und sind von unserer Leistung befriedigt. Als wir aber unsere Blicke nach oben richten, werden wir kleinlaut vor dem, was uns noch bevorsteht. Wir empfinden genau denselben Eindruck, den die « Direkte » am Eiger, von der Höhe des zweiten Schneefeldes aus gesehen, auf uns machte: winziger Mensch, riesenhafter Berg!
Am nächsten Tag beginnen wir am linken Rand des ersten Trümmerfeldes. Wie erwartet, machen uns die Felstrümmer etwas Mühe. Weiter oben gibt es kleine Überhänge von drei bis fünf Metern, die wir aber, im Vergleich zu ihren imposanten Artgenossen, kaum beachten.
Nachdem ich einen von diesen überwunden habe, bitte ich Lito, die Spitze zu übernehmen, um verschnaufen zu können. Eben schalte ich über der Oberkante des Überhanges mit Hilfe zweier Haken eine Ruhepause ein. Etwas weiter oben kommt Lito wegen ungenügenden Haltes an Felssplittern nicht zurecht; ein Haken schnellt heraus, und Lito fällt. Ich werde von meinem schmalen Band losgerissen und stürze; aber die Sicherung bewährt sich, ich halte Lito mit dem um mich herumgeschlungenen Seil und rette ihn so vor einem weiteren Sturz von 50 Metern. Wir erholen uns von unserem Schrecken und verfolgen mit unsern Blicken den Sack mit dem Radio und den Duvets, welcher in grossen Sätzen 500 Meter weit bis zum Couloir hinunterspringt. Nick schaut zu uns herauf und fragt, was für ein verfluchtes Klettermanöver wir da oben ausprobieren wollten. Zum Glück befindet sich ein alter Haken am Rand des Daches, unter dem wir hängen, und wir ziehen eine Seilschlinge durch ihn hindurch. Unsere Augen erstarren, als wir sehen, dass sich der Haken unter unserem Gewicht merklich durchbiegt; doch er hält, und wir fassen auf dem Felsband Fuss. Aber mit der Ausrüstung ist auch unser Selbstvertrauen verlorengegangen.
Wir treten den Rückzug an und lassen das fixe Seil zurück. Am Abend bricht im Abstieg ein Gewitter los. Bei der Traversierung eines Couloirs entdecken wir während der Blitze fast am Ende des Couloirs auffällige Farben im Wildbach: es sind unsere Duvets, die wir wieder finden. Wenigstens eine kleine Entschädigung!
Enttäuscht reisen wir in die Dolomiten ab.
Noch enttäuschter kommen wir nach Chamonix zurück. Wieder ein so verwünschter Sommer!
Ein neuer Versuch mit Lito, Pierre Mazeaud und Roberto Sorgato scheitert gerade über dem früher erreichten höchsten Punkt bei Regen und Wind. Wir heben unser Lager auf und reisen ab. Für dieses Jahr haben wir genug von den Drus; die Besteigung freut uns schon lange nicht mehr.
1965 - ein neuer Sommer - und was für einer! Es wäre besser Winter geblieben; dann könnte man wenigstens skifahren!
Wir beginnen unsere Kurse an der berühmten Ecole Internationale d' Alpinisme, welche trotz des schlechten Wetters gut verlaufen. Ich sage zu Royal Robbins, dass von allen Erstbesteigungen, welche in diesem Jahr überhaupt in Betracht kommen, die « Direkte » des Petit Dru eine der aus-führbarsten sei, weil der Schnee an ihren senkrechten Wänden nicht lange liegenbleibt. Royal interessiert sich sehr für dieses Projekt, welches ganz seinem Geschmack entspricht. So beobachten wir also das Wetter und prüfen die Möglichkeit eines Besteigungsversuches des Dru, während wir an der Bergsteigerschule unterrichten. Eines Tages im Juli überschreiten wir das « Mer de Glace », in der Hoffnung, der Regen werde aufhören und wir könnten eine Reihe schöner Tage geniessen; aber am folgenden Tag lässt sich der Regen ein.
