Ein Bergdorf wird zum Hotel
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Ein Bergdorf wird zum Hotel Vnà wehrt sich gegen den Untergang

Vor einem Jahr wurde im Unterengadiner Bergdorf Vnà die Ustaria Piz Tschütta eröffnet. Das Gasthaus ist gleichzeitig Kultur- und Begegnungsort. Es soll wirtschaftlichen Aufschwung und nachhaltigen Tourismus in eine Region bringen, aus der die Menschen abwandern.

Sein Gesicht ist braun gebrannt und lächelt freundlich. Vor dem Postauto auf dem Dorfplatz unterhält er sich angeregt mit einem Einheimischen. Ich überlege mir gerade, ob ich ihn unterbrechen darf, da kommt er schon auf mich zu und fragt, wies geht. Chasper Mischol, Maurer und Eselhalter, entspricht so gar nicht dem Bild des wortkargen Alpöhis. Dabei ist er in Vnà geboren, hat immer hier gelebt. Er kennt das 63-Seelen-Dorf wie kein anderer und hat den Wandel hautnah miterlebt. Vnà kämpft wie viele Schweizer Bergdörfer gegen die Abwanderung der Jungen. Seit der vorletzten Jahrhundertwende hat sich die Bevölkerungszahl um zwei Drittel reduziert. Heute ist jeder zweite Bewohner über Projekte für die Wiederbelebung der Bündner Bergdörfer Anfang 2008 ist die Neue Regionalpolitik (NRP) des Bundes in Kraft getreten. Sie will die Wettbewerbsfähigkeit im Berggebiet und in ländlichen Räumen verbessern. Die Hauptverantwortung für die Umsetzung tragen die Kantone. Dabei ist auch Eigeninitiative der einzelnen Regionen gefragt. Beispiele dafür sind der Naturpark ELA, das Biosphärenreservat im Val Müstair und ein geplanter Naturpark rund um den Piz Beverin. Weiter gibt es kleinere Projekte mit neuen Nischenprodukten in der Schaf- oder Ziegenzucht, wie etwa im Val Lugnez.

50 Jahre alt. Die Anzahl Kinder kann man an den Fingern zweier Hände abzählen. Mischol betreibt im Sommer auf seinem Maiensäss Griosch ein Bergbeizli, die Tanna da Muntanella, wo er seine Gäste mit einheimischen Spezialitäten verwöhnt. Mit seinen Eseln führt er Touristen gelegentlich auf eine Trekkingtour. Zwischendurch arbeitet er als Aushilfe für den Postchauffeur zwischen Ramosch und Vnà.

Die Vnàer stehen denn auch grossmehrheitlich hinter dem Projekt. Auch Chasper Mischol findet es eine gute Sache, verspricht sich davon aber nicht «die Rettung von Vnà», wie es in den Medien auch schon dargestellt wurde. Man habe auch vorher in Vnà gelebt, sagt er. Schon früher seien Touristen gekommen und hätten in Zimmern der Einheimischen logiert. Und dass es in Vnà keine Dorfschule mehr gebe, werde das Projekt nicht ändern können: Die Kinder von Vnà besuchen schon seit 45 Jahren die Schule in Ramosch. 

Trotzdem: Es kehrt Leben ins Dorf zurück. Drei Liegenschaften seien von Auswärtigen als Ferienhaus gekauft worden, erzählt Mischol und zeigt auf ein schönes, mit Sgraffito verziertes Engadinerhaus. Ein übergrosser Lastwagen mit einer Saunaeinrichtung auf der Ladefläche versucht gerade, um die Ecke der engen Dorfgasse zu fahren.

Wenig frequentierte Ferienwohnungen seien allerdings nicht das, was man sich in Vnà wünsche, auch wenn die Region vom boomenden Baugewerbe profitiere, meint Christof Rösch, Präsident der Fundaziun Vnà: Es gebe bessere Lösungen: «Vor Kurzem haben einige Private gemeinsam ein Haus in Vnà gekauft, um zu verhindern, dass neue kalte Betten entstehen.» Rösch hofft auf weitere solche Aktionen. Und schliesslich gibt es sogar Neuzuzüger, die sich in Vnà niederlassen, wie etwa die fünfköpfige Familie aus Hinwil ZH, die das Elternhaus von Chasper Mischol mietet. Den freuts. Er sehe gern neue Gesichter, das sei doch interessanter als immer die gleichen Köpfe, schmunzelt er. Integrationsschwierigkeiten oder Kommunikationsprobleme mit den Einheimischen kann er keine ausmachen. Er findet die Zusammensetzung der Bewohner gut, wie sie ist. Ein touristisches Vorzeigedorf wünsche er sich nicht. Vnà sei noch echt, nicht zu einem Freilichtmuseum herausgeputzt, das Dorf lebe. Nicht alle Versuche, abgelegene Talschaften wiederzubeleben, sind erfolgreich. Mitunter gibt es Differenzen im Zusammenleben zwischen Einheimischen und Zugezogenen. Nicht immer goutiert die einheimische Dorfbevölkerung die Ideen von «aussen». Ein Beispiel dafür ist die jüngste Gemeinde der Schweiz, Cavaione im Puschlav, nahe der Grenze zu Italien. Zurzeit leben dort noch fünf Personen. Vor elf Jahren entdeckte eine Firma aus dem Aargau den Ort und gründete die Stiftung Pro Cavaione, die das Dorf mit neuem Leben zu erfüllen suchte. Doch die Bauern aus dem Unterland, die im Ortskern ein Haus bewohnten, hielten es nach sechs Jahren nicht mehr aus, sie fühlten sich von einigen Einheimischen nicht akzeptiert. Darauf wurde die Stiftung wieder aufgelöst. 

