«Du bist der Einzige, der das gesehen hat»
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«Du bist der Einzige, der das gesehen hat» Dienstleistung hinter den Kulissen

Hans Balsiger arbeitet seit über 40 Jahren im Blinden- und Behindertenzentrum Bern, auch im Auftrag des SAC. Er verschickt die Abzeichen für Neu- und Ehrenmitglieder und hat früher auch Bücher aus dem SAC Verlag versendet. Trotz seiner Einschränkung hat er ein Leben lang gearbeitet und ist finanziell unabhängig. Darauf ist er stolz.

Über der kleinen Sitzbank in der Küche hängen Plakate mit den Aufschriften «Die Post» und «Telecom», die aus Zeiten stammen, als es die PTT noch gegeben hat. Im Wohnzimmer hängt ein Wandtelefon aus Holz, und in einem Buffet bewahrt Hans Balsiger Weissweingläser und Zinnbecher mit dem SAC-Logo auf. Er ist ein leidenschaftlicher Sammler. Viele Stücke sind aber auch Ausdruck seiner Identifikation mit den Auftraggebern des Blinden- und Behindertenzentrums Bern, für das er schon sein ganzes Berufsleben lang arbeitet.

Seit über 40 Jahren verschickt er unter anderem für den SAC die Abzeichen an die Sektionen, die jedes neue SAC-Mitglied erhält. Auch Ehrenmitglieder bekommen Abzeichen, und früher gab es noch welche für die Tourenleiter und für die Mitglieder des Rettungsdiensts oder der Jugendorganisationen. «Ich habe seit Anfang der 1980er-Jahre alle Abzeichen gesammelt», sagt Hans Balsiger. Hinter Glas hat er sie schön angeordnet.

1957 kam Hans Balsiger zusammen mit einer Zwillingsschwester zwei Monate zu früh zur Welt. «Im Brutkasten bekam ich zu viel Sauerstoff, und meine beiden Sehnerven wurden verbrannt», erzählt er. Ob seine stark eingeschränkte Sehkraft zum späteren Unfall geführt hat, ist nicht klar. Mit sechs Jahren fiel er auf dem elterlichen Bauernhof von der Heubühne ins Tenn. Er überlebte den Sturz aus fünf Metern, sah aber fortan praktisch nur noch mit einem Auge.

Besondere Gaben

Wegen der Schmerzen wurde ihm das nahezu blinde Auge später durch ein Glasauge ersetzt. Mit dem anderen Auge sieht er nur etwa 20%. Was kann man mit einer so starken Einschränkung sehen? «Es ist einfacher zu sagen, was ich nicht sehe», sagt Hans Balsiger. Zeitung lesen kann er nicht, und wenn er mit dem Zug unterwegs ist, kann er die Anzeige über dem Perron nicht erkennen.

Aber er hat Gaben, die ihm helfen, das Leben zu meistern. Er kann sich vieles sehr gut merken und jahrelang später wieder in Erinnerung rufen. Hat er einmal an einem Ort eine Toilette aufgesucht, findet er sie auch zehn Jahre später problemlos wieder. Früher habe er rund 90 Telefonnummern auswendig gewusst. Ihm fallen kleinste Veränderungen auf, und niemand kann an seinem Arbeitsplatz eine Palette verstellen, ohne dass er es merken würde. Eines Morgens habe er bemerkt, dass der Direktor im Büro die Bilder abgehängt habe. Hans Balsiger fragte ihn, ob er den Maler bestellt oder gekündigt habe. Letzteres traf zu, und der Direktor meinte: «Du bist der Einzige, der das gesehen hat.»

Null Fehler machen

Seine Fertigkeiten helfen ihm auch bei seiner Arbeit. Direkt nach den obligatorischen Schuljahren in der Blindenschule Zollikofen begann er, im Blinden- und Behindertenzentrum Bern zu arbeiten. Mit 18 Jahren übernahm er den Versand der Milchprobefläschchen für den Fleckviehverband. Später kam der SAC dazu, für den er Abzeichen und weitere Artikel an dessen Mitglieder verschickte. Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre gehörte auch der Versand der Bücher aus dem SAC Verlag zu seinen Aufgaben. «Ich hatte zuvor noch nie Bücher verschickt», sagt er. Die Bücher in den verschiedenen Sprachen auseinanderzuhalten, sei für ihn eine Herausforderung gewesen. «Ich habe einen Weg gefunden», sagt er nicht ohne Stolz und erklärt seinen Anspruch beim Arbeiten: «Mein Ziel ist es, null Fehler zu machen.» Deshalb legt er bei der Arbeit höchste Konzentration an den Tag und kontrolliert alles zweimal. Und er denkt auch an die Adressaten: «Ich packe die Artikel gut ein, damit nichts kaputtgeht und der Empfänger sich darüber freuen kann.»

Hans Balsiger holt ein schwarzes Sackmesser mit dem SAC-Logo und eingraviertem Vornamen aus einer Schublade hervor. Es ist ein Weihnachtsgeschenk vom SAC für die Mitarbeitenden der Geschäftsstelle – und für ihn. Die Zeit, als er den SAC Verlag zu «seinen» Kunden zählte, war intensiv. Nicht nur die Arbeit, auch die Beziehung zur Geschäftsstelle des SAC in Bern, die damals ein knappes Dutzend Mitarbeitende zählte. «Der SAC war wie eine Familie», sagt er. Nach ein paar Jahren ging der Versand der SAC-Bücher an die Gewa, eine Stiftung für berufliche Integration. Hans Balsiger übernahm den Versand des Unterrichtsmaterials PostDoc von der Post.

Seit 35 Jahren ohne IV

Unabhängig sein, trotz seiner Einschränkung, ist für Hans Balsiger wichtig. Als Kind besuchte er die Blindenschule in Zollikofen, wo er auch unter der Woche wohnte. Schon ab der dritten Klasse habe er die Reise von seinem Zuhause in Kirchdorf hin und zurück alleine gemacht. Er führt selbst einen Haushalt und hat sein Leben lang 100% gearbeitet, wobei der Lohn dafür früher nicht zum Leben reichte. Besonders stolz ist er heute deswegen auf seine finanzielle Unabhängigkeit: «Seit 35 Jahren beziehe ich keine IV mehr», sagt er.

In der Freizeit klappert er Brockenstuben ab, schaut fern – dafür hat er einen riesigen Bildschirm im Wohnzimmer – oder reist mit dem Zug durch die Schweiz. «Ich habe auch schon an einem Sonntagmorgen am Flughafen Zürich eine Züpfe geholt», sagt er.

Diesen Monat geht Hans Balsiger in Pension. Sein Alltag war bisher sehr strukturiert: Um 5.20 Uhr steht er auf, trinkt Kaffee, hört Nachrichten, geht zu Fuss zur Arbeit. Gedanken darüber, dass ihm nachher etwas fehlen könnte, macht er sich nicht. «Ich hatte nie Angst vor neuen Lebensabschnitten.» Vielleicht gefalle es ihm als Pensioniertem, dann hätte er sich ja vergebens Sorgen gemacht.

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