Bei anderer Gelegenheit klettern wir bis zu den höchsten grauen Terrassen hinauf, wobei wir vom Kreuzungspunkt des zweiten Couloirs direkt ansteigen, eben auf der Route, welche wir vorgesehen haben. Wir erreichen die grauen Terrassen über eine Reihe schwieriger Seillängen in freier Kletterei ( —VI ); dazwischen befindet sich eine Stelle künstlicher Kletterei, wo man die dicken « Bong»-Haken verwenden muss. Hier empfangen wir den Wetterbericht, der natürlich schlecht lautet, so dass wir trotz der Versuchung, alles aufs Spiel zu setzen, den Rückzug antreten. Diese Misserfolge schlagen allmählich aufs Gemüt.
Doch ein schöner Tag bringt neue Hoffnung. Es ist fast wie ein Wunder. So sind wir zwei Kletterer am 9. August wieder zum Angriff fest entschlossen, tragen unser Material zusammen und kontrollieren es nach einer Liste.
Schwankender Gang über die Moräne... gebeugte Rücken unter schweren Säcken immer dieselbe Landschaft... monotone Schritte auf dem Pfad... Punkte, welche sich auf der Moräne, andere, die sich zwischen dem Geröll bewegen...
- Mein Gott, eine ganze Armee ist unterwegs!
In der Abenddämmerung biwakieren wir zwischen Deutschen, Tschechen, Japanern, Franzosen, Österreichern, Engländern, Polen!
Dieser Massenansturm bedeutet Unfall oder Tod im Couloir!
Jedermann beschliesst zuerst aufzubrechen. Ein Drunter und Drüber am Morgen! Wir setzen unsere Stirnlampen schon auf dem Lawinenkegel auf. Ich habe mir an einem Fuss zwei Socken, am andern nur einen übergezogen! Doch das ist egal! Der Zeitplan ist wichtiger als die Symmetrie! Wir seilen uns nicht an. Steine zischen durch das Couloir! Schreie...
Trotz unseren Lasten holen wir die Vorausgegangenen, welche schon im Couloir aufsteigen, ein. Unter dem ersten, einem Deutschen, löst sich ein Block, der einem andern Deutschen der zweiten Seilschaft ein Bein bricht. Wir erreichen die Unfallstelle über vereiste Felsen und bieten unsere Hilfe an; weil sich aber schon ihrer fünf um den Verletzten bemühen, verzichten sie auf unseren Beistand. Nachdem wir dem Verunfallten unser Mitgefühl bezeugt haben, ziehen wir unsern Lei-dens- und Freudenweg weiter. Royais Uhr löst sich; doch es ist noch alles beisammen, und sie läuft.
Starke Steinschläge werden von einer Seilschaft auf den Terrassen ausgelöst! Zehn Minuten früher hätten sie Todesopfer gefordert! Empörung! Schreie! Schweigen! Jeder denkt an die Folgen dieser Unvorsichtigkeit.
Wir holen in der schwierigsten Zone der grossen Terrassen einige Schotten ein und erreichen dann den Anfang der eigentlichen Route. Weil ich die über uns befindlichen Seillängen schon einmal als erster gemacht habe, bittet Royal, diesmal die Führung übernehmen zu dürfen. Ich gönne ihm diese Freude; wir gewinnen an Höhe, und endlich, ja, endlich lassen wir den letztes Jahr erreichten höchsten Punkt unter uns. Dieser scheint die Schlüsselstelle des Erfolges zu sein, wie es der « Hinterstoisser » am Eiger sein dürfte.
Royal hat eine Auf hissmethode erfunden, welche ich für diese Art Kletterei als revolutionär betrachte: mit Jümaren, Karabinern und einer Seilschlinge zieht der Spitzenmann der Seilschaft mit seinen Beinen alle Säcke miteinander auf; gleichzeitig klettert der zweite am fixen Seil mit den Jümaren und kann ohne Sicherung die Haken lösen.
Dann führe ich bis zur zweiten grossen Barriere der Überhänge. Royal überwindet eine Strecke von 40 Metern, welche man teilweise als Dach, teilweise als ausgesprochenen Überhang bezeichnen könnte. Nach kurzer Überlegung taufen wir die Stelle « 40-Meter-Überhang ».
