Ein Blick auf die Geschichte der Gletscherstudien in der Schweiz
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Ein Blick auf die Geschichte der Gletscherstudien in der Schweiz

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Prof. Dr. L. Rütimeyer ( Section Basel ).

Ein Blick auf die Geschichte der Gletscherstudien in der Schweiz Von Seit den von entlegener Vergangenheit umhüllten Zeiten, da die Alpenländer seßhaften Völkern — und so viel wir wissen, von Anfang an solchen, die sich vorwiegend mit Ackerbau und Viehzucht beschäftigten — zum Wohnsitz dienten, war das von Schnee und Eis bedeckte Hochgebirge, das in Europa Norden und Süden scheidet, notwendigerweise Gegenstand des Studiums der beidseitigen Anwohner. Erst sicherlich Studium einfachster, wenn auch wohl von Opfern, und sei es auch den schwersten, keineswegs ausgeschlossener Art: zur Auffindung und Sicherung von Weg und Steg für Verkehr und Handel; um so mehr, als nach alten Ueberlieferungen die Bewohner Piemonts und der Lombardei mit den Völkerschaften diesseits der Alpen desselben Stammes waren und in stetem Verkehre standen. Aber bald wohl auch Studium intensiverer Art, zu Gewinnung von Baumaterial in Stein und Holz, zu Mehrung der Jagd im Forst und Fluß oder im Gebirg, zu Ausdehnung von Weideplatz und Ansaat. Und wohl auch früh schon Studium noch weitsichtigerer Art, Beachtung von Witterung, von Einfluß der Jahreszeiten auf Wasserlauf und auf Cultur, kurz von Ereignissen, die nicht augenblicklich, aber um so nachhaltiger auf den Besitz und das Behagen der Bewohner einwirkten.

„ Es ist nicht zu bezweifeln, " schreibt der Nestor der gegenwärtigen Alpenkenntniß* ), „ daß damals schon, durch eigene Ansicht oder Tradition, viele Bewohner eine Kenntniß des Landes und seiner Naturverhältnisse besitzen mußten, die, ohne durch Karten, Abbildungen und geschriebene Werke festgestellt zu sein, wohl nicht tiefer stand, als diejenige vieler jetzt lebender Schweizer, wohl eher sie übertreffen mochte. Auch die Rothhäute Nordamerikas sind mit ihrer Umgebung besser vertraut, als die Bewohner von New-York oder Quebeck. Eine solche Landeskenntniß bleibt aber persönlich, sie ist das mühsam erworbene Eigenthum Einzelner oder beschränkter Kreise und geht mit dem Absterben derselben meist wieder verloren. Nur was in Schriftwerken dauernd niedergelegt ist. und auf die Nachwelt übergeht, kann als menschliches Gemeingut, als Theil des großen Gebäudes höheren Wissens betrachtet werden, das jede Generation der Culturvölker möglichst vergrößert und verbessert der folgenden zu überliefern strebt. "

Von den Schnee- und Eisfeldern, als dem bedeutungsvollsten und für Lebensweise und Wohlstand der Bewohner folgenreichsten Merkmal des Alpenlandes, ist daher mindestens Notiz zu finden bei den ersten Geographen, deren Gesichtskreis sich über den Schauplatz der antiken Culturvölker Europas hinaus erstreckte. Ganz abgesehen von dem denkwürdigen Kriegszug, der schon im Frühling des Jahres 218 vor Christus afrikanische Völkerschaften unter der Führung Hannibals mit der Schneeregion der Alpen vertraut gemacht hatte, erzählt schon — und zwar aus eigener Anschauung — der griechische Historiker Polybius, Scipionis Africani, des Besiegers Hannibals, Schulmeister, wie ihn unser älteste einheimische Geograph, Gilg. Tschudi, nennt, von den Alpen als von einem mit immerwährendem Schnee bedeckten Gebirge, über welches nichtsdestoweniger schon damals vier Straßen führten, und von dem Rhodanus, als einem der größten Flüsse, der oberhalb des adriatischen Golfs auf der Nordseite der Alpen entspringe und von den Ebenen des Po durch die Alpenkette geschieden sich gegen Südwest in das Sardinische Meer ergieße.

In der Schweiz selbst knüpfen sich die ersten Bemühungen um die vaterländische Erd- und Naturkunde bekanntlich an die wissenschaftliche Anregung, die einmal von der im Jahr 1460 gestifteten Universität Basel ausging, wo sich Glarean, Myconius, die beiden Platter, Bauhin und Andere mit Landeskunde beschäftigten, und im sechszehnten Jahrhundert an die bis auf den heutigen Tag bedeutsam gebliebenen Arbeiten des größten Naturforschers damaliger Zeit, Conrad Gesner in Zürich.

Immerhin war zu jenen Zeiten das Gebiet des ewigen Schnees, weit entfernt, ein Gegenstand allgemeinen Interesses zu sein, von Allen, die es konnten, sorgfältig gemieden und wurde nur in geographischem und zwar in höchst allgemeinem Sinn in Betracht gezogen. Die aus dem sechszehnten Jahrhundert stammenden ersten Entwürfe zu Alpenkarten, von Gilg. Tschudi und von Sebastian Münster, geben hievon deutliches Zeugniß, und wo den topographischen Darstellungen des Eisgebietes etwa doch Excurse über die Gletscher beigefügt werden, wie etwa in der Beschreibung des Wallis von Sebastian Münster ( 1543 ) oder in dem Tractat über die Alpen von Josias Simler ( 1574 ), so fallen dieselben meist sehr kurz aus und befassen sich viel mehr mit den Gefahren, die in diesem gefürchteten Gebiete den Reisenden bedrohen, als mit Darstellung des Sachverhaltes. Ja bis tief in das achtzehnte Jahrhundert hinein hielt diese Scheu vor dem eigentlichen Eisgebiete an. Selbst der Physiker Joh. Jac. Scheuchzer, der Verfasser der besten Schweizerkarte des achtzehnten Jahrhunderts und bis auf H. B. de Saussure sicher der beste Kenner der Alpen, hält sich auf seinen zahlreichen und der wissenschaftlichen Landeskunde ganz speciell gewidmeten Alpenreisen ( 1702-10 ) sorgfältig an den üblichen Weg und Steg, und wenn sich auch an seinen und seines Neffen Joh. Heinr. Hottinger's Namen ( Montium glacialium helveticorum descriptio 1703 ) eine weit verbreitete Theorie über die Ursache der Gletscherbewegung knüpft, so spielen doch in den Capiteln, die Scheuchzer den Gletschern widmet, allgemeine Erörterungen über etwaige Wärmetheorien von Aristoteles an, und medicinische Excurse über die Wirkung des Gletscherwassers eine größere Rolle als die physikalische Beobachtung der Gletscher selbst. Es erklärt sich dies auch leicht aus dem Umstand, daß rasche Reisen zu letzterem Zweck nicht ausreichten und längerer Aufenthalt auf Gletschern mit vielen Mißlichkeiten verbunden war. Immerhin ist durch Scheuchzer das Eisgebiet der Alpen als ein Object nicht nur der Topographie, sondern auch der Naturgeschichte und der Physik anerkannt und sein Studium gewissermaßen in das Register wissenschaftlicher Probleme eingetragen worden. Nur im Vorbeigehen sei daher hier mindestens bemerkt, daß die bis auf den heutigen Tag im Vordergrund der wissenschaftlichen Discussion gebliebene Frage nach der Ursache der Eisbewegung von Scheuchzer und Hottinger durch Ausdehnung des in die Gletscherspalten dringenden und daselbst gefrierenden Wassers gelöst wird.

Dem Gepräge dieser Erstlingsarbeiten über Gletscher, Verzicht auf viele eigene Beobachtung bei noch so fleißigem Sammeln fremder Berichte, sei es aus älterer Litteratur, sei es durch Erkundigung an Ort und Stelle, folgt auch noch die an sich vortreffliche und sehr besonnene Zusammenstellung, welche der bernische Pfarrer Joh. Georg Altmann im Jahr 1750 in seinem „ Versuch einer historischen und physikalischen Beschreibung der helvetischen Eisgebirge " der damaligen Gletscherkenntniß widmet. Wie sehr noch zu dieser Zeit, trotz allen litterarischen Fleißes, die Eisregion eine terra incognita war, zeigt namentlich der hauptsächlich von dieser Arbeit ausgegangene Bericht, dessen Nachklang sich ja bis in die Sprache unserer Zeit erhalten hat, daß die Gletscher nur Ausflüsse eines über einen großen Theil der Alpen ausgedehnten gemeinsamen Eismeeres seien, ähnlich wie dies schon damals aus den Polarregionen berichtet wurde.Von dem bernischen Arzt Dr. Wolfgang Christen wurde dann diese Mähr in seiner „ Description des Glacières ou pour mieux dire de la Mer glaciale qui se trouve dans les Alpes de la Suisse " sogar dahin bestätigt, daß dieses vollkommen flache Eismeer einen Umfang von 500 Meilen und an der Grimsel eine Tiefe von 1500 Klafter habe. Eine Berichtigung erhielt zwar diese abenteuerliche Sage schon bald durch eine neue Monographie des Eisgebietes, die der Altmann'schen auf dem Fuße folgte, von Gotth. Sigm. Grüner, bernischem Fürsprech: „ Die Eisgebirge des Schweizerla'ndes. 1760. " Auch Grüner hat zwar von dem Alpengebirge wenig-eigene Anschauung, was man doch aus seiner Versicherung ( I, pag. 117 ) schließen kann, daß dem Roththal hinter der Jungfrau, „ einer der fürchterlichsten und wildesten Gegenden unseres Erdtheils, da heut zu Tage weder Menschen noch Vieh hinkommen, noch hinkommen können, seit Herrn Dr. Christen kein Gelehrter so nahe gewesen sei, noch jemals so nahe kommen werde; und daß man von dem Wege über Ammerten nach dem Frutigthal gewiß keine umständlichere Nachricht als von ihm werde zu verhoffen haben, weil durch die hinuntergefallenen Felsen und durch die angewachsenen Gletscher dieser Durchgang beinahe unmöglich gemacht sei. "

