Ein Frühsommertag im Gasterntal
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Ein Frühsommertag im Gasterntal

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Rudolf Schiffer, D-Waldkirch

Die stetig und unaufhaltsam sich ausbreitende Verschmutzung unserer Erde, die Vergiftung und Zerstörung unserer Flüsse, Seen und Meere durch Überzivilisation und masslose Industrialisierung führen die Naturfreunde immer häufiger ins Hochgebirge, dorthin, wo die Natur in ihren Ursprüngen noch unberührt und sauber ist.

Eines der bis zum heutigen Tag noch von Menschenhand unberührtesten und ursprünglichsten und zugleich eines der landschaftlich grossartigsten Alpentäler ist das Gasterntal bei Kandersteg im Berner Oberland. Infolge seiner Abgelegenheit ist es bis heute gottlob auch für den Massentourismus nicht erreichbar und wohl uninteressant geblieben. Hier trotzt die gewaltige Hochgebirgsnatur noch erfolgreich der alles beherrschenden Technik des Menschen. Es gibt keine Bergbahn und keinen Skilift im Gasterntal, und auch dem Strassenbau stellt sich die wilde Natur des Hochtales mit Steinschlag- und Lawinengefahr, mit Felsbarrieren und Urstrombecken noch wehrhaft entgegen. Wer weiss, wie lange noch? Meist leider nur so lange, als es für einträglichen Touristenrummel, Skizirkus und Profitgier nicht attraktiv genug erscheint.

Jeder Natur- und Bergfreund, der das Gasterntal an einem strahlenden Frühsommertag, in der bunten Fülle des alpinen Frühlings, noch so erleben kann, wie es heute ist, wird es mit einem lachenden und einem weinenden Auge wieder verlassen. Mit einem lachenden, weil er tiefe Dankbarkeit darüber empfinden mag, dass er so viel reine, unverfälschte Natur jetzt und heute noch erleben durfte, und mit einem weinenden, weil sich diese in seiner Erinnerung eingeprägten herrlichen Naturbilder schon bei seinem nächsten Besuch zum Nachteil verändert haben können.

So mancher einst stille und schöne Naturweg verliert ja für den Bergwanderer seinen Reiz, sobald daraus eine Asphaltstrasse wird. Ich denke dabei mit leiser Wehmut an den zauberhaften, alten Wanderweg von Grindelwald zur Grossen Scheidegg, der sich jenseits durch urtümliches Wald- und Alpweidengelände am Fuss des mächtigen Wetterhorns in gleicher Stille und Schönheit bis zur Alphütte der Schwarzwaldalp fortsetzte.

Selbst wenn eine solche Strasse, die für den Fussgänger viel schneller ermüdend wirkt als ein Naturweg, für den Normalverkehr gesperrt ist, setzen sich viele Autofahrer über dieses Fahrverbot hinweg.

Ich fragte auf der Grossen Scheidegg einmal einen Berliner, warum er das Fahrverbot missachtet habe und mit seinem Wagen hier heraufgefahren sei, anstatt zu Fuss zu gehen oder eventuell den Kleinbus zu benutzen. Er gab mir zur Antwort: « Wissen Se, wenn ick hier jeschnappt werde, denn zahle ick dafür höchstens fuffzig Fränkli, und dafür loof ick nich! » Bezeichnend für unsere Epoche der Technik und des Profits ist die Tatsache, dass das Gasterntal, in früheren Zeiten das ganze Jahr über bewohnt, heute im Winter von Menschen verlassen ist. An dem, was sich in Geld nicht auszahlt, verliert der moderne Mensch schnell sein Interesse. Dem Gasterntal mag dies zugute kommen, es sei denn, man fände darin Öl oder Uran. Heute ist es also nur im Sommer bewirtschaftet.

.'37 Im Jahre i 785 bewohnten noch etwa 12 Familien mit 50 Personen das Hochtal. Die wenigen Bewohner, die heute für den Tourismus noch ein paar Hütten unterhalten, wandern ab, sobald das im Sommer geerntete Heu verfüttert ist und sich die ersten Anzeichen des beginnenden Winters bemerkbar machen. So spürt man hier auch im Frühling und Sommer die wildromantische Menschenferne, und man mag sie heute wohltuender empfinden als in früheren Zeiten, wo das Verhältnis von Mensch und Natur noch ganz allgemein viel ausgewogener war als im 20. Jahrhundert.