Währenddem ich die Haken löse, bricht die Dämmerung herein. Royal bereitet einen heiklen Übergang vor. Mit aufgesetzter Stirnlampe führe ich dann weiter, bis wir glücklicherweise ein geräumiges Felsband finden, wo wir biwakieren können.
Am Morgen hören wir Rufe und Antworten von der Magnone-Route her. Duvetwesten zeichnen sich als farbige Flecke ab. Verspäteter Aufbruch. Es ist kalt.
Die Route verläuft etwa fünfzehn Meter links vom Felsband, so dass ich absteigen und einen Quergang ausführen muss, um sie zu erreichen; dabei sammle ich die Haken ein. Beim Wiederaufstieg zwinge ich mich, frei zu klettern, um das Einschlagen von Haken zu vermeiden, bevor ich das Band ganz überschritten habe. Das erleichtert dann die Arbeit des zweiten Seilgefährten. Weiter oben bilden zertrümmerte Felsen in einem überhängenden Kamin wahre Guillotinen.
Eine angespannte, gefährliche, vielleicht sogar eine der längsten gefährlichen Klettereien meiner alpinen Laufbahn! Heikle Arbeit. Ich muss einige Klimmzüge mit Spezialhaken ( « sky-hook »: Rurp-Haken oder Messerwinkel-Haken ) machen, um keine Felshaken einschlagen zu müssen, welche die Felssplitter und Blöcke aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Ein gewagtes Fortbewegen in freier Kletterei, welches zum Fehlschlag führen muss, denn so ein kleiner Haken aus Chrom-Molybdän kann ja nicht halten... Doch, er hält !.. Auch das geht vorüber, und es erscheint ein Band zum Ausruhen. Gott sei Dank! Nach einer solchen Seillänge ist ein Felsband ein Paradies!
Nun scheint die Route leichter zu werden, aber Royal findet sie erstaunlich schwierig. Und dann geschieht das Unglück:
Royal hört ein Sausen, schreit eine Warnung, und ich vernehme einen dumpfen Laut, verspüre einen Schlag, und ein glühendes Feuer ergreift mich. Ein rasender Schmerz dringt mir bis auf die Knochen. Ein Bein ist gefühllos, und ich bin überzeugt, dass es gebrochen ist. Ein Stein von unbekannter Grösse ist von oben, vielleicht aus 300 bis 400 Metern Höhe heruntergestürzt und hat meinen Oberschenkel getroffen.
Royal hält bei einem Haken an, und ich versuche, mir Rechenschaft über meine Lage zu geben. Zum Glück habe ich gute Muskeln am Oberschenkel, so dass der Knochen geschützt war. Der Stein hat jedoch wie ein Geschoss gewirkt. ( Ich werde nachfolgend darüber berichten, dass Muskel und Ischiasnerv schwer verletzt waren und dass ich während fast dreier Monate an Blutungen und innerem Bluterguss litt. ) Ich kann mich aber nicht mit einer Niederlage abfinden, nachdem ich mich in dieser Wand so abgeplagt habe, und muss zuerst einmal alles überlegen. Ich bitte daher Royal, die in Angriff genommene Stelle noch ganz zu überwinden. Ich glaube immer noch, dass das Bein gebrochen ist, als ich an der Reihe bin, aufzusteigen und die Haken einzuholen. Selbst wenn man ein gebrochenes Bein aufs äusserste schonen will, muss es doch stark angestrengt werden, wenn man mit Prusikknoten klettert. Der Schmerz ist so stark, dass meine Nerven bei diesen 40 Metern Kletterei mehrmals versagen. Während meiner langen sportlichen und militärischen Laufbahn musste ich mich nie so ungeheuerlich anstrengen. ( Ein Neurochirurge klärte mich später auf, dass das durch einen solchen Schlag dem Hauptnerv zugefügte Trauma zum allgemeinen Schock beiträgt, gegen den ich kämpfen muss. ) Während einer Verschnaufpause auf einer Leiste von unsicheren Felssplittern besprechen wir das Für und Wider der Besteigung. Wenn Royal nicht so überaus tüchtig in dieser Art Kletterei wäre, so würde die Lösung ohne weiteres lauten: Abstieg. Es ist keine Rede davon, dass ich heute und wahrscheinlich morgen führen kann. Wir entschliessen uns aber, die Besteigung trotzdem fortzusetzen. Über Funk können wir Royais Frau Elisabeth über unsere Lage und unseren Entschluss unterrichten und veranlassen, dass uns jemand auf dem Gipfel erwarte. Wir sehen mit Sicherheit voraus, dass der Abstieg schwer wird: der Marsch und jede kleine Kletterei sind schmerzhaft mit dieser Verletzung, weil die schräggestellten Felsen eine grössere Beinarbeit verlangen - und eben diese Fähigkeit fehlt mir ganz.