Auch die von Grüner ( III, 3 ) gegebene Eintheilung der Gletscher in „ Gletscherberge, die sich zwischen den Eisbergen selbst wie hohe Berge aufthürmen, die aber in ihrem ganzen Stoff aus purem Eise bestehen und keine Felsen zum Grunde haben, ferner in Eisschründe, in Eiswände und in Eislagen, " auf deren besondere Definirung wir hier verzichten, spricht nicht von sehr genauer eigener Beobachtung, obschon er „ dem Ursprung aller dieser verschiedenen Eisgebiete in einem langen Capitel betrachtend nachgeht " und für die Bewegung der Gletscher eine breite physikalische Erklärung, durch Gefrieren des Schmelzwassers des überliegenden Schnees, beifügt. Dennoch hat Grüner durch Erkundigungen aus fremder Hand die Topographie des Gletschergebietes bedeutend erweitert, und sein Buch, das mit Karten und mit Abbildungen, selbst aus dem Innern des Eisgebietes ( Lauteraargletscher etc.z.T.h. freilich für uns ziemlich fremdartig „ nach der Natur " gezeichnet — reicher als seine Vorgänger ausgerüstet ist, war für lange Zeit die fleißigste Zusammenstellung über das Alpengebirge* Der Altmann'schen Ansicht von einem Zusammenhang aller Gletscher tritt er wiederholt entgegen und findet^ daß weit eher die Gletschergebiete von Norwegen und Schweden als das Eisgebiet des Polarkreises mit der Eisregion der Alpen zu vergleichen seien.

Erst am Ende des vorigen Jahrhunderts wagt es die Beobachtung ernstlich, ihren Fuß auf das Eis selbst zu setzen. In erster Linie zwar wiederum zunächst nur zu topographischen Zwecken und zu Höhenmessungen. Ein rühmliches Zeugniß hiefür geben die um diese Zeit entstandenen und noch erhaltenen Beliefs des Alpenlandes, wie das in Luzern aufbewahrte von General Ludw. Pfyffer über die mittlere Schweiz und die von Eugen Müller aus Engelberg herrührenden, die erst das Hochgebirge von Unterwaiden und später fast das ganze Alpengebiet darstellten. In Kartenform sind die Ergebnisse dieser Arbeiten niedergelegt in der auf Kosten von J. R.M.eyer in Aarau, des bekannten ersten Ersteigers der Jungfrau, von J. H. Weiss ausgearbeiteten Landkarte der Schweiz in 16 Blättern ( 1796—1801 ), bis auf die sogenannte Dufour-Karte die beste Darstellung des Alpengebirges.

Aber auch das Studium der Gletscher an sich, als eines großartigen physikalischen Phänomens, nahm um diese Zeit einen bedeutenden Aufschwung und veranlaßte eine ganze Anzahl von Reisen in das Innere der Eisregion. Dahin gehören namentlich diejenigen der Genfer L. Bordier und Theod. Bourrit, welche hauptsächlich die Eisgebiete von Savoyen und Wallis besuchten und in wohlbekannten Reisewerken ( 1773 bis 1785 ) beschrieben, die durchweg auch einen offenen Sinn für physikalische Erklärung der geschilderten Naturwunder verriethen. Bekanntlich führte Bourrit auch eine der ersten Montblanc-Besteigungen aus.

In dieselbe Zeit fallen zwei unter sich zwar sehr verschiedene Arbeiten, welche beide man aber doch als die Anfänge einer auf eigener Beobachtung fußenden Untersuchung des Gletscher - Phänomens bezeichnen kann. Die eine, im Jahr 1787 in Höpfners Magazin für die Naturkunde Helvetiens erschienen, beschränkt sich auf einen kurzen Aufsatz, „ Versuch über den Mechanismus der Gletscher " betitelt, der keineswegs von einem Physiker, sondern von dem helvetischen Minister Bernh. Friedr. Kuhn aus Bern herrührt. Auf Grund von Beobachtungen in Grindelwald, wo er als Sohn des dortigen Pfarrers aufgewachsen, beschreibt Kuhn in kurzer aber scharfer Weise die wichtigsten Erscheinungen der Gletscherstructur, erklärt die Gletscherbewegung durch den Druck, den die höhern Schneemassen auf die in der Tiefe allmälig in Eis übergehenden ausüben, und erörtert auch die Entstehung der Moränen, aus deren Vorschiebung, weit über das jetzige Eisgebiet hinaus, er auf eine einstige ungewöhnlich große Ausdehnung der Gletscher schließt. Das größte Maß derselben setzt er an das Ende des sechszehnten Jahrhunderts. Trotz ihres geringen Umfanges ist also diese Arbeit in Wahrheit eine vollständige Gletschertheorie zu nennen, in welcher bereits auch Consequenzen der Gletscherbewegung, die erst weit später Gegenstand besonderen Studiums wurden, mit Sicherheit erkannt sind.

Die andere dieser Fundamentalarbeiten ist niedergelegt in den weit berühmter gebliebenen Alpen-Eeisen von Horace Benedict de Saussure, des Begründers der Physik und der Geologie des Alpengebirges und der alpinen Meteorologie. Saussure's Anschauungen über das Wesen der Gletscher finden sich in dem 1779 erschienenen ersten und im vierten Band ( 1796 ) seiner Reisen, der auch seine Besteigung des Mont-Blanc ( 1787 ) und seinen Aufenthalt auf dem Col du Géant im Jahre 1788 schildert. Bezüglich der Gletscherbewegung kommt Saussure auf dieselbe Erklärung 25 wie Kuhn. In der Darstellung der Moränenbildung und der weitern Consequenzen dieser Erscheinung steht er indessen hinter Kuhn zurück.

Von Gletscherreisen, die um des bloßen Reizes der Neuheit willen oder im Interesse der allgemeinen Landeskenntniß unternommen wurden, können wir nach Berührung dieser ersten in Absicht eines speciellen Gletscherstudiums unternommenen Arbeiten fürderhin absehn. Immerhin ist es für die Popularität, die dieser Gegenstand gewonnen, bezeichnend, daß schon zu dieser Zeit Reisewerke, die durchaus nicht vorzugsweise einem wissenschaftlichen Publikum gewidmet waren, gerne längere Excurse über die Natur der Gletscher beifügen. Aus einer solchen Darstellung, die der französische Baron Ramond, der erste Besucher der Pyrenäen-Gletscher, den zuerst 1789 erschienenen „ Travels in Switzerland " von William Coxe beifügte, entnehmen wir nur den Bericht, daß schon zu dieser Zeit, und zwar auf Veranlassung des französischen Gesandten Hennin in Genf — und wohl angeregt durch die Vermuthung Ramonds, daß eine fortschreitende Vereisung des Hochgebirges in sicherer Aussicht stehe — mit Hülfe von in Gletscherspalten eingesetzten Tannen Messungen über das Vorrücken der Gletscher im Faucigny angestellt wurden.

Auf den eben geschilderten eifrigen Anlauf, den das Interesse am Eisgebiet hauptsächlich in dem vorletzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts genommen, folgt nun, mindestens in der Literatur, ein merkwürdiger Stillstand. Weder in naturhistorischen Werken, wo man die Behandlung dieser Frage erwarten sollte, wie etwa in dem damals bedeutenden Buche Ebels über den Bau der Erde im Alpengebirge ( 1808 ), noch in der trefflichen, von 1805 bis 1827 fortgesetzten und der genauen Kenntniß der Alpen speciell gewidmeten Zeitschrift „ Alpina " von Salis und Steinmüller, noch in Ebels von 1793 an bis weit in das gegenwärtige Jahrhundert herrschenden „ Anleitung, die Schweiz zu bereisen ", geschieht der Gletscher irgend besondere Erwähnung. Geologie, Zoologie und Botanik, besonders in ökonomischer Rücksicht, scheinen während dieser Zeit jene physikalischen Fragen verdrängt zu haben. Sogar das 1817-1823 geführte Bulletin der Schweizerischen naturforschenden Gesellschaft ( Naturwissenschaftlicher Anzeiger, von Prof. F. Meisner in Bern ) ist an Bemerkungen über dieses Thema fast gänzlich leer.