Vnà ist ein Biodorf: Alle vier Bauernhöfe produzieren nach den Richtlinien der Knospe. Vnà gilt aber auch als Künstlerort. Zwei Filzerinnen und ein Schnitzer leben hier. Ein Kunstprojekt, das durch das Kulturzentrum Nairs in Scuol zustande kam, sind die bunten rätoromanischen Begriffstafeln, die an vielen Häusern und Ställen im Dorf angebracht sind. Darauf stehen rätoromanische Wörter, wie etwa «trattar» (besprechen) und darunter die Übersetzung in vier Sprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch). Diese kleine Romanisch-Schnupperstunde ist das Werk des appenzellischen Künstlers Hans Ruedi Fricker. Die Tür der Ustaria Piz Tschütta, die am 1. Mai 2008 eröffnet wurde, steht allen offen, einfachen Bauern und Wanderern, aber auch dem anspruchsvollen Gast. Es soll ein breites Zielpublikum angesprochen werden, und so gibt es auch preislich unterschiedliche Zimmerangebote. Dieses Prinzip gilt auch für die Speisekarte. Es gibt günstige Zwischenmahlzeiten für den hungrigen Mountainbiker, aber auch gediegene Abendmenüs für den Geniesser. In erster Linie will die Ustaria Piz Tschütta jedoch ein Begegnungsort sein, wo der Austausch zwischen Gästen und Einheimischen stattfinden kann. Das Haus verfügt neben der Gaststube über 20 Betten und weitere 24 Betten in Häusern bei Familien im Dorf. Weiter gibt es ein Kurslokal für Seminare und kulturelle Anlässe. Kurz nach der Eröffnung hat Urezza Famos, Verwaltungsratspräsidentin der Piz Tschütta AG, interimistisch auch die operative Leitung übernommen, nachdem der erste Geschäftsführer nach nur einem Monat wieder gegangen war. Die Unternehmens- und Kulturberaterin lebt im benachbarten Sent und war als Mitinitiantin des Projekts «Hotel-Dorf Vnà» von Anfang an dabei. Nun ist man auf der Suche nach einer neuen Leitung. Auf sie wartet keine einfache Aufgabe. «Man muss ein relativ kleines Projekt mit einer grossen Idee verbinden», sagt Fundaziun-Präsident Christof Rösch. So müsse etwa dem gastronomischen und dem integrativen Aspekt des Projektes Rechnung getragen werden.

Das Haus Tschütta wurde im 17. Jahrhundert gebaut und steht im Zentrum des Dorfes. Seit 1995 stand es jedoch leer und begann zu verfallen. Die «Tschütta» wurde zum Symbol für ein sterbendes Dorf. Mit der Neueröffnung hat sich das Blatt gewendet: Der Ustaria und dem Dorf wurde neues Leben eingehaucht. Bei der Renovation haben die Architekten Christof Rösch und Rolf Furrer Alt und Neu kombiniert: Die beiden Gaststuben sind original erhalten geblieben, die Einrichtung ist modern. Die Spannung, die sich daraus ergibt, fasziniert. Nicht selten sind es architektonisch interessierte Leute, die der Piz Tschütta einen Besuch abstatten. Nachhaltigkeit wurde grossgeschrieben: Es wurden regionale Materialien verwendet und 95 Prozent der Arbeiten an Unternehmen in der Region vergeben. Die Möbel etwa wurden aus dem Holz des Vnàer Waldes gefertigt.

Allgemeine Informationen

Wandervorschläge rund um Vnà

1.Ins Val Sinestra: Vnà ( 1602 m)–Hof Zuort ( 1711 m)–Griosch–(1817 m)–Pra San Peder ( 1831 m)–Vnà. 3h, 300 m auf- und abwärts, T1.

2.Entlang der Via Engiadina: Tschlin ( 1533 m)–Vnà ( 1602 m)–Kurhaus Val Sinestra ( 1522 m)–Sent ( 1430 m ). 5 h. 400 m aufwärts, 300 m abwärts, T1.

3.Auf die Hausberge von Vnà: Ramosch ( 1236 m)–Vnà ( 1602 m)–Alp Discholas ( 2073 m)– Piz Arina ( 2828 m)–Vnà ( 1630 m ); Variante: Piz Arina–Piz Nair ( 3018 m)–Pra San Peder ( 1831 m)–Vnà ( 1602 m ). 5 h ( Vari ante: 8–9 h ), 1200 m auf- und abwärts ( Variante: 1700 m ), T3 ( –T4 ).

Literatur

Marco Volken, Remo Kundert: Alpinwandern Südbünden, SAC-Verlag, 2007

Hotel Vnà

Die Ustaria Piz Tschütta ist von Februar bis Oktober geöffnet und in den Monaten November und Januar als « Rent a Hotel » mietbar. Telefon 081 860 12 12, info(at)hotelvna.ch, www.hotelvna.ch. Unter www.fundaziunvna.ch finden sich nähere Informationen über die Fundaziun Vnà.

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