Die folgende Seillänge führen wir um eine Kante, um einem üblen Dach zu entgehen. Royal trifft wegen enormer, wackliger Blöcke bald Unannehmlichkeiten an, die ich schon hinter mir habe. Es besteht keine Sicherheit. Auf halber Höhe seilt sich Royal ab, um an einer Hangtraverse die Haken einzusammeln, was mir zum Teil ein Pendeln erspart. Ich bin ihm dafür dankbar. Er seufzt und bestätigt, dass das jedenfalls die gefährlichste Stelle sei, welche er schon bezwungen habe. Werden die Schwierigkeiten endlich aufhören? Während Stunden höre ich nur noch Schimpfen und Verwünschungen über die unstabilen Blöcke und tonnenschweren Felstrümmer Bei einbrechender Nacht entdecken wir eine kleine Felsleiste, und für mich beginnt der Leidensweg aufs neue; aber zuerst müssen die Säcke gehisst werden. Sobald sich das Einholseil streckt, lasse ich die Last los, und die Säcke schaukeln fünf bis sechs Meter von der Wand weg hinauf.
Wenn man sich selber abplagt, indem man unaufhörlich ein verletztes Glied betätigt, löst das Leiden eigentümliche Empfindungen aus, die man mit allen möglichen Färb- und Formbezeichnun-gen auszudrücken sucht. Ich steige weiter, wobei ich verschiedene Arten ausprobiere, um den verletzten Muskel zu spannen und zu entspannen. Die einzige Wirkung besteht darin, dass sich die Art des Schmerzes ändert; stechender Schmerz wechselt ab mit dumpfer Qual. Ein Auf und Ab jämmerlichen Stöhnens. 40 Meter werden zu einer unendlichen Strecke mit unendlichen Variationen des gleichen Problems, welches durch die Anstrengung beim Lösen der Haken noch erschwert wird. Die Hammerschläge und die Berührung mit dem Fels wirken auf die Sinne ein und schmerzen.
Ich erreiche die Felsleiste, und wir richten unser Biwak ein. Über unsern Köpfen lauern noch Ungewisse Gefahren; der grösste Überhang der Wand verdeckt uns diese. Für uns, die wir einen Durchgang suchen, ist er ein Hindernis von gewaltigem Ausmass.
Die Nacht nimmt uns gefangen, aber Hoffnung und Vertrauen vertreiben die dunkeln Schatten unter unserem vorspringenden Felsdach. Unsere Beine hangen über dem Abgrund, und diese Stellung lässt uns unsere Lage nicht vergessen. Wir bewegen uns nur vorsichtig, um kein Material zu verlieren. Trotz der Anspannung sind wir zufrieden und trotz meinem Bein beruhigt. Die Nacht ist erträglich, und wir geniessen die Belohnung für unser Streben.
Beim Morgengrauen sind wir voller Selbstvertrauen, und der Überhang enthüllt seine schwachen Stellen. Das Hauptproblem besteht darin, die Barriere zu erreichen, aber die besonders flachen Haken bringen die Lösung bis zu einem Klemmriss, dessen elegant geschwungene Linie Royal direkt zum Überhang heranführt. Dieser ist von einem Riss gerade so breit gespalten, dass man sich hineinzwängen kann. Royal nimmt seinen Heim ab. Unser Löwe ist endlich gezähmt.