Dennoch ist es diese Gesellschaft, welche die Untersuchung der Gletscher von Neuem in Fluß brachte und damit die Periode von glänzenden Arbeiten einleitete, welche bis auf den heutigen Tag, trotzdem es ja an Gletschern in andern Ländern keineswegs fehlt, die Schweiz zum classischen Boden für die Gletscherstudien der Gelehrten aller Länder gemacht haben. Bei ihrer Jahresversammlung in Zürich 1817 stellte sie die Preisfrage auf: Ist es wahr, daß die hohen schweizerischen Alpen seit einer Reihe von Jahren rauher und kälter geworden sind? wobei unter den in Rücksicht zu nehmenden Gesichtspunkten Beobachtungen über Vergrößerung oder Verminderung und die Aufsuchung der alten Grenzen gewisser Gletscher, mit Hülfe der Steintrümmer, die sie vor sich herstoßen, besonders namhaft gemacht wurden. Von zwei eingelangten Arbeiten erhielt im Jahr 1820 den Preis von 300 Fr. eine Abhandlung des bernischen Oberförsters K. Kasthofer in Unterseen, die von dem Verfasser unter dem Titel: „ Betrachtungen über die Veränderungen in dem Clima des Alpengebirges ", dessen Reise über den Susten, Gotthard etc. 1822 beigedruckt ist. Die Arbeit Kasthofers befaßt sich vorwiegend mit der Untersuchung der Vegetationsgrenzen in den Alpen und den Mitteln, dieselben durch Cultur auszudehnen oder mindestens festzuhalten. Bezüglich der Gletscherfrage begnügte sie sich in physikalischer Beziehung mit dem Hinweis auf die Arbeiten von Saussure und Kuhn und widmet nur den Lawinenverheerungen eine nähere Besprechung. Am einläßlichsten ist, da genaue Zeit- und Maßangaben über Wachsthum und Abnahme verschiedener Gletscher fehlten, die Verwilderung der Hochalpen im Canton Bern besprochen, worüber ein sehr reiches Material von Beobachtungen geliefert wird Immerhin kommt der Verfasser zum Schluß, daß einmal in dem Vorrücken und dem Rückzug der einzelnen Gletscher wenig Uebereinstimmung bestehe und daß kein Beweis da sei, daß die Gletschermassen auf den hohen Alpen seit Jahrtausenden sich vermehrt, wohl aber, daß sie sich tiefer und weiter ausgebreitet hätten, was aber nichts für eine Abnahme der Temperatur beweise.

In der nämlichen Jahresversammlung in Genf, wo die Kasthofer'sche Arbeit den Preis erhielt, wurde dann die Frage, doch in der Hoffnung präciserer Resultate nun folgendermaßen formulirt, von Neuem ausgeschrieben: Eassembler des faits exactes et bien observés sur l' ac et la diminution des glaciers dans les diverses parties des Alpes, sur la détérioration ou l' améliora de leurs pâturages, sur l' état antérieur et actuel des forêts. Als Antwort erschien im Jahr 1822 eine Arbeit von dem Straßeninspector des Cantons Wallis, J. Venetz: „ Mémoire sur les variations de la température dans les Alpes de la Suisse ". Sie wurde mit dem gleichen Preis gekrönt wie die frühere von Kasthofer und beide auf Kosten der Gesellschaft veröffentlicht. Ganz verschieden von der trefflichen, aber vorwiegend vom Standpunkt des Forstmannes aus behandelten Schrift Kasthofers, beschäftigt sich Venetz fast ausschließlich mit Beobachtungen über das Wachsen und Abnehmen der Gletscher. Er bemerkt, daß die Schneelinie im Jahr 1811 sehr viel höher war als 1821 und in den Jahren 1815, 1816 und 1817 um einige hundert Fuß herabgestiegen sei. Viele Thatsachen werden angeführt, welche beweisen, daß vormals die Temperatur gelinder war, daß aber doch in sehr viel frühern Zeiten die Temperatur niedriger gewesen sein muß als jetzt. Hiefür sprechen besonders die Moränen, welche weit über den jetzigen Fuß der Gletscher hinausreichen. Hierüber werden namentlich aus den Thälern von Wallis und Piémont eine Menge sehr genauer Beobachtungen beigebracht und daraus der Schluß gezogen, daß die Ab- und Zunahme von Kälte und Wärme und das dadurch bewirkte Vorrücken und Zurückweichen der Gletscher periodischen Veränderungen unterworfen sei; daß wir gegenwärtig ( 1821 ) am Ende einer solchen kältern Periode stehen und daß es nicht wahrscheinlich sei, daß die Gletscher so bald wieder zu der Größe gelangen werden, wie sie vor vielen Jahren, aus den hinterlassenen Spuren zu schließen, gewesen sind.

Wie schon angedeutet, war mit dieser Arbeit, welche in einem Umfang von nicht mehr als 38 Seiten eine Menge von höchst wichtigen und scharf aufgefaßten Thatsachen in richtiger Combination zusammenstellte, der Gletseheruntersuchung nicht nur ein neuer Impuls, sondern ein bisher nur höchst unsicher, am schärfsten noch durch Kuhn angedeuteter neuer und gewaltiger Hintergrund gegeben: die antiquarische, man möchte sagen die paläontologische Seite, d.h. die Prüfung vorhistorischer Gletscher auf Boden der von ihnen hinterlassenen Spuren. Also das Gebiet, das seither, durch Zusammenwirken der Naturforscher aller Länder und jeden Faches, Geologen, Botaniker, Zoologen, Physiker und Astronomen, die Einsicht in jene früher ungeahnte Categorie von Erdgeschichte eröffnet hat, die man heutzutage in der Alten und Neuen Welt, in der nördlichen und südlichen Hemisphäre erst mit dem Titel Eiszeit und bald darauf mit dem Titel Eiszeiten bezeichnete.

Aber auch die physikalische Untersuchung gegenwärtiger Gletscher wurde damit, da ja von ihr jede Erklärung jener eben angedeuteten großen Erscheinungen der Vorzeit immer ausgehen mußte, auf einmal auf ein hohes Piédestal und man möchte sagen auf eigene Füße gestellt, da sie von nun an als eine Aufgabe für sich auftrat und nicht mehr nur als ein Appendix von Topographie und Meteorologie behandelt werden konnte.

Hiemit treten wir in die bedeutsame Phase des Gletscherstudiums, welche während Jahrzehnten das Augenmerk der gesammten Naturforschung so intensiv auf die Eisregion der Schweiz gezogen hat, als es gegenwärtig auf die jetzt ähnlich wie früher die Schweizeralpen umworbenen Eisgebiete der arktischen Zone gerichtet ist.

Einer Gesellschaft von 2500 Schweizern, die sich „ Alpen-Club " nennt und sich in erster Linie ( 1 ihrer Statuten ) die Aufgabe gestellt hat, „ das schweizerische Hochgebirgsland allseitig genauer zu erforschen ", diese Epoche des Gletscherstudiums, die in die persönliche Erinnerung der Mehrzahl ihrer Mitglieder fällt, schildern zu wollen, könnte entbehrlich und sogar als ein Mißgriff erscheinen. Nur der Umstand, daß sich dieser Verein zuerst im Jahre 1869 und nach mannigfachen Wechselfällen im Jahre 1880 von Neuem entschlossen hat, den in Rede stehenden Problemen nicht fern bleiben zu wollen, kann und muß sogar verpflichten, die historische Darstellung bis auf die Gegenwart fortzuführen, so mißlich es auch erscheinen mag, Arbeiten wie die von Hugi, Charpentier und Agassiz, von Escher von der Linth, Desor und Ch. Martins, von Bernhard Studer, Alphonse Favre, Peter Merian, A. Mousson und Dollfus-Ausset, von Schlagintweit, J. Forbes, Tyndall und so vieler Anderer nur kurz und nur in historischem Lichte zu schildern.

Zu diesem Zwecke wird es von jetzt an passend sein, die Gletscherfrage, da sie, wie schon bemerkt worden, unter der Form der Frage nach den Eiszeiten ihr Licht und ihre Schatten so ziemlich auf die Gesammtheit der verschiedenen Gebiete von Naturforschung, selbst Menschengeschichte keineswegs ausgenommen, ausgedehnt hat, auf ihren immer noch ansehnlich genug gebliebenen ursprünglichen Kern zu concentriren. Wir sehen daher in dem Fernern ab von der gesammten paläontologischen Seite der Untersuchung, womit sich noch gegenwärtig, und eifriger als je, Geographie und Geologie, Botanik, Zoologie und Anthropologie, ja auch Meteorologie und Astronomie beschäftigen. Selbst die speciell physikalischen Untersuchungen der Gletschererscheinung werden wohl passend, da sie sofort in dem bloßen Zuschauer von wissenschaftlicher Arbeit rauhe Gebiete führen würden, nur beiläufig berührt.