Doch vergessen wir nun das Unabänderliche, und brechen wir unbeschwert auf zu unserer frühsommerlichen Wanderung ins Gasterntal, um in der verschwenderisch schönen Natur eines der letzten Urtäler der Alpen zu schwelgen!

Unweit der Stockbahn, im oberen Kandertal, zweigt unser Naturweg, der zu einem leidlichen Fahrweg für einspurigen Verkehr ausgebaut wurde, links ab und steigt nun parallel zu den wild sprudelnden Kanderfâllen stetig an bis zur Gasternklus mit ihren steil aufragenden Felswänden. Nicht allzu oft wird der Wanderer von den wenigen Autofahrern, die den Fahrweg benutzen, gestört. Wie ein riesiges Felsentor steht die Klus über dem Kandertal, und zurückblickend überschaut man noch einmal den malerischen Kurort Kandersteg, ehe es nun entlang dem stürmischen Wildbach weiter hinauf ins Gasterntal geht.

Nach einer Viertelstunde öffnet sich vor dem Wanderer der grossartige Talboden von Gasternholz, der bereits eine Höhe von 1360 Metern erreicht. Bei geringer Steigung wandern wir mühelos das Hochtal hinauf. Frei ist der Blick auf die mächtigen Felswände des Ober Tatelishorns und des Altels. Breit und behäbig fliesst die Kander hier durch ihr ungebändigtes Urstromtal, das auf beiden Seiten von lichten Bruchwäldern bedeckt ist, die schon lange keine Axt mehr zu spüren bekamen. Sie werden von Wildwiesen unterbrochen. Zahlreiche Nebenbäche füllen das breite Hauptbecken der Kander. Die weit zu- rücktretenden Felswände bieten dem Auge überaus malerische Partien im Spiel des Sonnenlichts. Tosende Wasserfälle stürzen aus den Felswänden herab. Ein grosses, urwelthaftes Rauschen erfüllt das duftende, geheimnisvolle Tal. Hoch über der üppigen Vegetationszone türmen sich die schneebedeckten Grate, Gipfel und Gletscherwannen. Die grossen Firn- und Eisdächer werfen mit ihren reflektierenden Spiegelungen ihr gleissendes Licht ins grüne Tal. Bald weicht ein Fussweg vom Fahrweg ab.

Es ist schön, ein schlichter Bergwanderer zu sein, sich in jenen Bereichen des Urgebirges zu bewegen, die vom Reichtum und Leben der klaren Bergwasser, von üppiger Vegetation und bunter Tierwelt überquellen, und nicht nach der kalten Pracht der Fels- und Eisregionen streben zu müssen wie der wagemutige Kletterer, den die Leidenschaft des Gipfelstürmens gepackt hat. Hier unten im grünen Tal bist du noch Mensch; hier kannst du essein.

Über dem Rauschen und Brausen der Wasser donnern zuweilen Lawinen von den Gletschern, Firnfeldern und Felswänden herab und übertönen die klangvolle Stille im Tal. Bevor der Ton das Ohr erreicht, sieht man die Schneemassen sich lösen, sieht sie stürzen, wie sie unterwegs immer mehr Material sammeln und mit sich reissen.

Das Gasterntal muss in seiner Urtümlichkeit noch wildreich sein. Doch an diesem Tag war es uns nicht vergönnt, Hirsche, Rehe oder Gemsen zu sehen. Nur Bergdohlen umkreisten ihre in Felsnischen und Spalten verborgenen Horste. Ab und zu sahen wir einige Greifvögel im Himmelsblau ihre Kreise ziehen; es mochten Bussarde und Falken sein. Dafür bot uns die Kleintierwelt aus ihrem alpinen Füllhorn manche Besonderheit: grosse, bunte Käfer, Schmetterlinge von intensiver Farbenpracht, Frösche, Kröten, Smaragdeidechsen. Viele Arten von Singvögeln begleiteten uns auf dem genussreichen Weg, der weit oben in mehreren Kehren eine weitere Talstufe überwindet und wieder in den Fahrweg einmündet.