Der Durst vergrössert unser Unbehagen, und wir schätzen die Eiszapfen, die wir von jetzt an antreffen. Zwei Seillängen weiter oben hat der zweite Felssturz eine grosse Zone des Berges mit brüchigen Trümmern übersät. Der Nachmittagsnebel stellt sich ein, aber wir entrinnen ihm und geniessen die Sonne, welche uns bisher nicht verwöhnte. Es ist eine Freude, aus den düsteren Schatten in den hellen Sonnenschein zu gelangen. Wir hören einen Helikopter, welcher der Wand entlang fliegt, um nach uns zwei « Verrückten » Ausschau zu halten; aber ganz nah bei uns dreht der Pilot ab, um Sicherheit in der freien Luft zu suchen.
Nach mehreren Seillängen verlassen wir den unfreundlichen Riss durch zwei trügerische Spalten, welche eine exponierte Kante umgehen. Wir waren noch nie so nahe bei der Magnone-Route. Auf einem kleinen Standplatz brechen wir Eis in Stücke und machen eine Pause, um es auf einem Kocher schmelzen zu lassen.
Wir erspähen, wie zwei Dachtraufen aufgehängt, eine seltsam vermummte Silhouette aus Spalten, welche parallel der unsrigen verlaufen, aus der Tiefe der Magnone-Route auftauchen. Es ist ein Alpinist. Er sieht uns nicht und klettert in sich gekehrt und weltvergessen. Von unserem luftigen Sitz aus ist es ein Vergnügen, Bergsteiger unter uns zu beobachten! Wenn der Spitzenmann einer Seilschaft seine Kameraden nicht mehr sieht, fühlt er sich mutterseelenallein. Ich war mir dessen nie mehr bewusst als jetzt, wo ich diesen Alpinisten als mein eigenes Spiegelbild betrachte. Schliesslich können wir uns nicht enthalten, ihm zuzurufen.
Er ist sehr überrascht, Stimmen aus einer so unerwarteten Richtung zu hören, und spricht mit seinen Kameraden in einer slawischen Sprache. Es sind Polen. Er antwortet auf unsere Zurufe, 12 Die Alpen- 1967 — Les Alpes177 und wir sehen, dass er einen Rucksack aufzieht. Ein Pickel löst sich und hält nur noch an einer Schnur. Der Pole versteht unsere Handgebärden nicht zu deuten und zieht weiter, aber er hat Glück: der Pickel fällt nicht hinunter.
Wir richten unser Augenmerk wieder auf unser Unternehmen. Am heutigen Tag sind wir lange genug geklettert und lassen uns darum an einem fixen Seil auf eine Terrasse hinab. Der Platz erfordert eine Ausbesserung, und die Architekten machen sich zwischen den Blöcken an die Arbeit. Es ist sogar etwas Schnee vorhanden und damit alles Nötige beisammen, was ein Alpinist zu seinem Glück braucht: ein Berg, ein sicheres Felsband, Schneewasser und ein blauer Himmel.
Ich bin besonders zufrieden, weil sich mein Bein im Laufe des Tages stark gebessert hat. Nach einer wirksamen Massage an diesem Abend werde ich morgen an der Spitze der Seilschaft klettern können. Dass es mir viel bedeutet, als erster zu gehen, mag vielleicht den Laien erstaunen, denn mein Bein bleibt natürlich behindert und wenig leistungsfähig. Doch der Seilführer empfindet Freude und Stolz, und das gibt ihm Auftrieb. Viele Eigenschaften, die das Wesen des Kletterers bestimmen, zeigen sich vor allem bei der Seilschaftsführung.
Nach einer ausgezeichneten Nacht sind wir bereit, den Gipfel ins Auge zu fassen. Die Wettervorhersage lautet günstig, aber Gewitterwolken lassen uns das Tempo beschleunigen.
Mein Bein hat wirklich Fortschritte gemacht. Trotz seiner Schwäche können wir mit der Führung laufend abwechseln, und ich empfinde lebhafte Freude.
Der Helikopter rückt wieder an, kommt in unsere Nähe; Royal photographiert das Flugzeug, während der Pilot seinerseits uns auf die Platte bannt. Wir erfuhren später, dass der Journalist verärgert war: sein ganzer Film weist Bilder von Kletterern auf, welche denjenigen aufnehmen, der sie selbst beim Klettern überraschen wollte. Trotz dieser Schikane geht aber bereits ein entsprechendes Titelbild an die Zeitung, während wir noch auf dem Berg sind. Die journalistische Ausbeute gelingt also trotz unserer Sabotage.