Bemerkt sei nur, um den historischen Faden wieder aufzunehmen, daß die große Theilung der Arbeit, die sich seit längerer Zeit vollzogen hat, bei der schon geschilderten Wiederaufnahme der Aufgabe, wenn auch ziemlich rasch, so doch keineswegs auf einmal zu Stande kam. Die neuere Geschichte des speciellen Gletscherstudiums theilt sich demnach von vornherein in zwei, wenn auch zeitlich kaum getrennte Abschnitte, von welchen der eine passend durch die Namen von Charpentier und Agassiz, der andere durch diejenigen von Forbes und Tyndall markirt wird. Die beiden ersten verfolgten noch gleichzeitig die physikalische und die geologische Seite der Frage, während die englischen Physiker ihre Arbeit streng auf ihre besonderen Ziele einschränkten.

Eine höchst interessante Episode, man darf sie wohl als ein Bindeglied zwischen der älteren, fast romantischen, und der neueren, streng wissenschaftlichen Auffassug der Aufgabe ansehen, bilden in der Geschichte des vorliegenden Problems die Arbeiten des solothurnischen Geistlichen F. J. Hugi. Fast ganz allein stehend, aber durch Berührung mit der naturphilosophischen Schule Schellings mit ungewöhnlicher Begeisterung für Naturstudien ausgerüstet, legte er im Jahre 1830 der naturforschenden Gesellschaft in Solothurn unter dem Titel: „ Naturhistorische Alpenreisen das Ergebniß einer Anzahl von Reisen in die Berner- und benachbarten Alpen vor, auf welchen er mit wunderbarer Energie Geologie, Meteorologie und Physik der Alpen und vorzugsweise des Gletschergebietes gleichzeitig zu seinem Augenmerk gemacht hatte. Der Plan seiner Aufgabe war also so umfassend als derjenige Saussure's, wenn auch die Ergebnisse in Folge weit geringerer Ausrüstung an äußern und innern Hilfsmitteln mit denjenigen des Letztern nicht von fern zusammengestellt werden dürfen. Immerhin war Hugi nach Saussure der Erste, der wieder mit einem ganzen Apparat von physikalischen Instrumenten bewaffnet sich an längere Aufenthalte auf Gletschern, selbst im Winter, wagte und an kühnen Bergbesteigungen ( Finsteraarhorn ) hinter dem sorgfältigen Genfer um nichts zurückblieb. In Thun, Unterseen, Lauterbrunnen und Grindelwald wurden Barometer und Thermometer zu Vergleichung mit den im Gebirge selbst .gemachten Beobachtungen aufgestellt. Große Sorgfalt wurde auch der Construction von Apparaten zur Bestimmung der Siedhitze des Wassers in verschiedenen Höhen zugewendet und auf zahlreichen, zum Theil selbst im Winter ( 1832 ) ausgeführten Gletscherreisen ( „ Ueber das Wesen der Gletscher und Winterreise auf das Eismeer. " 1842 .) eine große Menge von Versuchen über die Structur des Eises in allen Höhenlagen der Gletscher angestellt.

Auch dem Operationsplan, den Hugi den Gletscheruntersuchungen im Besondern zu Grunde legte, kann ein Charakter von Größe nicht abgesprochen werden, der sicher auf die Arbeiten von Agassiz nicht ohne Einfluß blieb. Auf dem Unteraar-Gletscher wurde ( 1827 ) eine Standlinie von etwas über eine halbe Stunde Länge gemessen, an welche sich ein das ganze Gebiet dieses Gletschers und seiner Zuflüsse umfassendes trigonometrisches Netz anschloß, und Signalpunkte zur Abmessung der Gletscherbewegung wurden versichert. Auf einer kleinen Karte vom Haslithal bis zur Gemmi wurde die Firnlinie oder die Grenze zwischen Firn und Gletscher eingetragen u. s. f.

Wenn so umfassende Vorarbeiten von geringerem Erfolg begleitet waren, als zu erwarten war, so lag dies an dem Umstand, daß einmal zu mannigfaltige Absichten gleichzeitig verfolgt wurden, und daß andererseits physikalische Speculationen, welchen Hugi nicht gewachsen war, seine Aufmerksamkeit mehr in Anspruch nahmen, als die viel wichtigeren einfach technischen Aufgaben. Immerhin enthalten Hugis Schriften eine Fülle von werthvollen Beobachtungen, deren Früchte freilich größerntheils Andern zufielen. lieber den Kern der Frage, die Ursache der Eisbewegung, gelangte er schließlich zu Ansichten, die trotz vielfach guter Grundlage doch die Fesseln exacter Wissenschaft sprengten. Ausgehend von der Wahrnehmung, daß die von ihm wohl beachteten Körner des Eises von den Firngebieten nach tiefer gelegenen Regionen der Gletscher immer an Volumen zunehmen, schrieb er dies nicht mechanischen, sondern innern Aggregatsverände-rungen durch Temperatur und chemischen Verkehr mit der Atmosphäre zu, die er schließlich mit Vorgängen in der organischen Natur zusammenstellte. Auffallender ist, daß Hugi, dessen Reisen eine große Zahl von wichtigen geologischen Beobachtungen in den Alpen zu verdanken ist, sich der Erklärung der erratischen Erscheinungen durch frühere größere Ausdehnung der Gletscher stetsfort vollkommen feindlich gegenüberstellte.

Wenn wir uns den unmittelbar auf Hugi folgenden Arbeiten von Charpentier und Agassiz zuwenden, so ist schon bemerkt worden, daß sie gleichzeitig der Untersuchung der Gletscher selbst und derjenigen des erratischen Phänomens zugewendet sind. Bei J. Charpentier, dem Director der Salinen von Bex, ist die erste der letztern sogar untergeordnet. Angeregt durch die Beobachtungen von Venetz äußerte er zuerst 1834 vor der Schweiz. Naturf. Gesellschaft in Luzern seine Zustimmung zu dessen Ansichten, soweit sie sich auf die Alpenthäler beziehen. Im Jahre 1841 stellte er dann seine fernem, während einer langen Reihe von Jahren im Rhonethal und in Chamounix gesammelten Beobachtungen über diesen Gegenstand in seinem „ Essai sur les Glaciers " zusammen, welcher den Anfang der glänzenden Literatur über die Gletscher der Schweiz bildet. Der erste Theil des Buches ist einer allgemeinen Darstellung der Gletscher als Be-wegungsmittel für Schutt gewidmet, wobei die Bewegung durch Gefrieren und Ausdehnung des eindringenden Wassers erklärt wird. Der zweite, weit umfangreichere Theil behandelt das erratische Terrain. Das Hauptergebniß ist die beigelegte Karte, welche auf Boden dieser Beobachtungen die einstige Ausdehnung des Ehonegletschers bis in die Thäler des Jura und im Thal der Aare bis in die Gegend von Solothurn skizzirt.

Auch L. Agassiz hatte schon 1837 an der Versammlung der naturforschenden Gesellschaft in Neuchâtel — und wesentlich in Folge eines im Jahre vorher gemachten längeren Aufenthaltes bei Charpentier — seine Zustimmung zu den Ansichten von Venetz ausgesprochen, wenn auch unter allerlei von Charpentier bekämpften Vorbehalten. Seine eigenen Beobachtungen veröffentlichte er zuerst 1840 in den „ Etudes sur les Glaciers ", begleitet von einem Atlas von 32 Foliotafeln, welchen 1847 „ Nouvelles Etudes " oder „ Système glaciaire ", ebenfalls mit Atlas, folgten. Wir resümiren seine Untersuchungen kurz in Folgendem. In Begleitung von E. Desor waren 1838 die Eisgebiete des Berner Oberlandes, des Wallis und von Chamounix besucht worden. In die Jahre 1840—44 fielen sodann die längern Aufenthalte auf dem Aargletscher, welche seinem dortigen Standquartier einen bleibenden Namen in der Wissenschaft erworben haben, da dasselbe bald ein Anziehungspunkt nicht nur für die Mehrzahl schweizerischer Geologen, wie Desor, C. Vogt, B. Studer, P. Merian, A. Escher, Guyot u. s. f., sondern auch für eine Menge ausländischer Gelehrter wurde, die sich dort entweder als Mitarbeiter oder als Zuschauer einfanden. Alles das ist durch die trefflichen Berichte, welche Desor in seinen „ Excursions et séjours sur les glaciers " darüber veröffentlicht hat, viel zu bekannt geworden, um hier besonders erwähnt zu werden.