Weite Bergwiesen breiten sich dort aus. Und hier ist der Botaniker an der Reihe: Ganze Kolonien von dicken, dottergelben Trollblumen bedecken die feuchten Wiesenmulden. Grosser, gelber Enzian ist reichlich vertreten und entwickelt sich hier zu Prachtexemplaren. Auf den noch höher gelegenen Bergweiden breiten sich in dichten Gruppen die dunkelblauen Sterne des Frühlingsenzians und die Becher des Grossblütigen Enzians aus. Auch seltenere Vertreter, wie die Türkenbundlilie, sahen wir unter vielen anderen Arten der alpinen Frühlingsflora, die im Gasterntal noch wenig abreisswütigen Menschenhänden ausgeliefert ist.

Nach zweistündiger Wanderung ohne Hast erreicht man die Hütten des kleinen Ortes Seiden auf knapp 1600 Meter Höhe. Es sind kernige Holzbauten im Schweizer Stil, die zur Landschaft gehören wie die uralten Arven an der bald erreichten Vegetationsgrenze des Hochwaldes. Im hintersten Talabschnitt beginnt die rauhe Hochgebirgsszenerie mit immer magerer werdenden Bergweiden voller Geröll. Kare und Felswände steigen gewaltig auf bis zu den gleissenden Firngipfeln des Fründenhorns, Doldenhorns und des Balmhorns. Für den Bergwanderer ist hier der Weg bald zu Ende. Das Reich des Kletterers beginnt, der nach mühevollem Ringen mit dem Berg das lebensvolle Gasterntal tief unter sich lässt.

Wir kehrten in einer der gemütlichen Hütten ein und wurden von freundlichen Wirtsleuten bedient. Es gab knusprige Rösti, Salat und Bratwurst.

Der alte Wirt lud uns zum Übernachten ein. Gerne hätten wir eingewilligt, doch waren wir für diesen Tag dazu nicht eingerichtet. Vielleicht war der Wirt jener älteste Talbewohner, der die silber-beschlagene Bibel aufbewahrt, die der Berner Magistrat Ulrich Thormann 1690 der Bevölkerung des Gasterntales schenkte, als er im Auftrag der Regierung den Weg auf den Lötschenpass untersuchte. Bei der alljährlich im August stattfindenden Gasternpredigt, die im Freien abgehalten wird, wird stets aus dieser alten Bibel vorgelesen.

Nach der ausgiebigen Stärkung wollten wir uns wieder zu Fuss auf den Rückmarsch hinunter nach Kandersteg machen, doch ein aufziehendes Gewitter durchkreuzte unseren Plan. So fuhren wir mit dem Kleinbus zurück, der in den Sommermonaten mehrmals täglich zwischen Kandersteg und Seiden verkehrt. Der schneidige junge Fahrer steuerte recht waghalsig seinen Mercedes-Bus den schmalen Naturweg hinab. Es schien ihn auch weiter nicht zu stören, dass sein Fahrzeug in den engen Tunnels der Gasternklus mehrmals die Felswände streifte.

Trotz Gewitter und schneller Beförderung hatten wir andere Gedanken: Man sollte doch dieses urtümlich schöne Gasterntal gänzlich für den Autoverkehr sperren und statt dessen einen gemütlichen Pferdekutschentransfer einrichten, ähnlich wie die Stellwagen in Oberstdorf im Allgäu, die zwar langsamer, dafür aber umweltfreundlicher und, der wildromantischen Natur angepasst, jene Touristen in die Hochtäler bringen, die den Fussmarsch, aus welchen Gründen auch immer, nicht auf sich nehmen wollen. Der junge Busfahrer mit seinem modernen, langen, wallenden Blondhaar würde sich als Pferdekutscher gewiss nicht schlechter ausmachen!

Am Ende unseres Frühsommertages im Gasterntal blickten wir auf keine grosse Bergtour zurück, auf keine heroische Tat oder auch nur auf eine Wanderung, die am Abend müde Knochen beschert; nein, nicht einmal das. Trotzdem wird uns dieser Tag unvergessen bleiben, weil er uns eine tief verwurzelte, alte Sehnsucht des Menschen erfüllte: die Begegnung mit der Urnatur, mit dem Urquell des Lebens, mit der Reinheit der Schöpfung, ohne den Zivilisationsunrat des Menschen. Die einfachen Holzhäuser von Seiden mit ihren bescheidenen Menschen und ihrem Vieh stehen in diesem Hochtal, einem der letzten Urtäler der Alpen, wie Denkmäler des einfachen Lebens, zu dem wir uns alle, die wir vom Komfort unserer modernen, vertechnisierten Welt umgeben sind, insgeheim zurücksehnen.

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