Die Westwand ist endlich durchstiegen, und wir sehen von einem Rastplatz auf dem Pilier Bonatti aus unsere Freunde auf der normalen Route uns entgegenkommen Die Säcke drücken schwer, und mit dem Nachlassen der Spannung fühlen wir uns erschöpft. Wir müssen noch mehrere Seillängen weit auf der Bonatti-Route klettern, bis wir das Quarzband erreichen, wo man zum Absteigen queren muss. Während eines kurzen Überganges, bei dem ich in künstlicher Kletterei vorangehe, reisst meine Seilsschlinge, aber ich fange mich am untern Haken auf.
Wir erreichen das Band, queren und nehmen den Abstieg in Angriff. Nebel hüllt uns ein, es beginnt zu regnen. Bestimmt werden wir heute nicht mehr aus der Wand herauskommen Wir holen zwei Schweizer ein, benützen aber aus Sicherheitsgründen andere Kamine als sie. Je weiter wir uns abseilen, desto besser hören wir die Stimmen unserer Freunde Bev Clark und Lito Flores. Wir erreichen sie zur gleichen Zeit wie die Schweizer, in dem Augenblick, wo das Gewitter losbricht und uns in Dunkelheit hüllt.
Ich entschuldige mich, dass ich sie unnötig bemüht habe; denn mein Bein hat wirklich Fortschritte gemacht. Wir sind jedoch alle zufrieden, dass ich beim Abstieg kein Hemmschuh bin.
Der Regen geht in Schneefall über, und nun beginnt ein Schauspiel elektrischer Entladungen. Wir entdecken zwei Franzosen auf dem Pilier Bonatti, welche sich in sehr ungemütlicher Lage, etwa auf unserer Höhe, befinden. Wir schlüpfen je zu dritt in die Biwaksäcke. Der Blitz schlägt sehr nahe ein, und der Schlag lähmt die Arme derjenigen, welche sich an die Felsen lehnen. Wir sind uns bald darüber klar, dass der morgige Tag sehr verschieden sein wird vom heutigen. Es wird schwierig werden, in Sicherheit abzusteigen. Royal hat seinen Photoapparat auf dem Quarzband liegen lassen und ist verzweifelt darüber. Man schlägt ihm vor, den Apparat am folgenden Tag zu holen, aber er lehnt wegen der grossen Gefahr ab. Nachdem das Gewitter endlich nachgelassen hat, schalte ich meinen Transistor ein, und die Musik ermuntert uns in unserer unmöglichen Lage; doch der Abstieg bereitet allen Sorge.
Am folgenden Tag schneit es noch heftig, und unser Berg ist mit einer kalten, glitschigen Schneeschicht überzogen. Der Abstieg vollzieht sich langsam, und wir sind auf heimtückische Gefahren gefasst. Ich bin jedoch ganz verrückt vor Freude — ausser bei den nassen Abseilstellen. Auf dem Gletscher laufe ich flink wie ein Wiesel und schäme mich fast, eine solche Tatkraft an den Tag zu legen. Unter Jauchzen und Lachen rutschen wir schliesslich am Ende unseres ausserordentlich gefährlichen Abstieges auf dem letzten Hang, der zur Hütte führt, sitzend ab.
Zum Entsetzen unserer Frauen, unserer Freunde, der Fernsehmannschaft und der Journalisten verkriechen wir uns für den Rest des Tages, der Nacht und des nächsten halben Tages in unserer neuen Hütte. Ein Helikopter stöbert uns auf, um uns in diese unglückselige Welt von Vorwürfen, Glückwünschen und Verständnislosigkeit zurückzuführen.
Was bleibt von unseren Leistungen? Eine Spur auf einem Berg? Der Bericht eines Abenteuers? Photos? All das wird vergessen. Nein, es bleibt nichts, denn selbst die Erinnerung verblasst.
Die Gegenwart verdrängt die Vergangenheit. Aber die Zukunft lässt sich nur auf den vergangenen Leistungen aufbauen. Diese Tatsache allein fällt ins Gewicht.
( Aus dem Französischen übersetzt von Jakob Meier )