Halten wir uns nur an die Darstellung seiner Methode, so erkannte auch Agassiz nach einer Anzahl von Jahren, in welchen über Structur und physikalische Erscheinungen an Gletschern durch Experimente aller Art ein großer Vorrath von Erfahrungen gesammelt worden war, so gut wie Hugi als wichtigste Aufgabe die Verzeichnung der graphisch darstellbaren Veränderungen auf einer Karte. Namentlich erschien dies unvermeidlich für Constatirung der wichtigsten aller Erscheinungen, der Bewegung, sowie auch der Ab- und Zunahme des Volumens, welche durch trigonometrische Aufnahme und consecutive Messung von Felsblöcken oder in das Eis gerammten Pfählen bis in viele Details, je nach Localität und Höhe, ferner nach Jahres- und Tageszeit beobachtet worden war. Die Bewegung des Eises nach der Tageszeit war an der Hand von Pfählen fast während eines Monats durch tägliche zweimalige Messungen festgestellt worden. Gleichzeitig hatte auch A. Escher von der Linth ähnliche Beobachtungen am Aletschgletscher vorgenommen. Da sich zu diesem Zwecke die von Hugi entworfene Karte des Aargletschers als unzureichend erwies, so wurde sie auf Boden einer neuen Triangu- lation von dem Ingenieur Wild von Zürich im Maßstab von 1: 10000 neu hergestellt, und in dieselbe nicht nur eine Anzahl von Fixpunkten am Ufer, sondern namentlich eine Anzahl von Blöcken auf dem Eis und von in Querlinien über den Gletscher vertheilten Pfählen eingetragen, deren relative Bewegung abgemessen worden war. Ein Querband von 150 Meter Länge wurde mit allen Details der Spaltenbildung und Oberflächenbeschaffenheit anderer Art sogar im Maßstab von 1: 2000 aufgenommen, um daran auch die kleinsten Veränderungen constatiren zu können.

Wie bemerkt, war es neben der eminenten wissenschaftlichen und literarischen Popularität von Agassiz und Desor die, freilich nur durch Unterstützung des königlichen Fürsten von Neuchâtel möglich gewordene großartige Ausdehnung und jahrelange Dauer dieser Gletscherstudien, welche nunmehr von weit her alle Blicke auf die Arbeiten am Aargletscher zog und namentlich auch die englischen Physiker zur Betheiligung an der Aufgabe anlockte.

Zunächst hatte /. Forbes aus Edinburg, der auf Einladung von Agassiz schon 1841 an den Studien auf dem Aargletscher theilgenommen hatte, dafür so viel Interesse gewonnen, daß er schon im folgenden Jahre eigene Untersuchungen und zwar auf dem Eismeer von Chamounix anhob, deren Resultate 1843 in den „ Travels through the Alps " veröffentlicht wurden. Die schon von Agassiz beobachtete Bänderstructur des Eises führte ihn, den beiden bisher vertretenen Erklärungen der Gletscherbewegung gegenüber — sowohl der von Grüner und Saussure verfochtenen Gleitungstheorie, als der von Scheuchzer, Charpentier und Agassiz angenommenen Dilatationstheorie — zu einer neuen Erklärung der Bewegung. Wie dies schon 1773 Bordier vermuthet und 1841 der savoyische Chanoine Rendu mit aller Bestimmtheit vertheidigt hatte, wies er nach, daß das Gletschereis eine plastische Masse bilde und sich nach denselben Gesetzen fortbewege, wie eine auf geneigter Unterfläche vermöge gegenseitigen Druckes ihrer Theile hinabgedrängte zähe Flüssigkeit. Als Physiker von Fach war Forbes unzweifelhaft zur Formulirung einer richtigen Methode zur Prüfung eines so mächtigen Phänomens wie Gletscherbewegung besser ausgerüstet, als Agassiz, und die Operationen, welche er ersann, um die complicirten und in den verschiedenen Theilen eines so mächtigen Körpers so verschieden ausfallenden Regungen des Eises sicher zu erkennen, stehen an Schärfe denjenigen von Agassiz voran Immerhin war die Operationsbasis und die Art der Darstellung der Ergebnisse dieselbe. Auch für Forbes handelte es sich in erster Linie darum, auf den verschiedenen Theilen des Gletschers jährliche und tägliche Bewegungen in allen ihren Aeusserungen, ob longitudinal, ob transversal, ob vertical, sowie deren Modificationen durch Abschmelzung abzumessen. Ja er ging so weit, sogar die stündliche Veränderung zu Tages- und Nachtzeiten zu beobachten, um ein Bild von der ganzen Continuität der Erscheinung zu gewinnen. Zu diesem Zwecke war auch ihm eine genaue Topographie die wichtigste Grundlage. Auch Forbes mußte also an die genaue Vermessung des Eismeeres und Aufnahme einer Karte schreiten.

Er hielt sich dabei an den Maßstab von 1:25000 und trug wieder sowohl seine Fixpunkte, als die beobachteten Bewegungspunkte, die an einem aus so vielen Zuflüssen zusammengesetzten Eisstrom zahlreich ausfielen, da er sie auf sieben Querlinien zu vertheilen hatte, auf der Karte ein. Zur Abmessung der Bewegung bediente er sich, verschieden von Agassiz, der weit genauere Angaben als Messung von Hand liefernden Beobachtung mit Hülfe des Höhenmessers. In wissenschaftlicher Beziehung nicht minder trefflich vorbereitet als Forbes und gleichzeitig mit der ganzen Energie und Ausdauer von Agassiz, ist das Problem endlich von Neuem von J. Tyndall angepackt worden. Mit körperlicher Kühnheit so gut ausgerüstet wie mit geistiger, als Bergsteiger so berühmt wie als Physiker, und den ganzen Scharfsinn neuerer Experimentalphysik in 's Spiel ziehend, den Faraday, J. und W. Thomson, Mousson und viele Andere in der Einsamkeit physikalischer Laboratorien auf alle die hier in Betracht kommenden Fragen angewendet hatten, behandelte er, das Laboratorium einfach in die Alpen verlegend, die Gletscher wie ein dem Physiker zur Untersuchung Ubergebenes Object. Zur Controlirung der Bewegung sich des alle optische Schärfe bietenden Hülfsmittels von Forbes bedienend, mißt Tyndall im Jahr 1857 auf dem Eismeer von Chamounix, und zwar sowohl im Sommer als im Winter, die tägliche Bewegung sowohl des Haupt- als der Nebengletscher auf neun Linien, mit Berücksichtigung des Unterschiedes an dessen Ober- und Unterfläche, sowie der Längs- und Querpressung des Gletschers.

Die Ergebnisse, hauptsächlich publicirt in den „ Glaciers of the Alps 1860 ", führen ihn zu dem nämlichen Schlüsse wie Forbes. Die Bewegung ist von derjenigen eines Flusses nicht verschieden. Aber er greift nun auch die von Forbes unbeantwortete Frage an, wie es möglich sei, die Brüchigkeit des Eises mit der Bewegungsfähigkeit desselben in Uebereinstimmung zu bringen. Zu der Kette von bisher erreichten Schlüssen fügt sich also ein neues Glied. Tyndall findet es in der von Faraday im Jahre 1850 gemachten Entdeckung, daß zwei aufthauende Stücke Eis, in Folge der Herabsetzung des Gefrierpunktes des Wassers durch Druck, aneinandergepreßt zusammenfrieren; und wie eine richtige Erklärung ihr Licht sofort auf eine Menge sei es auch bisher unbeachtet gebliebener Stellen einer Untersuchung zu werfen pflegt, so erhellt die Herbeiziehung dieses Verhaltens des Eises sofort eine ganze Menge von bisher zwar wohl bekannten aber nicht hinlänglich verstandenen Thatsachen. Nicht nur die Continuität und die unablässige Fluidität des in einzelnen Stücken sonst so starren Eises wird nun weit vollständiger und befriedigender erklärt, als durch das von Agassiz angenommene Gefrieren von eingesickertem Wasser, sondern auch der Uebergang von Schnee in compactes Eis und das Oeffnen und Wiederschließen von Spalten erscheinen jetzt als einfache Folgen dieses Vorganges.

Obschon wir keineswegs beabsichtigten, die Leser, an welche diese kurze Darstellung des bisherigen Verlaufes des Gletscherstudiums gerichtet ist, in physikalische Fragen einzuführen, und wir daher von der 26 noch schwierigeren weitern Erklärung der Regelation an sich absehen, so war es doch nöthig, die wichtigsten Etappen dieses Studiums kurz zu markiren, um dem Leser verständlich zu machen, welche Hülfsmittel und welches Zusammenwirken von allen Seiten nöthig waren, um ein so gewaltiges Phänomen, dessen " Wirkungen sich, wie schon bemerkt, auf den ganzen Bereich von Erdgeschichte so gut erstrecken, wie auf die Geschichte der der Erde angehörigen Organismen, in seinen Grundbedingungen verstehen zu lernen. Es. wird kaum unbillig erscheinen können, wenn auch das der Wissenschaft an sich ferner stehende Publikum gelegentlich erinnert wird, daß es auch auf Seite der erstem großer Anstrengung, vieler Aufopferung und des Zusammentreffens von Arbeit und Scharfsinn aller Art bedarf, um Erscheinungen, von welchen schließlich die eigene Geschichte und das eigene Wohlsein Aller so tief berührt wird, so weit nachzugehen, daß nicht nur Vorhandenes oder Vergangenes verständlich werde, sondern auch vielleicht — worauf ja alles Studium von Gegenwart und Vergangenheit schließlich abzielt — ein Blick in die noch bevorstehende Gestaltung solcher Erscheinungen sich eröffnen könnte. Es schien auch gestattet, anzudeuten, daß die Männer der Wissenschaft für Erforschung der Alpenwelt in langen und nicht etwa müßigen Aufenthalten in der Gletscherwelt " und in allen Jahreszeiten mindestens so viel Wagniß und Kühnheit und wohl weit mehr Ausdauer und Geduld einsetzten, als diejenigen, welche sich auf Bewunderung der dortigen Scenen einschränken. Welche Menge von Fällen wäre namhaft zu machen, wo der Werth einer Beobachtung gegen die Gefahr, mit welcher diese verbunden war, sehr ernsthaft abgewogen werden mußte! Eine Anzahl von Gletschern, und wohl keiner mehr als derjenige der Aare, werden in dieser Rücksicht in der Geschichte nicht nur der Wissenschaft, sondern in derjenigen des menschlichen Fortschrittes als Schauplätze aufopferndster Leistungen auf immer denkwürdig bleiben.

Auch schließen wir hiemit unsere Darstellung der Schweizer Gletscher ab. Enthält sie doch so ziemlich die Hauptpunkte des Gletscherstudiums im Allgemeinen. Wurden auch die Pyrenäen-Gletscher von Charpentier, die norwegischen von Forbes in Absicht auf Vergleichung mit den alpinen besucht, so ist die Schweiz nebst dem benachbarten Chamounix bis jetzt fast ausschließliche Heimat des Gletscherstudiums in physikalischer Richtung geblieben. Weder Frankreich noch Italien haben sich daran betheiligt, obwohl ersteres in den werthvollen Karten des Mont-Blanc-Gebietes von Mieulet ( 1865 ) und von Viollet-le-Duc ( 1876 ) ( 1:40,000 ) treffliche Vorarbeiten dazu besaß. Nur in Oesterreich wurde der Pasterzen-Gletscher von den Gebrüdern Schlagintweit ( Untersuchungen über die physikalische Geographie der Alpen, 1850 und 1854 ) mit Hülfe einer Karte von 1: 14,400 ähnlichen Messungen unterworfen, und werthvolles Material, doch mehr topographischer Art, sammelte K. Sonklar über die Gletscher der Oetzthaler Gruppe ( 1860 ). Eine Art vorläufigen litterarischen Abschlusses erhielt auch das Problem im Jahre 1870 durch das gewaltige Sammelwerk „ Matériaux pour l' étude des glaciers ", 8 Bände, 1864—70, von Dollfus-Ausset, der bekanntlich vom 1. August 1865 bis zum selben Termin 1866, also über einen ganzen Winter unter der Leitung von Melchior und Jakob Blatter von Meiringen ein Observatorium zu meteorologischen Zwecken auf der Höhe des Matterjochs ( 3322 m ) unterhalten hatte.

Der mächtige Impuls und die Förderung, welche Tyndall, das hervorragendste Mitglied des englischen Alpenclubs, durch seine Beobachtungen, die sich vom Eisgebiet von Chamounix bis zu demjenigen des Bernina ausdehnten, dem Gletscherstudium gegeben hatte, waren denn auch der Anlaß, daß sich unter den Mitgliedern des schweizerischen Alpenclubs die Frage erhob, ob nicht diese Gesellschaft, obschon keineswegs wissenschaftliche Ziele verfolgend, berufen sei, nach dem Maßstabe ihrer Kräfte und im Sinne ihrer Organisation an das Unternehmen, das auf schweizerischem Boden bisher vorwiegend durch ausländische Kräfte verfolgt worden war, ihr Scherflein beizutragen. Diese Empfindung fand ihren ersten Ausdruck in der von Prof. Rambert an der Jahresversammlung von 1868 gestellten Motion, daß der S.A.C. die Initiative ergreifen solle zu einer wissenschaftlichen und systematischen Erforschung der Gletscher. Auf den Antrag von Dr. Fr. v. Tschudi wurde sie dahin beantwortet, daß das Centralcomite in Verbindung mit dem Antragsteller diese Frage bei der schweizerischen naturforschenden Gesellschaft anregen, ihr die Initiative überlassen und im Verein mit ihr das Nöthige vorkehren solle. ( Jahrbuch V, 1869, p. 732. ) Es geschah Zur Geschichte der Oletscherstudien.406 dies durch ein vom Präsidenten des Centralcomite, Prof. Ulrich, und von Prof. Rambert an die schweizerische naturforschende Gesellschaft gerichtetes Schreiben ( Verhandlungen der schweizerischen naturforschenden Gesellschaft in Solothurn, 1869, p. 139 ), dessen Motiven wir Folgendes entnehmen: „ Parmi les recherches d' ordre scientifique, auxquelles le Club alpin pourrait contribuer d' une manière efficace, se placent en première ligne celles qui ont pour objet les phénomènes glaciaires. C' est une étude en quelque sorte nationale. La science des glaciers a fait des progrès considérables grâce aux efforts persévérants des Charpentier, des Agassiz, des Forbes, des Tyndall, etc. Néanmoins il y reste des points obscurs et douteux, dont plusieurs, surtout en ce qui concerne le mouvement des glaciers, paraissent tenir à l' insuffisance des observations recueillies jusqu' à ce jour. Ces considérations et autres semblables ont été invoquées en faveur d' une proposition soumise à notre examen et qui tend à instituer des recherches nouvelles dirigées de manière à compléter celles qui ont été faites précédemment. Nous ne nous dissimulons pas que de pareils travaux seront nécessairement longs et coûteux. Mais c' est précisément pourquoi ils ne peuvent être tentés et poursuivis qu' avec le concours et les ressources d' une ou plusieurs associations. Les clubs alpins semblent particulièrement désignés pour s'y intéresser activement et c' est au Club alpin suisse, sans doute, qu'il appartient d' en prendre l' initiative. Nous sommes donc disposés, 1° à proposer au Club alpin suisse d' y contribuer pour sa part et dans la mesure de ses forces, 2° à faire les démarches nécessaires pour obtenir, si possible, le concours efficace d' autres clubs ou sociétés analogues. "

Das Antwortschreiben des Präsidenten der naturforschenden Gesellschaft, Prof. Fr. Lang ( ebendaselbst p. 143 ), verdankt des Wärmsten die Anregung unter folgender Beifügung: „ Von vornherein muß jedoch die naturforschende Gesellschaft hervorheben, daß ihre ökonomischen Mittel bereits durch andere Unternehmungen, insbesondere durch Publikation ihrer Denkschriften, vollständig in Anspruch genommen sind, und daß sie sich außer Stande befindet, durch Uebernahme eines Theils der Kosten an dem Unternehmen sich zu betheiligen; was sie hingegen durch Ertheilung ihrer Käthe zu besserer und sichererer Erreichung des Zieles beitragen kann, wird sie mit Freuden thun.Herr Prof. Lang schlug vor, einer gemein- schaftlich zu ernennenden Commission die Leitung einer solchen Arbeit zu überweisen.

Zu Mitgliedern dieser Commission ernannte die Gesellschaft die Herren Prof. Mousson in Zürich, Prof. L. Dufour in Lausanne, Prof. Ed. Hagenbach also die Gesellschaft darauf angewiesen, wissenschaftliche Untersuchungen nicht durch finanzielle Credite, sondern durch den wissenschaftlichen zu unterstützen. In wie weit sie dieser Aufgabe nachgekommen sei, mögen, außer den oben erwähnten Anregungen der Gletscheruntersuchung und den 27 Quartbänden ihrer Denkschriften, die Entstehung der topographischen Karte der Schweiz durch Dufour, die geologische Karte der Schweiz, die Publicationen der geologischen Commission, ihre Mitwirkung an der europäischen Gradmessung und die meteorologischen Publicationen beantworten. Aus obigen Angaben erhellt gleichzeitig, daß der einzige Weg, welcher der Naturforschenden Gesellschaft -offen stand, die von dem Alpenclub angeregte Unternehmung auch materiell zu unterstützen, darin bestand, ihr die Hülfsmittel der Schläflistiftung und der Denkschriftencommission zuzuwenden. Sie that dies dadurch, daß sie erstlich im Jahr 1879, zu einer Zeit, da das Schicksal der Gosset'schen Arbeit sehr bedroht war, für den Schläflipreis folgende Aufgabe stellte: „ Die Gesellschaft verlangt eine gründliche Arbeit über einen der größern Gletscher der Schweiz, die als Ausgangspunkt für das Studium der Veränderungen dienen möchte, welche in näherer oder weiterer Zukunft eintreten könnten, " und dafür in Betracht der Bedeutung und des Umfanges der bereits ausgeführten Untersuchungen eine Summe bestimmte {Fr. 1000 ), welche das Maß eines einfachen Preises überschritt; daß sie endlich im Jahre 1880 der ihr eingereichten und der Hauptsache nach bereits wohlbekannten Arbeit diesen Preis zuerkannte und damit das Anerbieten verband, dieselbe, sofern sie ihr, da sie laut Statuten auf die eingehenden Preis-arbeiten keinerlei Anrecht hatte, übergeben würde, auf ihre Kosten in den Denkschriften zur Veröffentlichung zu bringen. Weder von einem Anspruch auf Eigenthumsrecht und noch viel weniger von einer Absicht auf Gewinn, ein Vorwurf, den auch nur die oberflächlichste Bekanntschaft mit der Organisation und mit der Art der Thätigkeit der Naturforschenden Gesellschaft hätte von ihr ferne halten können, konnte also jemals die Kede sein.

in Basel; der Alpenclub die Herren Prof. Rütimeyer in Basel, Escher von der Linth und Eambert in Zürich. Nach seinem Tode wurde Escher ersetzt durch Prof. Lang in Solothurn. Die Commission selbst ernannte zu ihrem Präsidenten Herrn Prof. E. Desor in Neuchâtel.

Zunächst wurden auf Anregung dieser Commission durch Herrn J. Siegfried in Zürich, Quästor der Naturforschenden Gesellschaft, in einem einstweilen Manuscript gebliebenen „ Schweizerischen Gletscherbuche " die in den verschiedensten Publicationen zerstreuten Berichte und Notizen über Gletscher planmäßig zusammengestellt und des Fernern eine „ Instruction für Gletscherreisende ' ' zum Druck gebracht, sowie den Gletscheruntersuchungen von Herrn Prof. A. Heim in Zürich eine Beihülfe von Seiten des Alpenclubs zugewendet. Erst, im Jahre 1874 wurde dem Alpenclub der Vorschlag vorgelegt und von demselben genehmigt, die Aufnahme eines Gletschers in größerem Maßstab, als dies bisher geschehen war, 1: 5000, durchzuführen. Man wählte dazu den Rhonegletscher, einmal in Rücksicht auf dessen centrale Lage in der Schweiz und auf dessen einheitliche Gestaltung, ohne Seitenzuflüsse, andererseits in Folge der für die technischen Operationen überaus wichtigen leichten Zugänglichkeit. Endlich bestand er, was die Eintheilung der ganzen Arbeit wesentlich erleichterte, aus drei ziemlich scharf getrennten Theilen, dem Fächer oder untern Gletscher,, dem Eissturz und dem obern Gletscher. Es sollte dadurch eine der wesentlichsten Lücken in den bisherigen Gletscherstudien ausgefüllt werden, nämlich die Erstellung einer mit allen technischen Hülfsmitteln hergestellten Basis, welche, mindestens an Einem Gletscher, für künftige Zeiten erlauben würde, die Veränderungen, welchen dieses großartige Phänomen unablässig ausgesetzt ist, mit aller wünschenswerthen Genauigkeit festzustellen und dem Naturforscher die physikalischen Beobachtungen durch genaue Anhaltspunkte möglichst zu erleichtern.

Diese Aufgabe zu lösen, wäre dem Alpenclub selbstverständlicherweise unmöglich gewesen, wenn ihm nicht das eidgenössische topographische Bureau, das ihm seit Jahren seine Excursionskarten geliefert hatte, und vor Allem dessen ausgezeichneter Vorsteher, Herr Oberst Siegfried, der sich des ganzen Unternehmens von Anfang an mit der ihm eigenen Energie und Wärme angenommen hatte, seine Hülfe angeboten hätte, indem es ihm in der Person von Herrn Ph. Gösset einen ausgezeichneten Ingenieur zur Verfügung stellte, der die Arbeit im Dienst des Bureaus übernehmen sollte.

Das Programm, welches die Gletschercommission im Verein mit dem eidgenössischen Stabsbureau Herrn Gösset zustellte, lautete sehr einfach: Vermessung mit dem Theodolith der für die Detailvermessung nöthigen Dreieckpunkte und der ziemlich zahlreich zu nehmenden Fixpunkte für die Beobachtung der Gletscherbewegungen. Später Detailvermessung nach Niveaucurven und topographische Zeichnung.

Herr Gösset fügte schon im August desselben Jahres von Gletsch aus den Vorschlag bei, der durch die Versammlung des Alpenclubs in Sitten genehmigt wurde, vier Reihen von gehörig bezeichneten Steinen in gerader Linie zwischen je zwei Fixpunkten quer durch den Gletscher zu legen.

Herr Gösset begann seine Arbeiten Ende Juli 1874. Schon im December desselben Jahres legte er der Gletschercommission folgende Arbeiten vor:

1 ) Triangulation des Gebietes des Rhonegletschers, gegründet auf eine von Herrn Gösset am Fuße desselben gemessene Basis von 1130 Meter Länge, und gesichert durch Aufstellung von 60 längs den Ufern des Gletschers erbauten Steinpyramiden über den gemessenen Fixpunkten.

2 ) Aufnahme der beiden Gletscherufer mit den zu beobachtenden Moränen im Maßstab von 1:5000.

3 ) Aufnahme des Gletschers selbst mit Einschluß des Gletschersturzes, im Maßstab 1: 5000, mit Eintragung aller Spalten, Schmutzbänder, Gletschermühlen und ähnlicher Merkmale der gegenwärtigen Oberfläche.

4 ) Aufnahme im Maßstab von 1: 1000 von vier zum Behuf der Messung der Bewegungsgeschwindigkeit durch Auflegen von numerirten und durch Oelfarbe bezeichneten Steinlinien angelegten Profilen, deren Verschiebung später den Ausdruck der Gletscherbewegung liefern sollte. ( Die Länge der Profile wechselt von 625 bis 1200 Meter, und zu ihrer Anlage wurden 18,000 Pfund Steine auf den Gletscher vertheilt. ) 5 ) Photographische Aufnahme der wichtigern Details von Gletscherstructur und Gletscherwirkung an der Umgebung.

6 ) Geologische Sammlung über das ganze bisher aufgenommene Gebiet. Endlich, und nicht das Geringste, das Journal mit den Aufzeichnungen aller Beobachtungen. Vom Jahre 1875-80 wurde der Gletscher alljährlich besucht und die Lage der Steinlinien von Neuem aufgenommen. In Folge dessen vermehrte sich die Arbeit um folgende Blätter:

Eisstand und Jahresgeschwindigkeit 1874—1879 1: 1000 für jede der vier Steinreihen. Differentialbewegung 1: 100. Gletscherzunge 1: 5000.

Schon die Aufzählung dieser Ergebnisse der Gosset-schen Arbeit mag genügen, um über den Charakter derselben vollständigen Aufschluß zu geben. Was die Form und die Art der Ausführung betrifft, so überzeugte sich die Gletschercommission bei der ersten Vorlage im September 1875, daß, wie dies nach den bisherigen Leistungen des Herrn Gösset zu erwarten war, die Arbeit in jeder Beziehung als eine mustergültige zu bezeichnen sei. Unmittelbar darauf wurde sie dem Alpenclub bei dessen Jahresversammlung in Thun vorgelegt, worauf hin der verlangte Credit von Fr. 13,500 bewilligt wurde. Das nämliche Urtheil machte sich dann auch geltend bei jedem Anlaß, wo sie der Prüfung von Fachmännern unterstellt wurde. Dies war zunächst der Fall bei Anlaß der Versammlung der schweizerischen naturforschenden Gesellschaft in Basel 1876, wo Topographen und Geologen, Ingenieure und Physiker in ungetheiltem Beifall sowohl bezüglich der zu Grunde gelegten Methode, als in Rücksicht auf die Art der Fixirung der Ergebnisse übereinstimmten. Vor die höchste für derartige Leistungen gültige Instanz war die Arbeit indessen schon an der internationalen geographischen Ausstellung in Paris im Jahre 1875 getreten, wo sie der directen Vergleichung mit dem Besten, was an Ingenieurarbeit damals vorhanden war, ausgesetzt war. Das Urtheil lautete dahin, daß Herrn Gösset die zweithöchste Auszeichnung, welche der Jury zur Verfügung stand ( Bronze-Medaille ), zugetheilt wurde.

Fassen wir zur Charakterisirung des erzielten Erfolges das Wesentliche der Methode kurz zusammen, so ging die ganze Unternehmung auf das Ziel los, auf vier an verschiedenen Stellen des Gletschers, sowohl über- als unterhalb des Eissturzes, gewählten Querlinien die mechanischen Veränderungen, welche solche Linien vom Moment ihrer Fixirung auf dem Gletscher selbst an im Verlauf der Jahre erfahren konnten, mit allen Hülfsmitteln der Trigonometrie und Geometrie zu controliren und graphisch darzustellen. Es leuchtet von selbst ein, was von dieser Methode, sofern sie während eines hinlänglich langen Zeitraumes durchgeführt wurde, zu erwarten war. Sie versprach Auskunft erstlich über Art, Richtung, Maß und theilweise über Schnelligkeit der Veränderung der Gletscheroberfläche, zweitens über deren vertikale Umgestaltung, Anschwellung oder Abtragung auf vier vom Ausfluß aus dem Firn bis zu der Gletscherstirn vertheilten Querzonen. Dagegen konnte sie von vornherein keinen directen Aufschluß über Bewegungsart im Innern oder an der Unterlage des Gletschers bieten. Sie gab nur gewissermaßen den Gypsabguß von vier Querzonen der Gletscheroberfläche in successiven Jahres-epochen. Allein hierin war dann offenbar Bewegung horizontaler und vertikaler Art, sowie Ablation durch Verlust, also überhaupt Verschiebung identischer Stellen der Oberfläche mit eingeschlossen.

Wie demgemäß dem Plane der Arbeit, einem so mächtigen Körper wie dem Rhonegletscher gewissermaßen tastende Gürtel aufzulegen, gleichzeitig Einfachheit und praktische Berechnung nicht abgesprochen werden kann, so sind auch die dazu angewendeten Operationen, an sich überaus einfach, doch in Rücksicht auf die Dimensionen des Objectes großartig zu nennen. Die Grundlage bildet eine neue vollständige Triangulation und eine Aufnahme in zehnmal größerem Maßstabe als die Originalaufnahmen der Dufourkarte bis zu einer Strecke oberhalb des Eissturzes. Einen der schwierigsten Theile der Aufgabe bildeten die trigonometrische Aufnahme und die Versicherung von 60 Fixpunkten, welche den unentbehrlichen Haltpunkt für Abschätzung aller im Verlauf der Zeit an dem Gletscher zu beobachtenden Veränderungen liefern sollten. Dieser Theil der Arbeit wurde im Herbst 1871 im Verlauf von zehn Wochen mit nur zwei eingeschalteten Rasttagen durchgeführt.

Eine fernere nicht leichte Arbeit bestand, da sie auf so schwer zugänglichem und in unablässiger Bewegung befindlichem Boden mit Einem Schlage durchgeführt sein mußte, in der Auftragung von vier Farblinien mit Hülfe von einander berührenden und für jede der Linien mit verschiedener Farbe bemalten Steinen, von welchen die längste ungefähr 1400 Meter horizontale Basis hatte. Unter diesen Steinen wurden überdies nicht weniger als 156 größere und mit Nummern versehene in möglichst gleichmäßigen Intervallen von circa 20 Meter vertheilt, um als Signalsteine zu dienen. Die genaue Lage dieser 156 Nummernsteine ist dann in sechs folgenden Jahrescampagnen neu aufgenommen worden.

Eine werthvolle Zugabe liegt in der Aufnahme der hinsichtlich des Datums ihrer Bildung bekannten Moränen, sowie des noch mit Hülfe dieses Mittels erkennbaren Maximums der Ausdehnung des Gletschers.

Dem Wesen nach ist also die Methode dieselbe, wie sie von Hugi an bis auf Tyndall an verschiedenen Gletschern angewendet worden ist. Sie unterscheidet sich davon nur in zwei Punkten. Erstlich in dem auf lange Andauer berechneten und für spätere Beobachtungen ausreichende Hülfe versprechenden Maßstab der Aufnahme des Gletschers, die im Vergleich zu den früheren von 1:25,000 ( Forbes ) und 1:10,000 ( Agassiz ) jetzt zu 1:5000 ansteigt. Ferner dadurch, daß die Registrirung der Bewegung nicht continuirlich vorgenommen, sondern gewissermaßen dem Gletscher selbst durch Farblinien übertragen wurde. Die ganze Arbeit ist also ausschließlich geodätischer Natur, während diejenigen von Agassiz, Forbes und Tyndall wesentlich von physikalischen Gesichtspunkten ausgingen. Sie constatirt also nur Jahresergebnisse der Gletscherbewegung an dessen Oberfläche, ohne auf die Veränderung derselben nach Jahres- und Tageszeiten oder nach der Tiefe, oder auf deren Beziehungen zur Temperatur oder zu anderen physikalischen Verhältnissen Rücksicht zu nehmen. Allein auf ihr besonderes Ziel verwendet sie dann Hülfsmittel, hinter welchen diejenigen früherer Arbeiten weit zurückstehen. Während früher nur eine geringe Anzahl von über die Gletscher zerstreuten Punkten bezüglich ihrer Verschiebung beobachtet wurden, sind es nun continuirliche Farblinien, deren allmälige Veränderung und Zerstreuung mit allen Hülfsmitteln der geodätischen Methode durch eine ganze Reihe von Jahren verfolgt werden. Dieselbe Bemerkung gilt für die Messung der Ablation, die sich wieder nur in jährlichen Summen herausstellt, aber dann auch in vollständigen Profillinien dargestellt ist, während sie von den früheren Beobachtern nur an einzelnen Punkten beobachtet, aber dann allerdings auf alle Details von Zeit und Ort analysirt wurde.

Für den Rhonegletscher ist also ein überaus viel vollständigerer Gesammtüberblick über die Fortbewegung im Großen erreicht, als er für irgend einen andern Gletscher vorhanden war, und er gewinnt dadurch an Werth, daß er sich, wie schon angedeutet, auf einen überaus regelmäßig gebildeten Gletscher bezieht, der durch eine wenig complicirte Thalrinne fließt und auch nicht aus einer Zahl von Eisströmen von verschiedenen Regionen zusammengesetzt ist. Fügen wir bei, daß auch die geologische Geschichte des Rhonegletschers, d.h. seine Ausdehnung in den verschiedenen Perioden der Eiszeit seit den Erstlings-studien auf diesem Gebiet durch Venetz und Charpentier durch fortgesetzte Arbeit der Geologen, unter welchen in neuester Zeit vor allem Alpli. Favre in Genf und die Herren Faisan und Chantre in Lyon zu nennen sind, vollständiger untersucht und in glän-zenderer Weise graphisch dargestellt sind als für irgend einen andern Gletscher, so lässt sich sagen, daß nunmehr über keinen der zahllosen Gletscher der Alpenkette eine vollständigere und für Erleichterung künftiger Beobachtungen aller Art großartiger angelegte und durchgeführte Biographie vorliegt, als für diesen Eisstrom des centralsten Gebirgsstocks der Schweiz.

Der schweizerische Alpenclub, so schwere Bedenken gegen eine solche Unternehmung bald da, bald dort in seinem Schöße auftauchten, und so nahe es in verschiedenen Perioden ihrer Durchführung lag, nicht etwa daß sie verloren gehe, aber daß sie in andere Hand als in diejenige, welche sie anregte, übergehe und dem Alpenclub als zu schwer geworden erscheinen möchte, hat also mit der Unterstützung, die er dem eidgenössischen topographischen Bureau zu diesem Zwecke zuwandte, nicht nur eine nicht geringe Schuld der Dankbarkeit abgetragen, die er letzterem durch langjährige und glänzende Beihülfe für Ausrüstung mit trefflichen Gebirgskarten zollte, sondern auch gleichzeitig eine Unternehmung ermöglicht, welche in der Geschichte der Erforschung der Alpen auf alle Zeiten eine höchst ehrenvolle Stelle einnehmen wird.

Wenn ihm das patriotische Opfer nicht leicht geworden sein sollte, so kann es ihm doch zur Befriedigung gereichen, daß er damit über die gerechtfertigten Schranken seines Zieles nicht hinausgegangen ist. Die Arbeit, deren Eigenthum er erworben hat, ist keine physikalische oder irgend einer besondern wissenschaftlichen Theorie gewidmete. Sie ist wesentlich eine historisch-topographische und wird zu jeder Zeit einer ganzen Anzahl wichtigster Studien über alpine Verhältnisse, Meteorologie und Hydrographie, Geologie und Physik der Gletscher als breite und stattliche Unterlage dienen. Es wird Sache spezieller Physiker sein, die Ergebnisse der Selbstregistrirung, die man dem Gletscher auferlegt hat, und deren jährliche oder häufigere Ablesung in der Zukunft mit geringen Kosten verbunden sein wird, zu analysiren und im Interesse der Physik der Gletscher zu verwerthen. Jeder Beobachter, der für bisherige oder neue Probleme sich an Gletscher zu wenden haben wird, wird am Rhonegletscher den Boden, von welchem Beobachtung aller Art unter allen Umständen ausgehen muß, in reicher Weise zugerüstet vorfinden.

Gleichzeitig wird dieses Material, weil es keiner speziellen Richtung von Wissenschaft angepaßt ist, nicht nur für eine beschränkte Periode derselben ausreichen, sondern seine Leistungskraft auf so lange behalten, als die jetzigen Beobachtungsmittel nicht durch noch vollständigere ersetzt sind. Die Vermessung des Rhonegletschers, wie sie vorliegt, ist im breitesten und bleibendsten Sinn des Wortes ein Geschenk des Alpenclubs an die vaterländische Landes- 27 künde. Wenn von dieser Leistung für wahrhaft thatkräftige, vaterländische Gesinnung des Alpenclubs so viele Frucht abfallen sollte, wie sie für die nähere Kenntniß des Schauplatzes seiner Thätigkeit zu erwarten ist, so wird der Alpenclub das Opfer, das er sich auferlegt hat, nicht zu bereuen haben.

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